SWR2 Wort zum Tag

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30APR2024
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Auf dem Foto, das im April zum besten Pressefoto des Jahres gekürt worden ist, sind eine Frau und ein Mädchen zu sehen. Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Denn die Frau hält den Kopf gesenkt, so dass man nur ihr sandfarbenes Kopftuch erkennen kann. Das Kind ist von Kopf bis Fuß in ein weißes Leinentuch gewickelt. Es ist tot. Umgekommen bei einem militärischen Angriff auf den Gaza-Streifen; eine israelische Rakete hat das Haus ihrer Familie getroffen. Die Identität der beiden ist bekannt: Es ist die Palästinenserin Ina Abu Mamaar, die ihre fünfjährige Nichte Saly im Arm hält. Durch die Namen ist das Bild einer konkreten Kriegssituation zugeordnet und zeigt exemplarisch das Leid der palästinensischen Bevölkerung. Zugleich weist es aber weit über alle geographischen und nationalen Konflikte hinaus. 

Denn die Haltung von Frau und Kind auf diesem Bild erinnert mich an eine Pietà. An die bildliche Darstellung von Maria als Schmerzensmutter mit dem Leichnam ihres toten, gerade vom Kreuz abgenommenen Kindes Jesus auf dem Schoß. Selbst die leuchtende Farbe von Inas Jeanskleid erinnert an den himmelblauen Mantel der Madonna. Andere Menschen fehlen im Bild, obwohl es in beiden Fällen viel mehr gewesen sein müssen, die um den toten Jesus, um die tote Saly geweint haben. Aber der Fotograf Mohammed Salem hat einen ganz intimen Moment eingefangen. Und gibt mit seinem Foto einen ergreifenden Einblick in unermessliches Leid. Es zeigt einen Schmerz. Den tiefen Schmerz aller Mütter, deren Kinder vor der Zeit gestorben sind. Denen auf gewaltsame, unmenschliche Art und Weise die Zukunft genommen wurde. Mit ihren verhüllten Gesichtern und ihre ausdrucksstarke Körperhaltung werden die Frau und das Mädchen für mich zur Ikone: Da könnte auch eine jüdische Mutter sitzen. Maria mit Jesus. Oder eine ihrer Nachfahrinnen. Eine jemenitische, eine sudanesische Frau.

Pietà heißt Mitleid. Und Mitleid kann der erste Schritt sein, um Leid erträglicher zu machen.  Überall dort, wo wir uns an die Seite derjenigen stellen, die Leid zu tragen haben, geschieht so ein Anfang.  

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39805
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