SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Es rührt mich immer an, wenn ich die beiden sehe: er, ein noch rüstiger älterer Herr und sie an seiner Seite, schon ein wenig gebeugt und eingefallen. Über viele Jahre waren sie wichtige Stützen im Kirchenchor - aber jetzt muss er sie stützen, wenn sie gemeinsam in die Chorprobe kommen. Singen kann sie eigentlich nicht mehr richtig wegen ihrer fortschreitenden Demenz. Aber die Chorprobe hat trotzdem ihren festen Platz im Wochenplan. Es tut dem alten Ehepaar gut, raus zu kommen. Ihr und ihm. Er kann ja noch singen, und sie kommt in eine vertraute Gemeinschaft, in der sie viele Jahre aktiv war und nun einfach so dabei ist. 

Wenn ich so etwas erlebe, kommen mir die vielen alten Menschen in den Sinn. Es werden immer mehr, die mit schweren Krankheiten leben müssen: Depression, Alzheimer, Parkinson, Krebs – um nur einige zu nennen. Die meisten von ihnen werden zuhause betreut und gepflegt. Das sind gewaltige Herausforderung für die Betroffenen. Es ist immens, was die noch gesunden Partner und andere Familienangehörige leisten. Mir kommt da ein Satz aus der Bibel in den Sinn: Einer trage des anderen Last – das ist tagtäglich gelebte Nächstenliebe.  

Allerdings kann diese Last auch überfordern. Mit einem kranken Menschen zusammenzuleben ist anstrengend, körperlich und psychisch. Die pflegenden Angehörigen brauchen auch Unterbrechungen, wo es um etwas anderes geht als die alles bestimmende Krankheit; Gelegenheiten, wo man wieder Kraft schöpfen kann. Wie das ältere Ehepaar beim Singen. Solche Oasen entstehen nicht von heute auf morgen. Da sind Freundschaften über Jahre gewachsen, und selbstverständlich gehören alle dazu – egal wie viel sie scheinbar noch mitbekommen. Da gibt es gemeinsame Traditionen – etwa am Sonntag in die Kirche zu gehen. Die vertrauten Rituale und Lieder  können innerlich aufrichten und neue Kraft geben. Da gibt es Nachbarn, die am Leben Anteil nehmen und vielleicht die eine oder andere Hilfe geben.  

Es ist wichtig, solche Beziehungsnetze aufzubauen und zu pflegen, solange man noch bei Kräften ist. Darin sehe ich künftig auch eine ganz wichtige Aufgabe für christliche Gemeinden. Gerade weil sie im Lebensraum der Menschen präsent sind, könnten sie ein wichtiger Ort sein für das Miteinander von Gesunden und Kranken, von Geben und Nehmen.

Einer trage des anderen Last – mit dieser Einstellung können Beziehungsnetze wachsen, in denen jeder seinen Platz hat.

 

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16817
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