SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Man kann nicht alles im Blick behalten, was einem wichtig ist. Ich habe im Laufe der Jahre so vieles aus dem Blick verloren: Studienfreundinnen und –freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten aus vielen Jahren, Menschen, an deren Leben ich früher viel Anteil genommen habe. Der Kontakt ist abgebrochen, das Interesse erlahmt. Schade eigentlich. Aber ich kann nicht alle im Blick behalten. Leider.
Manchmal frage ich mich auch im Hinblick auf die Politik: Ist noch alles im Blick, was jetzt notwendig ist? Geraten in den drängenden aktuellen Herausforderungen die Schwächeren in der Gesellschaft aus dem Blick, die auch Fürsorge und Aufmerksamkeit brauchen? Sind die globalen Zusammenhänge genügend im Blick, zum Beispiel wenn es um Fluchtursachen geht? Wer greift ein in den Waffenhandel, wer analysiert und bekämpft die Strukturen der sozialen Ungerechtigkeit, wer verweist auf die von Menschen gemachten ökologischen Katastrophen?
Wer hat da noch den Überblick und den Durchblick? Mich tröstet das Wort, das der Evangelische Kirchentag als Losung für den nächsten Kirchentag 2017 ausgewählt hat. Es heißt: „Du siehst mich“ (1. Mose 16,13), und es erinnert daran: Gott hat seine Geschöpfe und Schöpfung im Blick. Seine Liebe schaut auf das, was sie umtreibt.
„Du siehst mich!“ Ich finde, diese Losung passt zum Reformationsjubiläum 2017 und zum Reformationstag heute. In vielfältiger Weise haben die Reformatoren es beschrieben, in Liedern, Katechismen, Predigten, Vorlesungen: Gott hat die Menschen im Blick. Und damit Menschen das glauben können, lässt sich Gott selbst in den Blick nehmen: in Jesus von Nazareth.
Solus Christus, haben die Reformatoren gesagt. Für mich heißt das: Auf Christus fällt der Blick der Glaubenden, wenn sie Orientierung suchen: Darauf, wie er Menschen und ihre Nöte in den Blick genommen hat. Darauf, wie er im Leiden und Sterben an ihrer Seite bleibt. Darauf, wie er den Tod überwand und ihren Blick über die Endlichkeit hinaus hebt.
Mich tröstet es zu wissen: Ich kann und muss nicht alles im Blick behalten. Das tut Gott. Darauf will ich mich verlassen. Und Christus in den Blick nehmen und mich daran orientieren, wie er mit den Menschen und ihren Nöten umgegangen ist. Das gibt mir Kraft zum Handeln. Auch wenn ich nicht alles schaffen kann, was sein müsste. Auch wenn ich in vielem nicht so gut bin, wie ich das möchte.
Solus Christus: Mit dem Blick auf Christus kann ich getrost das tun, was nötig ist, und was ich tun kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20821
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