SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Auch in der schönsten Sommerzeit kann der Wochenbeginn mühsam sein. Nicht nur wer früh raus muss, kämpft vielleicht noch mit der Müdigkeit. Manch einen  plagt ja auch  den Tag über  das Gefühl der Erschöpfung. Das Gespür, nicht mehr gebraucht zu werden und irgendwie zu nichts nutze zu sein, kann einen gar lebensmüde machen. In solche Stimmungen hinein höre ich  dieses wunderbare Gedicht von Hilde Domin, die ja als Jüdin nach Santo Domingo fliehen mußte und dann zeitlebens ihren Exilsnamen beibehielt. „Nicht müde werden/sondern dem Wunder/leise/wie einem Vogel/die Hand hinhalten.“  Ein  einziger Satz wie um sich selbst aufzumuntern; der  Satzanfang bildet ausdrücklich auch die Überschrift, so steht er  dringlich und verdoppelt  da : „Nicht müde werden“. Da spricht ein starker Wille zum Durchhalten, aber groß muss die Versuchung  sein zu resignieren oder gar zu verzweifeln. Der  Ratschlag, ja die Bitte nicht aufzugeben kommt offenkundig von weit her..

Die Dichterin spricht  vom Wunder. Mit dem ist stets zu rechnen. Der Glaube ist ein  Möglichkeitssinn, ein realistischer.   Die Wende zum Guten, zum Besseren ist immer möglich. Man muss nur bereit sein und darauf hoffen: „leise wie einem Vogel die Hand  hinhalten“ – diskreter und zärtlicher kann man es kaum sagen. Ich  erinnere mich an eines Morgens am See Genesareth. Die Sonne war gerade im Aufgehen,  ganz nah  am Ufer  ragte ein Ast aus dem Wasser.  Völlig überraschend  setzt sich wippend ein Eisvogel darauf,  aus irgendeinem Wunderland hergeflogen. Noch heute sehe ich mich jubelnd und wie zur Salzsäule erstarrt ganz still stehen, nur offen für die farbige Lebendigkeit  dieses kleinen Fliegers. Und  der fühlt sich tatsächlich sicher: dreimal hintereinander taucht er ins Wasser  und macht  seine Morgentoilette, die Flügel schüttelnd  im  werdenden Sonnenlicht.

Natürlich  sind solche Höhepunkte wie am See Genesareth nicht der Alltag.  Aber wenn etwas von dieser Überraschungslust auch  heute im Spiel wäre, und morgen, wärs nicht schlecht. Was bisher nur selbstverständlich war, kann ja neu entdeckt und geschmeckt werden. „Nicht müde werden/sondern dem Wunder/leise/wie einem Vogel/ die Hand hinhalten.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17841
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