SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

19NOV2023
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Lebe jeden Tag

Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter. Der Satz hat mich immer geärgert. Es wäre nämlich vor allem ein trauriger Tag. Denn an meinem letzten Tag würde ich viele Dinge einfach lassen. Dinge, die das Leben reich und schön machen. Ich würde keine Urlaubspläne mehr schmieden, keine Besuche planen, keins von den Büchern mehr anfangen, die sich bei mir im Regal stapeln, keinen Radiobeitrag mehr schreiben. Wenn heute mein letzter Tag wäre, würde ich vieles von dem lassen, was ich mir schon so lange vorgenommen habe: Endlich die ganzen alten Unterlagen ausmisten, die ich warum auch immer aufgehoben habe, Joggen gehen, die Fliese im Bad austauschen, die zersprungen ist. An meinem letzten Tag hätte ich sicher Angst. Wäre wütend. Würde vielleicht unbedingt noch so vieles klären wollen. Keine richtig schöne Vorstellung.

Jetzt könnte man sagen: Der Satz ist ja ganz anders gemeint. Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter, das meint: Lebe intensiv, tue heute, was dran ist. Vertrösten und Verschieben gilt nicht. Versöhn dich heute und lass den Streit. Räume dein Leben so auf, dass du tatsächlich jeden Tag gehen kannst.

Dafür reicht aber auch eine alte Weisheit aus. „Nutze den Tag.“ Der Satz bringt auf den Punkt, um was es eigentlich geht. Dass ich jeden Tag und seine Chancen wahrnehme. Dass ich meine ja ziemlich begrenzte Lebenszeit gut gestalte. Dass ich ganz praktisch, durch das, was ich tue und sage, was ich lasse und denke, eine Antwort auf die Frage gebe: Was mache ich eigentlich aus meinem Leben?

„Carpe diem“ haben dazu die alten Römer gesagt. „Pflücke den Tag“, heißt das wörtlich übersetzt. Ein wundervolles Bild. Es macht deutlich: Jeder Tag liegt wie eine Blüte oder wie ein ganzes Sonnenblumenfeld vor mir. Voller Farbe, Licht und Duft. Den Tag zu pflücken heißt in diesem Bild: Den Tag zu ergreifen wie eine Blume, die mein Leben bunt macht. Den Tag zu sehen mit all seinen Blüten und Wundern und Sonnenstrahlen und Herbstgewittern. Da ist es dann egal, ob dieser Tag nur irgendeiner oder tatsächlich mein letzter ist. Wichtig ist nur, dass ich mich auf diesen einen Tag heute konzentriere. Damit er wie eine Blume vor mir seine Blütenblätter öffnet.

                                                

Gegen die Angst

Nutze den Tag. Mehr als nur ein Kalenderspruch. Ein Satz, der das Leben reicher macht. Darum geht es heute in den Sonntagsgedanken in SWR 4.

Nutze den Tag. Was dieser Satz meint, kann eine biblische Geschichte deutlich machen. Da ist ein reicher Mann, der sich auf eine Reise macht. Vorher ruft er seine Angestellten zu sich. Ihnen vertraut er einen Teil seines Vermögens an. Sie sollen mit dem Geld wirtschaften. Der eine legt das Geld riskant an, investiert in neue Unternehmen. Dank Glück und Geschick verdoppelt er ziemlich schnell das Geld. Ein anderer ist vorsichtiger. Aber auch er verdoppelt das Geld seines Arbeitgebers. Der dritte hebt alles von der Bank ab und verwahrt es sicher in einem Tresor. Als ihr Chef zurückkommt, wird abgerechnet. Von seinen ersten beiden Angestellten ist er begeistert. Der dritte dagegen erklärt: „Ich hatte Angst, das Geld zu verlieren. Angst vor dir. Aber zum Glück ist ja alles noch da.“

Ich hatte Angst. Das kenne ich auch. Die Angst, dass etwas schief geht. Angst, dass ich was falsch mache. Angst, dass hinter meinem Rücken über mich geredet wird. So eine Angst lähmt. Und dann tue ich nichts, nur damit nichts passiert. Da geht es mir wie dem dritten Mann.

Die Geschichte macht aber auch klar: Mit Angst, da kann ich nichts gewinnen. Ich will dem dritten Angestellten zurufen: Nutze den Tag. Mach was aus deinen Möglichkeiten. Und davon gibt’s es ja tatsächlich viele. Mit dem Geld kann der Mann was Sinnvolles kaufen. Oder auch alles spenden, Gutes damit tun. Denn offensichtlich verfügt sein Chef ja über genug Geld. Das wäre mal eine starke Aktion.

Mich fordert das auf, dass ich nach Möglichkeiten suche, aus Wenigem etwas zu machen. Aus wenig Geld, wenig Zeit, wenig Energie. Denn die tausend Situationen und Begegnungen, die tagtäglich da sind, die kann ich am Schopf packen. Kann etwas Gutes daraus machen. Auf dem Parkplatz ein paar Worte mit Bekannten wechseln, auch wenn ich es eilig habe. Meiner Frau eine Tafel Schokolade mitbringen, einfach so. Auf der Brücke mein Fahrrad anhalten und die Spiegelung im Wasser bewundern. Beim Telefongespräch mutig sein und ehrlich sagen, wie es mir geht.

Der Tag ist mir geschenkt, so wie in der Geschichte die drei Angestellten Geld bekommen. Es liegt auch an mir, etwas daraus zu machen.

Zu Mt 25, 14–30

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38804
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