SWR2 Wort zum Tag

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Zwänge und Anforderungen können das Leben unfrei machen, es einengen und so die Entfaltung eines Menschen behindern.
Davon erzählt Bertolt Brecht in einer seiner Kalendergeschichten. Eine Frau ist 72, als ihr Mann stirbt. Sie hatte kein leichtes Leben. Fünf Kinder hat sie mit bescheidenen Mitteln großgezogen. Nun ist sie allein, die vorher für viele gesorgt hat. Die Kinder fragen, wie sie allein leben soll. Aber sie lehnt alle Hilfsangebote ab und lebt die ihr noch verbleibenden zwei Jahre in großer Freiheit und Selbstbestimmtheit.
Aber was in diesen beiden Jahren passiert, was sich im Leben jener Frau verändert, die bisher karg und selbst-los gelebt hat, das irritiert, ja befremdet ihre Kinder. Sie hält nur lockeren Kontakt zur Familie, leistet sich Vergnügungen, die sie in den ersten siebzig Jahren nicht kannte, macht Ausflüge, besucht Pferderennen. In der Zeit, von der Brecht erzählt, ist das Luxus pur. Ihre Umgebung bezeichnet das als „unwürdig".
Ich denke: hier treffen wir auf starre Prinzipien von Menschen, die sich Neuem nur schwer öffnen können, die das Recht zum Anderssein und das ihnen Fremde, das Unerwartete ablehnen.
Diese Frau hat siebzig Jahre das ihr vorgezeichnete Leben geführt, ein von Pflicht und Arbeit bestimmtes Leben. Als ihre Lebenssituation sich ändert und sie eine neue Freiheit findet, stößt das auf Widerstand.
Das aber wünsche ich jedem Menschen, dass er seine Möglichkeiten ergreift, die Freiheit findet, sich zu verändern, neue Erfahrungen zu sammeln. Offensichtlich ist das dieser Frau in ihrem Alter gelungen.
Beides, meine ich, sollte in Einklang stehen, Gebrauchtwerden und Brauchen, Pflichterfüllung und die Freiheit, auch neue Wege zu gehen. Beides zusammen gehört zum Leben. Verantwortliches Handeln heißt, die Möglichkeiten und Freiheiten der gegebenen Situation ergreifen.
So wie es Paulus im Brief an die Epheser treffend formuliert: Achtet genau darauf, wie ihr euer Leben führt. Sehet zu, wie ihr lebt, was der Wille Gottes ist.
Das heißt für mich, identisch mit mir zu leben und in Verantwortung vor Gott und den Menschen phantasievoll und frei nach Lebensmöglichkeiten zu suchen, die mir jetzt offen stehen.
Solche Phantasie - nicht erst im Alter - zu finden, ist eine Form der Freiheit, die jeder Mensch in seinem Leben gewinnen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13745
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