SWR2 Wort zum Tag

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24OKT2023
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Ich liebe den Herbst. Farbige Blätter, Nebel am Morgen, warmes Licht am Abend. Die Sommerhitze ist vorbei, der Winter lässt sich noch etwas Zeit.

Aber gerade deswegen fordert mich der Herbst auch heraus. Er ist eine Jahreszeit, da bin ich immer falsch angezogen. Wenn ich mich morgens aufs Rad schwinge, dann brauche ich schon Handschuhe und ziehe eine warme Jacke an. Aber kaum bin ich unterwegs, fange ich an zu schwitzen. Und wenn mittags die Sonne rauskommt, dann reicht fast ein T-Shirt. Abends dagegen wird es schnell wieder kühl.

Das ist mein Herbstgefühl: Ich ziehe mich dauernd an und um. Zwiebellook ist deshalb angesagt. Ein paar dünne Sachen übereinander. So kann ich jede Tageszeit genießen.

Zwiebellook. Ein Bild für das Leben. An vielen Tagen reicht es, wenn ich, bildlich gesprochen, dünn angezogen bin. Wenn alles glatt läuft. Mir alle wohlgesonnen sind. Wenn mich ein warmes Gefühl durchströmt: Ein nettes Gespräch mit der Kollegin, meine Lieblingslimo ist im Supermarkt runtergesetzt, alle Ampeln stehen auf grün. Dann brauche ich weder ein dickes Fell noch Schutzschichten auf der Seele.

Aber es gibt auch andere Tage. Da bläst mir der Wind ins Gesicht. Ich mache Fehler auf der Arbeit, vergesse einen Geburtstag, werde zu Unrecht angemeckert, bin ich mit dem falschen Fuß aufgestanden. An solchen Tagen, da kann ich ein paar Klamotten mehr gebrauchen. Da muss ich mich wappnen.

Deshalb ist der Herbst meine Jahreszeit. Weil er ein bisschen so ist, wie mein Leben. Denn ich trage tagein, tagaus Zwiebellook. Bei meiner Familie, da bin ich leichtangezogen. Bin verletztlich, kann Schwäche zugeben, kann über meine Zweifel sprechen, meine Angst. Unterwegs, da ziehe ich ein paar Lagen über. Auf der Straße, im Zug, da begegnen mir wildfremde Leute. Oft genug weiß ich nicht, wie die drauf sind. Wie die reagieren. Da sorge ich für ein bisschen Abstand zwischen mir und den anderen. Je nach Situation hat der Zwiebellook, den ich trage, mal mehr, mal weniger Schichten.

Genauso wie jetzt, im Herbst.

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