SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Mein Bus hat schon Verspätung. Da steht plötzlich ein junger Mann in der vorderen Tür. Er signalisiert dem Fahrer: „Bitte warten! Da kommt noch jemand.“ Langsam nähert sich eine Frau. Sie steigt ein. Beide bedanken sich und endlich geht die Fahrt weiter. „Schon ein bisschen frech“, denke ich mir. Der Mann geht als erster an meinem Platz im Bus vorbei. Ich sehe seinen Ehering. Ob das seine Frau ist, für die er sich da eingesetzt hat, frage ich mich. Dann erst sehe ich den Bauch der Frau. Sie ist schwanger, hoch schwanger. Ich sehe den Blick, mit dem er sie ansieht und höre, wie er fragt: „War das zu schnell?“ Und wie er das fragt! Und wie er sie anschaut! So zärtlich und erfüllt von Sorge und - ich kann’s nicht anders sagen - mit ganz viel Liebe.

Ich bin gerührtund merke, wie ich auf einmal lächeln muss. Weil es einfach so schön ist zu sehen, wie er sich kümmert und die beiden die Welt um sich herum fast zu vergessen scheinen.

Ich weiß nicht, was die Frau ihrem Mann geantwortet hat. Ob es wirklich zu schnell für sie war, für sie und das Baby in ihrem Bauch. Ich bleibe an einer  Frage hängen, die auf einmal einen viel größeren Horizont bekommt. Es geht nicht mehr nur um schnell oder langsam und auch nicht allein um das junge Paar. Auf einmal bin ich unmittelbar bei mir. Bei Situationen, in denen ich mir diese Frage hätte auch stellen können, oder gar müssen: „War das zu schnell?“ Hinter dem Wunsch, meine Geschwindigkeit zu prüfen, geht es um etwas ganz anderes.

Ich bin nicht allein auf der Welt. Wenn ich etwas in einer bestimmten Geschwindigkeit tue, dann hat das Folgen für die anderen, die mit mir zu tun haben. Dann ergeben sich daraus weitere Fragen: Weiß ich überhaupt, wie schnell - oder langsam - ich bin? Nehme ich wahr, welchen Rhythmus die anderen haben? Schließlich: Nehme ich mit meinem Tempo Rücksicht auf das, was die anderen brauchen, die mit mir in der gleichen Situation stecken?

Am Ende eines Tages spüre ich hin und wieder, wie sehr es mich angestrengt hat, dass heute alles wieder einmal furchtbar schnell gegangen ist. Nein, dass ich derjenige war, der Tempo gemacht hat. Schneller, damit noch mehr erledigt werden kann. Wir leben in einer hektischen Welt. Und ich weiß, dass Eile nicht gut ist. Trotzdem kann ich so schlecht aus meiner Haut, aus meiner Gewohnheit, vieles schnell zu machen. Wenn ich aber schon für mein Gefühl zu schnell war, wie anstrengend muss es dann erst für die anderen sein, die mit mir zu tun haben?!

War das zu schnell? Ich nehme mir vor, oft an die Frage des jungen Vaters zu denken im neuen Jahr.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21221
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