Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Noch nie wussten wir so viel voneinander wie heute. Facebook und WhatsApp, SMS und E-Mails machen nicht nur den schnellen, kurzen Austausch möglich. Mit einem Handy-Selbstportrait, mit einem Katzenvideo oder einem Pizzarezept kann sich heute jeder über wenige Klicks einer breiten Internet-Öffentlichkeit vorstellen.

Das macht vielen Spaß und ist über weite Strecken harmlos.

Dieser leichte Weg, alles über sich bekannt zu machen und alles über andere zu erfahren, hat aber auch seine Tücken. Ein Politiker, der seine Doktorarbeit zusammenkopiert hat, ein Promi, der betrunken Auto fährt, oder ein Trainer, der sich unappetitlich kratzt – sie alle müssen sich nicht nur vor den Instanzen rechtfertigen, die es angeht, also der Uni, dem Strafrichter oder dem eigenen Anstand. Sondern viele aus der sogenannten Netzgemeinde sind sofort bereit, ihr Urteil zu fällen und einer breiten Leserschaft ihre Einschätzung zu liefern, meist anonym und häufig grenzwertig. Was früher über den Stammtisch nicht hinauskam, strömt heute ungehindert durchs Netz und verbreitet sich wie ein Strom. Noch nie war es so einfach und so risikolos, andere zu verurteilen. Und das kann auch Durchschnittsmenschen treffen: Den ungeschickten Kollegen ebenso wie die unbeliebte Mitschülerin. Wenn sich die Kommentare zum Mobbing steigern, können sie sogar Menschen in den Tod treiben.

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ - rät die Bibel. Ein kluger Ratschlag. Denn was gerne als Netztransparenz oder gar als neue Demokratie gepriesen wird, ist häufig nicht mehr als voreiliges, wichtigtuerisches Richten von Menschen. Die Kombination aus Anonymität, Halbwissen und Vorurteil - diese Mischung ist oft gefährlich und kann bei konkreten Menschen schlimmen Schaden anrichten. Und letztlich kann jeder zum Angeklagten vor diesem virtuellen Gerichtshofs werden. Wer heute Täter ist, findet sich morgen vielleicht schon als Opfer wieder.

Kritische Debatten, Aufklärung und Transparenz müssen sein, da kann das Internet Großes leisten. Auch Empörung, Widerstand und Protest haben hier ihren Platz. Aber für vorschnelle anonyme Urteile gilt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22451
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