SWR2 Wort zum Tag

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Lesen ist so selbstverständlich für mich, da muss ich gar nicht drüber nachdenken. Lesen mache ich automatisch. Ich sehe die Aufschrift einer Firma auf einem Auto - schon gelesen, ich sehe das Plakat an der Bushaltestelle - schon gelesen, ich schlage die Zeitung auf - die Überschrift habe ich einfach so gelesen.

Manches von dem, was ich lese, behalte ich, vieles vergesse ich. Alles das aber passiert, ohne dass ich darüber nachdenke. Es ist selbstverständlich.

Ich weiß allerdings auch, dass Lesen für viele nicht so einfach ist oder gar ohne Nachdenken passiert. Analphabetismus ist verbreitet, es gibt auf der ganzen Welt Millionen von Kindern und Erwachsenen, die nicht lesen können. Jahrelang habe ich darüber nie nachgedacht - bis ich bei unseren Kindern erleben konnte, wie mühsam es sein kann, Buchstaben zu lernen, Sätze zu lesen - und schließlich ganz automatisch Schrift wahrzunehmen.

Lesen können ist aber mehr, als nur Buchstaben entziffern. Lesen umfasst alles das, was Menschen erfahren, erkennen, deuten können. Es ist wichtig, im Gesicht eines anderen Menschen lesen zu können. Wut, Freude, Begeisterung oder Trauer im Gesicht des anderen sehen zu können. Es ist wichtig, zwischen den Zeilen lesen zu können, die Zwischentöne zu hören, wenn Menschen miteinander sprechen.

Und in der Antike und im Mittelalter war es eine Kunst, im Buch der Natur lesen zu können. Die Natur, Bäume und Tiere, Steine und Wasser gaben zu denken. Sie erzählten von Gottes Schöpfung. Sie erzählten davon, dass Leben einen Sinn hat. Die Jahreszeiten zum Beispiel erzählten vom Leben des Menschen zwischen Geburt und Tod, erzählten von Ende und Anfang. Aber es gab auch andere Arten, in der Natur zu lesen: Vor allem in der Moderne wurde Natur als Mittel gelesen, das dem Menschen dient. Natur konnte ausgebeutet und zerstört werden. Aber auch das ist eine Art und Weise, die ganze Welt zu lesen.

Lesen können ist wichtig. Noch wichtiger ist aber, welche Schlüsse ich daraus ziehe. Das ist alles andere als selbstverständlich. Ich vergesse es selbst immer wieder, wenn ich etwas lese. Und will deshalb beim nächsten selbstverständlichen Lesen genauer aufpassen, was ich da lese, wie ich es lese, wie ich es deute. Damit ich beim Lesen nicht eigentlich ein Nicht-Leser bleibe.

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