Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

20SEP2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wie weit geht man? Wie weit soll man gehen, kann man gehen, muss man gehen? Wenn einer immer weniger zu dem in der Lage ist, was er sein Leben lang getan hat. Wie viel davon will man dem Partner zumuten? Wie weit erträgt man das, jeden Tag mehr zu spüren, dass man die Kontrolle über das eigene Leben verliert?

Als Pfarrer habe ich mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun, die eine Not mit sich herumtragen. Und immer wieder komme ich zu älteren Paaren, die schon lange miteinander durchs Leben gehen. Mir davon erzählen, dass bei einem die Kräfte so spürbar nachgelassen haben, dass es zum Problem wird. Meistens für den Stärkeren, Gesünderen der beiden mehr als für den, der sich langsam aus der Welt zurückzieht. Oft sind es die Männer, die ihre Selbständigkeit einbüßen. Ich sitze dann da und sehe, wie schwer das für die Frau ist. Den Ehemann so zu sehen, so gebrechlich, wie er oft gar nicht mehr der ist, der er mal war. Und ich merke, dass sie diese Frage mit sich herumtragen, auch wenn sie sich oft nicht trauen, sie auszusprechen: Wie weit halten wir das noch aus? Als Paar übernimmt der eine schließlich Verantwortung für den anderen. Dann wird dieses „Wie weit?“ zur Gewissensfrage, verbunden mit Schuldgefühlen und der Angst, in seiner Liebe zu versagen. Aber was, wenn man mit der Zeit an seine eigenen Grenzen kommt? Wenn man plötzlich die ist, die stärker ist, die jeden Tag für zwei denken muss, die alles allein erledigt, was früher gemeinsam gemeistert worden ist.

Verantwortung hat immer zwei Seiten. Wer Verantwortung für andere übernimmt, hat auch Verantwortung für sich selbst. Das hat mit Egoismus nichts zu tun. Ich kann nur so lange etwas geben, wie ich dazu in der Lage bin. Ich darf mich selbst nicht aufgeben. Ich bin nicht nur die Partnerin. Ich bin immer auch ich selbst. Und nur wenn diese zwei Seiten ausgelotet sind, funktioniert Verantwortung. Es ist gut, wenn man sich rechtzeitig darüber Gedanken macht, wie weit man gehen will. Wie viele Therapien, wenn es keine Aussicht auf Heilung gibt; wie viele lebensverlängernde Maßnahmen bei einem schlimmen Unfall. Und auf der anderen Seite wie lange man sich vorstellen kann, den Partner zu pflegen und sein Leben darauf einzustellen. Es hilft, wenn man das bespricht, solange beide gesund sind, geistig dazu in der Lage. Es ist ein Vorteil, wenn man sich in groben Zügen darüber im Klaren ist, wie weit man gehen will, wenn es dann so weit ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38409
weiterlesen...