SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Das geht besser!“, hat der Vater zu seinem Sohn gesagt und das Zeugnisheft verärgert auf den Tisch geknallt. Der Sohn hatte sich wirklich angestrengt, aber dem Vater hat das nicht gereicht. Dabei war der Vater selber kein guter Schüler gewesen. Sein Sohn sollte es besser machen als er. Das erwartete er von ihm. Und nun ist er enttäuscht. Ich fürchte: Solche Szenen wird es demnächst wieder geben. In einer Woche gibt es Zeugnisse.
Darf ich von anderen erwarten, was ich selber nicht leisten kann oder will?
Die folgende jüdische Geschichte gibt mir zu denken. Sie ist nicht nur für Eltern und Lehrer.
Eine Mutter kam zu einem Rabbi, der selbst in den schwierigsten Fällen einen Rat wusste. „Mein Sohn hört einfach nicht auf, Süßigkeiten zu naschen“, klagte sie ihren Kummer. „Ich habe alles versucht, es ihm abzugewöhnen. Aber nichts hat funktioniert.“ Der Rabbi dachte lange nach. Dann sagte er: „Komm in einer Woche wieder.“ Nach einer Woche kam die Mutter wieder. „Ist euch etwas eingefallen, was ich tun kann?“, fragte sie. Wieder überlegte der Rabbi lange. Dann sprach er: „Komm in einer Woche wieder.“ Die Frau ärgerte sich. Aber sie tat, was der Rabbi sagte. Als sie nach einer weiteren Woche wieder zu ihm kam, strahlte er über das ganze Gesicht. Er sprach: „Sage ihm einfach, er solle das Naschen sein lassen.“ Da ärgerte sich die Frau und meinte: „Aber das hättet Ihr mir doch schon vor drei Wochen sagen können. Warum habt ihr so lange gebraucht, um mir diesen einfachen Rat zu geben?“ „Es war nicht so leicht wie Ihr denkt“, antwortete der Rabbi. „Ich habe drei Wochen gebraucht, um mir selbst das Naschen abzugewöhnen.“
Kann ich von anderen nur das erwarten, was ich auch selber bereit bin zu tun? Was meinen Sie? Mich jedenfalls hat die Geschichte angeregt, mit anderen etwas nachsichtiger zu sein, „barmherziger“ würde Jesus wohl sagen. Ich will es jedenfalls versuchen. Nicht nur, wenn es Zeugnisse gibt.

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