SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Jeden Morgen komme ich auf meinem Weg zum Büro an einem großen Ahornbaum vorbei. Mich fasziniert, wie er über das Jahr sein Gesicht verändert. Im Frühling scheint er förmlich zu platzen vor Saft. Überall sprießt und wächst es aus ihm heraus. Die Blätter noch ganz klein und zart grün.
Im Sommer dann sind die Blätter groß und grün und bilden ein richtiges Dach. Wenn die Sonne brennt, dann ist es angenehm kühl unter „meinem Ahorn". Nur das Auto parke ich nicht mehr drunter. Das gibt so einen klebrigen Film auf dem Lack. 
Und schließlich der Herbst. Erst fallen nur die kleinen Hubschrauber vom Himmel. Und dann gibt er nochmal alles, mein Ahorn. Die Blätter werden leuchtend gelb, orange und rot. Es ist ein echtes Farbspektakel. 
Aber eines Morgens sehe ich die ersten Blätter auf dem Boden liegen. Und irgendwann geht es ganz schnell. Quasi über Nacht lässt er alle Hüllen fallen. Dann stehe ich vor dem Baum und weiß: jetzt ist der Herbst bald um. Die Blätter legen mir zwar einen roten Teppich aus. Aber der Baum sieht irgendwie nackt aus. Und traurig. Als ich so den kahlen Baum betrachte, da ärgere ich mich sogar. Gerade wenn der Baum am schönsten aussieht, ist alles ganz schnell wieder vorbei. 
Ich glaube fast, der Baum hat mich gehört. Er scheint mir zuzuraunen: „Hey, nimm´s nicht so tragisch. Ich bin eigentlich ganz froh, dass ich jetzt mal drei Monate Ruhe habe. Ich werde im Winter Kräfte sammeln, dass es im Frühling wieder so richtig losgehen kann. Den Lauf der Welt kann ich nicht aufhalten, aber ich vertraue auf den Kreislauf der Natur." 
Stimmt eigentlich, wir werden und wir vergehen. Und meine christliche Hoffnung sagt mir, dass ich nie ganz vergehe. Im Gegenteil: dass ich nach meinem Tod aufblühen werde.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13763
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