Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Das „Auge Gottes" - in vielen Kirchen ist es zu sehen. Ein Auge, umrahmt von einem großen Dreieck. Als Kind habe ich dieses Bild gehasst. Das „Auge Gottes" - das war ein Symbol für einen Aufseher, dem nichts entgeht. Ein kleinkarierter Kontrolleur, der mich auf Schritt und Tritt überwacht, jede Verfehlung registriert. Eine grauenhafte Vorstellung, mit der ich lange nichts anfangen konnte. Das änderte sich erst, als ich kürzlich eine Schrift des Nikolaus von Kues gelesen habe. Ihr Titel: „Vom Sehen Gottes". Darin erklärt der große Denker des Mittelalters, dass Gott den Menschen tatsächlich immer ansieht. Aber nicht, um ihn zu bespitzeln, sondern weil er sich um ihn sorgt. Im Angesicht Gottes ist der Mensch geborgen. Um das zu verdeutlichen, empfiehlt Nikolaus einigen befreundeten Klosterbrüdern ein Experiment: Hängt ein Gottesbild an der Wand auf und stellt euch in gleichem Abstand zu ihm auf. Schaut es an, und jeder von euch wird denken, dass es ihn allein ansieht. In Wahrheit aber behält Gott alle im Blick. Das ändert sich auch nicht, wenn ihr im Raum umhergeht. Wenn ich mich auf das Experiment des Nikolaus von Kues einlasse, erkenne ich: Gott ist immer bei mir. Er ist mein ständiger Begleiter. Indem er mich ansieht, gewinne ich Ansehen. Diese Erfahrung kann ich mit anderen Menschen teilen. Denn ihnen geht es genauso. Wenn ich das „Auge Gottes" so verstehe, dann verliert es seinen Schrecken. Jetzt  verweist es auf einen fürsorglichen Gott, der mich nicht aus den Augen verliert.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12644
weiterlesen...