SWR2 Wort zum Tag

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Ein bisschen ‚naiv, einfältig und allzu kindlich-fromm‘ finden manche Kritiker Matthias Claudius‘ Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“. Keine ernst zu nehmende Poesie für Erwachsene, höchstens ein Schlaflied für Kinder.
Ich kann ich diesem Urteil: ‚naiv, einfältig und allzu kindlich-fromm‘ nicht folgen.

Schon der Titel ‚Abendlied‘ ist nicht naiv. „Abend“, da geht es um weit mehr als den Ausklang eines x-beliebigen Tages, dem viele weitere folgen werden. Vielmehr erinnert es mich daran, dass Leben endlich ist. Für mich mit fast 60 liegen Morgen und Mittag meines Lebens ganz sicher hinter mir.

Wie lebt man mit dieser Einsicht? Wen sehe ich, wenn ich auf das bisher gelebte Leben zurückblicke? Und wie gehe ich in die Zukunft? Sollte ich vielleicht meine Lebenshaltung neu ausrichten?

Für Rückblick und Ausblick, für beide Perspektiven finde ich bei Claudius erstaunlich ansprechende Bilder.
Seht ihr den Mond dort stehen? fragt er in der dritten Strophe. Er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen.

Zufall, dass da nur ein „Halbmond“ zu sehen ist, der mehr verbirgt als offenbart? Nein. Auch dem Rückblick auf ein gelebtes Leben, auch das eigene, bleibt vieles entzogen. Und das umso mehr, je genauer ich es durchdringen will:

Was daran geglückt war, was man angefangen hat und nicht zu Ende gebracht, wo man schmerzlich versagt hat. Wo man gern ein anderer gewesen wäre, aber die Chance nicht bekommen hat oder sie nicht wahrnehmen konnte. Wer ich gewesen bin, für andere, oft ohne es zu ahnen. Sei es zum Argen oder auch zum Guten?

Je schärfer ich den Rückblick auf mein Leben zu stellen versuche, umso klarer wird mir nur eines: Das Bild meines Lebens bleibt lückenhaft. Und das Leben selbst Fragment.

Kann ich, können Sie, dann trotzdem über so ein fragmentarisches Leben sagen, was Claudius über ‚Halbmond‘ sagt? „Und ist doch rund und schön?“

Das eigene Leben so positiv zu sehen, dazu müsste ich entweder blind sein für eigene Fehler oder selbstverliebt. Aber Matthias Claudius hält dagegen: Schön sehen kann unser bruchstückhaftes Leben der liebevolle Blick der Anderen. Im Letzten, ein liebender Gott.

Gott, laß uns dein Heil schauen, dichtet er, auf nichts Vergänglichs trauen, nicht Eitelkeit uns freun!

Ich glaube: So ein uneitler Blick auf mich selbst könnte auch meine Lebenshaltung neu ausrichten. Damit man in einer gereiften Haltung in die Zukunft gehen kann. In einem guten Sinn naiv: Mit den Worten von Matthias Claudius: „Einfältig, kindlich-fromm“.
Oder anders gesagt: Einfach, klarer und trotz des Alters heiter.

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