SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

15OKT2023
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Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Das tut sie natürlich unentwegt. Aber ich meine, sie hat sich in den letzten zwanzig Jahren zu ihrem Nachteil verändert. Wenn ich hinschaue, wie wir miteinander umgehen, dann finde ich: Der Ton ist rauer geworden. Böse Worte fallen schneller als früher. Und vor allem: Die Bereitschaft, das zu tolerieren, was anders ist als ich selbst, schwindet zunehmend. Schnell werden dann Gräben gezogen. Hier die Guten, dort die Bösen. Das macht es einfacher, wenn man nicht genauer hinschauen und differenzieren muss. Eine moderne Gesellschaft wie die unsere, in der viele verschiedene Menschen zusammenleben, weil sie aus unterschiedlichen Teilen der Welt kommen, weil die Lebensentwürfe heute viel komplexer sind als früher und wir all das jeden Tag über die weltweiten Medienkanäle präsentiert bekommen, die verlangt naturgemäß mehr Toleranz. Ohne Debatten, also ohne ein fortwährendes Hören und Sprechen und Verstehen - und das immer wieder von neuem - geht es nicht mehr. Demokratie funktioniert nur so. Und weil ich als Christ meinen Beitrag dazu leisten will, dass wir das gut hinbekommen, deshalb spreche ich hier darüber, werbe für mehr Toleranz. Um des Gemeinwohls willen! Trotzdem scheint es für viele bequemer zu sein, an der eigenen Meinung starr festzuhalten, statt sich mit anderen auseinanderzusetzen.

Dass es um die Toleranz schlecht bestellt ist, ist aber gleichzeitig auch falsch, wie alles, was pauschal gesagt wird. Wenn ich mir anschaue, was inzwischen alles möglich ist, staune ich. Männer laufen händchenhaltend durch die Stadt. Bis auf einige Ewiggestrige juckt das keinen. Unter den Jüngeren verschwimmen die Grenzen zwischen Jungs und Mädchen zum Teil unübersehbar. Was früher klar männlich oder weiblich war, spielt dafür, wie sie sich selbst sehen, nur noch eine untergeordnete Rolle. Das finde ich gut.

Schwierig wird es mit der Toleranz erst dann, wenn sie negative Konsequenzen für andere hat. Also dann, wenn jemand zuerst an sich selbst denkt und sich dabei Dinge herausnimmt, die Folgen für andere haben. Wenn also das Recht des Einzelnen, seine Individualität an oberster Stelle steht. So, als ob jede und jeder machen kann, was er will. Ich erlebe das in vielen Alltagssituationen. Wenn am Bahnsteig die Ersten schon einsteigen, bevor die Ankommenden den Zug verlassen haben. Oder wenn Verkäuferinnen mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit der Kundschaft, obwohl die Schlange immer länger wird. Mag sein, dass ich in bestimmten Situationen auch überempfindlich bin, dann mag es ratsam sein, erst mal durchzuatmen, bevor ich reagiere. Trotzdem muss ich nicht alles dulden. Es gibt Grenzen bei der Toleranz. Ich darf sagen: „Das ist rücksichtslos, egoistisch. Das will ich nicht. Sie sind nicht allein auf der Welt, sondern teilen die Welt mit anderen. Bitte denken sie auch an die.“

Ich spreche heute hier in den SWR4-Sonntagsgedanken über Toleranz. Weil ich es in einer Demokratie für besonders wichtig halte, tolerant zu sein.

Ich habe die Sorge, dass unser Zusammenleben zunehmend intoleranter wird. Und damit meine ich nicht, dass wir verschiedene Meinungen haben, das ist gut so. Ich meine den Stil, das Wie. Mir fällt das zum Beispiel auf, wenn ich für meine Einstellung zu einem bestimmten Thema heftig angegriffen werde. Wenn es um den Klimaschutz geht, und ich dazu etwas im Radio sage, zum Beispiel. Schnell wird dabei die Sachebene verlassen, ich werde beschimpft und als Mensch angegriffen, obwohl mein Gegenüber mich gar nicht kennt. Niemand braucht so zu denken wie ich. Es ist mir sogar wichtig zu wissen, wie andere darüber denken, und die Debatte dazu darf ruhig auch hart geführt werden. Aber menschenfreundlich. Und dazu gehört es für mich, nicht zu verletzen, sondern die Unterschiede auszuhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das in unseren politischen Debatten und den Diskussionen vor allem in den Internet-Medien wieder üben und praktizieren müssen. Zum Wohl unseres Zusammenlebens in einer offenen Gesellschaft. Deshalb verbinde ich meine Gedanken heute ausdrücklich mit dem Aufruf zu mehr Toleranz.

Helfen würde dabei vor allem, etwas gelassener, weniger aufgeregt miteinander umzugehen. Es steht ja nicht die Welt auf dem Spiel, wenn wir streiten. Wie wir dahin kommen? Mit mehr Vertrauen. Das kann man nicht machen, aber man kann Erfahrungen damit sammeln, die Vertrauen stärken. Vertrauen ist für mich das A und O, überall wo Menschen zusammenleben. Wenn es angekratzt ist, fehlt nicht mehr viel und es wird Intoleranz daraus. Ich finde, es gibt so etwas wie vertrauensbildende Maßnahmen, die dabei helfen können:

Ich unterstelle dem, der anders denkt nicht, dass er mich damit angreifen will. Ich erkläre ihn nicht zum Feind.

Ich versuche so gut es geht, auf der sachlichen Ebene zu bleiben, mich nicht als Mensch angegriffen zu fühlen, und auch nicht persönlich zu werden, wenn ich antworte.

Ich sende Signale aus, dass ich an einer offenen, gerne auch kontroversen Debatte interessiert bin. Und ich begründe das auch: Nur gemeinsam kommen wir einem Kompromiss, einer Lösung näher. Das schaffe ich gar nicht allein.

Und ich übe mich darin, einen langen Atem an den Tag zu legen, geduldig mit anderen und mir selbst zu sein. Ich sage: Wir können immer nochmals anfangen, es immer noch besser machen. Wir sind noch lange nicht fertig.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38569
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