SWR2 Wort zum Tag

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Diesen Telefonanruf einer schwer kranken Frau werde ich nicht vergessen: Sie hat mir ihr Leid geklagt: „Ich habe solche Schmerzen - Jesus kann nicht mehr gelitten haben."
Könnte ich das so sagen? In der Begegnung mit Menschen, die oft über Jahre unerträgliche Schmerzen durchstehen müssen - denke ich das manchmal auch.
Die Anruferin wollte ganz bewusst diesen Vergleich mit Jesus wagen.
Eine Spur von Verlegenheit hörte ich noch in ihrer Stimme: Wie kann ich bloß meine eigenen Schmerzen an Jesu Leiden zu messen? Ist das nicht unerhört?
Dabei vergleicht Jesus selber einmal sein Leiden mit dem Anderer.
Nach Verhör und Folter - auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte nach Golgatha - (Simon von Cyrene V.26) - da - so heißt es in der Bibel - „folgten ... ihm Frauen, die klagten und beweinten ihn. Jesus aber wandte sich ... um und sprach: »... weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und eure Kinder.« (Lukas 23,27+28) ihr werdet noch schwerer haben, noch bitterer leiden müssen.
Aber warum wehrt Jesus deswegen Tränen um ihn ab?
Wie fühlt sich das eigentlich an, wenn ein Anderer über mich weint?
Einerseits ist das ein starker Ausdruck von Sympathie.
Aber da ist auch etwas dabei, das mich bedrohen kann.
Wenn mich jemand bedauert, bejammert, beweint -
macht mich das bemitleidenswert klein, hilflos.
Will er deshalb nichts von Tränen um ihn sehen?
Bricht hier etwa eine heroische Ader in ihm durch?
Sprechen so nicht Helden?: „Weint doch nicht um mich!
Ist alles halb so schlimm. Spart euch euer Mitleid - spart euch eure Tränen für euch selber auf."
Ich glaube nicht, dass Jesus ein unerschütterlicher Held war:
Er kennt ja Tränen und Angst - um sein eigenes Leben - und um das Leben der anderen. Ich verstehe seine Äußerung anders. Das „Weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst", ist aus Mitleid, in Sympathie gesprochen.
Jesus erwidert so das Mitleid der Frauen. Er sieht in Zukunft schwere Zeiten auf sie zukommen. Frauen, die um sich und ihre Kinder Angst haben müssen. Die entrechtet und erniedrigt werden.
Es geht Jesus nicht um einen Superlativ der Schmerzen: Wer leidet am meisten?
Schon Jesu Schmerzen waren mehr als genug. Wenn ich Schwerkranke erlebe, dann denke ich - ja, das kann schon so sein, wenn sie von sich sagen:
„Ich habe solche Schmerzen - Jesus kann nicht mehr gelitten haben..."
Dann will ich das stehen lassen. Ihre Schmerzen nicht relativieren, nicht klein reden.
Sie vielmehr nachempfinden - beachten, wichtig nehmen.
Denn das möchte ich auch: Dass jemand meine Schmerzen wahrnimmt.
Und: Wenn da einmal niemand ist, der mir das sagen kann, dann weiß ich im Schmerz Jesus an meiner Seite.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12806
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