SWR4 Abendgedanken

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Meine Eltern sind Teil der Kriegsgeneration. 1937 und 1941 geboren. Als Kinder sind sie mit all der Gewalt und Vernichtung konfrontiert worden. Ich frage mich oft, wie sie das verarbeitet haben. Und was das für mich bedeutet, nur knapp zwanzig Jahre nach Kriegsende geboren.

Damit beschäftigt sich auch ein Buch, das ich gerade gelesen habe. Sein Titel: Im Frühling sterben. Ralf Rothmann erzählt die Geschichte von zwei Siebzehnjährigen. Sie werden im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs eingezogen und müssen als „Kanonenfutter“ herhalten. Denn der Krieg ist für Deutschland verloren. Niemand, der auch nur einigermaßen bei Trost ist und nicht vom Fanatismus zerfressen, kann das in Zweifel ziehen. In dem Buch fallen Sätze, die mich tief erschüttert haben. Zum Beispiel die folgenden:

„Wenn man Glück hat, ist Sterben ein Fingerschnippen. Dass du kaum Schlaf kriegst und nie weißt, ob Nachschub durchkommt, ist viel furchtbarer.“ (S. 102) Das aus dem Mund von jungen Menschen zu hören, ist schlimm. Sie sind gerade im Frühling ihres Lebens, sie wollen ausprobieren, was sie mit ihrer Kraft und ihrem Geist anfangen können - und werden statt dessen täglich damit konfrontiert, dass ihr Leben scheinbar  nichts wert ist. Schrecklich!

Einmal beschreibt der Autor, wie ein LKW mit Verwundeten bombardiert wird. Die Sanitäter können sich retten, die anderen sind nachher alle tot. Rothmann schreibt: „In den Augen noch das jähe Entsetzen oder ungläubige Staunen, das sie wach und lebendig aussehen ließ, legte sich bereits ein Ernst auf ihre grauen Gesichter, der nicht von dieser Welt zu sein schien und keinen Zweifel mehr erlaubte.“ (S. 98)

Meine Eltern haben nie besonders viel über den Krieg gesprochen. Aber das Wenige hat mir verraten, wie tief der Schock bei ihnen sitzt. Wie schrecklich die Fliegerangriffe waren. Dass meine Mutter ihren Vater und ich meinen Opa nie kennen gelernt habe, weil er in Russland verschollen ist. Der andere Opa hat ein Bein verloren. Ich bin oft als Bub auf dem Sofa neben ihm gesessen. Mein Vater hat lieber von der Zeit nach dem Krieg erzählt. Wie er und seine Familie es geschafft haben, sich aus dem Nichts eine gute Existenz aufzubauen.

Mich beschäftigt die Frage sehr, wie meine Eltern und all die vielen dieser Generation mit dem umgehen, was bei ihnen damals kaputt gegangen ist. Und: Ob sich das auch auf mich übertragen hat, bei dem, wie sie mich erzogen haben. In Rothmanns Roman berichtet einer der Siebzehnjährigen, was sein Vater zu ihm gesagt hat: „Seelisch und körperlich verwundet zu werden, macht was mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder die Kugeln, die dich treffen, verletzen auch deine ungeborenen Kinder, sozusagen.“ Ja, das kann einen schon beschäftigen, einem manchmal den Schlaf rauben. Ich wünsche allen, denen es so geht, dass sie einen guten Weg finden, damit zu leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25762
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