SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

02MAI2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Magst du mitkommen?“ frage ich meinen Neffen. Mein Neffe ist 18 Jahre und gerade bei mir zu Besuch. „Dann siehst du mal, was Pfarrerinnen so machen.“ Also sind wir zu unserem Seniorenzentrum. Es ist neu und hell. Wir wollen Herrn S. besuchen. Herr S. sitzt in seinem aufgeräumten Zimmer und liest Zeitung. Wir unterhalten uns, ein freundliches Gespräch.

„Er wusste nicht, wer du bist“, sagt mir mein Neffe, als wir wieder draußen sind. „Er hat dir drei Mal das Gleiche erzählt und du hast ihn jedes Mal ernst genommen“, sagt mein Neffe mit einer Mischung aus Irritation und Faszination in der Stimme. „Ist das dir aufgefallen?“, frage ich ihn, „Ihm fehlten auch einige Worte.“ Mein Neffe guckt mich an: „Er hat ganz schön Demenz, oder?“

Demenz ist nicht schön, weder für die Betroffenen noch für die Angehörigen. Ab irgendeinem Zeitpunkt geht es nicht mehr ohne Hilfe. Und doch können uns demenzkranke Menschen auf das eigentlich Wichtige im Leben hinweisen.

Wenn wir mit einem demenzkranken Menschen reden, müssen wir loslassen. Das Gefühl, alles im Griff haben zu müssen - loslassen. Den Anspruch, dass bei Gesprächen immer etwas herauskommen muss - loslassen. Die Überzeugung, dass Zeit Geld sei - loslassen.

Weil die gegenwärtige Lebenszeit unbezahlbar ist, unwiederholbar und unwiederbringlich. An diese kostbare Einsicht können uns Menschen mit Demenz erinnern: loslassen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39785
weiterlesen...