SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Kann man Heiliger ohne Gott sein? Das ist das einzige konkrete Problem, das ich kenne."  Diese Notiz ist ebenso überraschend wie bezeichnend . Sie steht im Roman „Die Pest" von Albert Camus, für den er  1957 den Literatur-Nobelpreis erhielt.  Wer will heute schon heilig werden - und dann noch ohne Gott? Camus 1oo. Geburtstag  in diesem Jahr gibt Anlass, darüber nachzudenken. Ausdrücklich nämlich wehrt sich der Schriftsteller gegen das Etikett „Atheist". Zeitlebens  versteht er sich als durchaus religiöser Mensch: die Schönheit der mittelmeerischen Heimat um Algier prägt  ihn zutiefst. Das Meer und die Nacht sind besondere Orte seiner Weltfrömmigkeit.  Und die Frage nach Gerechtigkeit angesichts des Leids treibt ihn um, deshalb die Frage nach Heiligkeit. Paradox fasst Camus selbst  seinen Standpunkt 1954 im Tagebuch   zusammen:  „ich lese oft, ich sei  Atheist, ich höre oft von meinem Atheismus reden. Aber diese Worte sagen mir nichts, sie haben keinen Sinn für mich. Ich glaube nicht an Gott    u n d  ich bin kein Atheist."  Genau diese Spannung macht  das Werk von Camus  auch spirituell  so herausfordernd. Leidenschaftlich sucht der Autor gerechte Verhältnisse und aufrichtiges Leben, aber der Gottesglaube hilft ihm dabei nicht. Im Gegenteil: seit seiner Magisterarbeit über Augustinus hat er besonders die Christen im Verdacht, weltflüchtig  auf irgendein Jenseits bezogen zu sein und die Welt zum Teufel gehen zu lassen, bei dem sie in Wahrheit schon ist. „Mein Reich ist von dieser Welt", setzt Camus entschieden gegen Christi Wort im Johannesevangelium.  Hier und jetzt entscheidet sich alles: hinreißend schön und schrecklich absurd. „Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt" will ebenso ernst genommen werden  wie das himmelschreiende Unrecht. Heiligkeit  kann es nur in Solidarität mit dieser Welt und den Menschen geben. Gott und die Rede von und zu ihm  sind da eher verdächtig oder gar gefährlich.

Geht es nicht vielen Mitmenschen so?  Nicht nur, dass sie anständig lebenund handeln  wollen. Sie engagieren sich beispielhaft  und oft in globalen Zusammenhängen.  Aber Gott ? Zum Komplizen der Reichen und Mächtigen ist geworden, zum Blitzableiter menschlicher Not vielleicht oder zum weltfernen Vertröster. Für nicht wenige ist „Gott" gar kein Thema mehr. Zu sehr ist er mit negativen Kirchenerfahrungen  verbunden.  Camus kennt die modernen Atheismen genau  - umso erstaunlicher ist es, dass er in aller Kritik die Leerstelle doch offen hält, die man  christlich „Gott" nennen würde. Denn jeder authentische Christenmensch leidet auch unter dem Missbrauch des Gottesnamens und dem Weltverlust der Kirchen. Camus jedenfalls lässt sich weder humanistisch noch  christlich beruhigen, zu herausfordernd sind Schönheit und Schrecken des Bestehenden. Daraus erwachsen seine faszinierenden Romane und Essays.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15851
weiterlesen...