SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

In diesem Schuljahr unterrichte ich eine zehnte Klasse. Sechzehn Schüler sind es. In dem Flugzeug, das vergangenen Dienstag abgestürzt ist, waren auch Schüler einer zehnten Klasse, sechzehn junge Menschen, dazu zwei Lehrerinnen. Wie alle Passagiere des Flugs sind sie tot, zerschellt an einem Felsmassiv. Als ich zum ersten Mal von der Tragödie höre, muss ich sofort an meine Schüler denken. Ich kann gar nicht anders. Gleichzeitig halte ich den Gedanken kaum aus: mir vorzustellen, dass auch nur einer von ihnen fehlt, für immer, dass er nie mehr wieder kommt, weil er tot ist. Aber die ganze Gruppe, alle sechzehn.... Ich komme in unser Klassenzimmer und stehe vor leeren Stühlen. Und weiß, dass keiner von ihnen zurück kommen wird. Das ist wie ein Albtraum. Aber für die Schule in Haltern ist es die Realität, die ich mir lieber nicht in ihrer ganzen Härte ausmalen möchte.

Die jungen Frauen und Männer meiner Schulklasse kenne ich jetzt ziemlich genau eineinhalb Jahre. Wir sehen uns einmal in der Woche und sind uns im Laufe der Zeit näher gekommen. Ich weiß, wie jeder von ihnen aussieht, wie er sich kleidet. Ich kenne den Klang der Stimme und die Schrift. Und ich weiß auch ein wenig davon, wie der einzelne denkt, was ihn interessiert und ihm wichtig ist. Sie sind alle etwas Besonderes. Da ist so viel Potential in ihnen, so viel Leben, das die Welt in Besitz nehmen will. Ich mag jeden einzelnen. Keiner ist zu ersetzen. So wie keiner von den 150 Menschen, die am Dienstag  mitten aus ihrem Leben gerissen wurden.

Was sich da über den südfranzösischen Alpen ereignet hat, ist unvorstellbar. Der Absturz an und für sich ist bereits eine Katastrophe. Aber jetzt, wo wir wissen, dass der Copilot das Unglück wohl mit Absicht herbei geführt hat, jetzt wird daraus der schiere Wahnsinn. Es ist ein furchtbarer Abgrund, in den wir dabei schauen. Auch dazu ist ein Mensch in der Lage. 149 Menschen reißt er mit in den Tod, und wir verstehen nichts. Die Angehörigen, alle Betroffenen bleiben in einem Schockzustand zurück. Was ist da passiert? Weshalb tut jemand so etwas? Wer hilft uns, das zu verstehen?

Auf diese Fragen gibt es nur eisiges Schweigen. Das müssen wir aushalten. Am besten nicht allein, sondern mit den Betroffenen, den Familien zusammen, in Verbindung untereinander. Und, wer kann, mit einem Stoßseufzer nach oben: um Kraft, wo uns diese fehlt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19520
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