SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

10SEP2023
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Du sollst den Nächsten lieben …

Ich sitze schon im Zug, da steigt noch schnell ein Mann ein. Er spricht eine Passagierin an. Die Frau scheint ihn nicht zu verstehen. Da holt der Mann sein Handy aus der Tasche. Spricht rein. Zeigt das Display der Frau. Ich bin neugierig und sehe: Der Mann nutzt ein Übersetzungsprogramm. Die Frau versteht: Der Mann fragt nach seinem Zielbahnhof. Sie nickt. Ja, er kann diesen Zug benutzen. Und sie gibt ihm zu verstehen. Ich sage ihnen, wann ihr Bahnhof kommt. Drei Stationen weiter zeigt die Frau auf den Eingang. Der Mann blickt sie fragend an, sie nickt. Er steigt aus, dreht sich in der Tür kurz um. Lächelt die Frau an – und bedankt sich, ganz ohne Worte. Seine Augen sagen „Danke“.

Da ist ein Mensch, der Hilfe braucht. Und ein anderer Mensch, der hilft. So einfach geht das, denke ich mir. Mit der Nächstenliebe. Zugegeben, Nächstenliebe, das hört sich etwas altbacken an, hat einen moralischen Unterton. „Du sollst deinen Nächsten lieben“, heißt es ja auch. Dabei geht es um eine großartige Menschheitserfindung. Dass Menschen in der Lage sind, einem anderen Menschen mit Respekt zu begegnen. Einem anderen Menschen Würde zuzusprechen. Und das unabhängig von Sympathie, Herkunft, Sprache, Geschlecht, Hautfarbe oder Ansichten. Nächstenliebe heißt: Ich setze mich für den anderen ein, damit es ihm gut geht.

Nächstenliebe ist auch deshalb ein zentrales Erkennungszeichen des Christentums. Leider oft genug nur theoretisch. In der Geschichte des Christentums gibt es genug Beispiele dafür, dass die Nächsten nicht geliebt wurden. Verfolgung und Unterdrückung Andersdenkender und Andersglaubender gehören auch zum Repertoire christlicher Religion.

Doch ein Blick in die biblischen Erzählungen, der Grundlagen des christlichen Glaubens, macht deutlich: In seinem Tun und Reden geht es Jesus vor allem darum, dass der andere Mensch in den Blick gerät – mit seinen Sorgen und Wünschen, seinen Verwundungen und Handicaps, seiner Suche nach Sinn und Glück. Deshalb tritt Jesus in Kontakt mit Armen und Kranken, mit Lahmen und Blinden, mit Suchenden und Fragenden. Nächstenliebe heißt hier: Verbindung zum anderen aufbauen, Beziehung eingehen. Und Jesus macht so deutlich, dass die Nähe eines Menschen gesund machen kann, glücklich machen kann, das Leben leichter macht.

Nächstenliebe heißt konkret: Menschen, die in mein Sichtfeld treten, wahrzunehmen. So wie die Frau, die dem Mann hilft, am richtigen Bahnhof auszusteigen.

… wie dich selbst

Das Christentum ist eigentlich eine ganz einfache Religion. Es geht um die Liebe. Andere Menschen und sich selbst zu lieben. Mehr braucht es nicht, um eine Christin oder ein Christ zu sein. Darum geht es heute in den Sonntagsgedanken in SWR 4.

Das Christentum gilt als Religion der Nächstenliebe. Dabei wurde aber oft vergessen: Der Satz geht weiter. Komplett heißt er: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Die Selbstliebe, die wurde oft genug unter den Teppich gekehrt. Denn Selbstliebe, das klingt für viele nach Egoismus, nach Rücksichtslosigkeit. Aber das Gegenteil ist der Fall. Bei der Selbstliebe geht es erst einmal darum, sich selbst anzunehmen. Und dann ist sie die Basis für Nächstenliebe.

Selbstliebe ist manchmal schwer. Ich sehe bei mir selbst oft genug nur das, was nicht gelingt. Sehe meine Fehler und Macken. Das, was ich falsch mache. Wo ich versage. Es fällt mir dann schwer, mich selbst zu akzeptieren, mich zu respektieren.

So geht’s vielen anderen auch. Dabei weiß ich: Es ist wichtig, sich selbst anzunehmen. Auch, weil ich kaum liebevoll zu anderen sein kann, wenn ich mich selber nicht schätze. Denn wie soll ich anderen Respekt erweisen, wenn ich respektlos mit mir selbst umgehe?

Aus der Psychologie ist bekannt: Selbstliebe hat einen starken Einfluss auf das Wohlbefinden, auf die psychische Gesundheit, auf die eigene Lebensqualität. Nur aus einem stabilen Ich heraus kann ich mit anderen gut umgehen. Kann Freundschaften schließen und mich für andere engagieren. Mich selbst zu lieben, das hilft mir außerdem, mit stressigen und belastenden Situationen umzugehen. Sie macht mich stabil. Und gerade deshalb macht es mir die Selbstliebe leicht, auf andere zuzugehen.

Selbstliebe und Nächstenliebe, das sind zwei Seiten einer Medaille. Einer Medaille, die Liebe heißt. Beide brauche ich, damit ich gut leben kann. Damit das Leben gelingen kann. Für mich und für die Menschen, die um mich herum sind.

 

 

Zu Röm 13,8-10

Schwestern und Brüder! Niemandem bleibt etwas schuldig, außer der gegenseitigen Liebe! Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren! und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.

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