SWR2 Wort zum Tag

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10AUG2023
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„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ Mit diesem Satz beginnt Thomas Mann seine Nacherzählung der biblischen Josephsgeschichte.  Ich musste an seine Worte denken, als ich letzte Woche die Kathedrale im französischen Chartres besucht habe. Unsere Reisegruppe hatte die Gelegenheit, auch in die Unterkirche hinabzusteigen. Und dort habe ich einen Blick in den mehr als 30 Meter tiefen Brunnenschacht geworfen. So hoch die Kathedrale in die Höhe strebt, so weit reicht sie auch in die Tiefe hinab. Und es ist wie bei vielen anderen Kirchen auch: Sie sind dort errichtet worden, wo sich oft schon in vorchristlicher Zeit ein Heiligtum befunden hat. Die christlichen Baumeister haben es überbaut, und die schiere Größe der Kathedralen, die sie hochgezogen haben, sollte vom Sieg des Christentums über alles künden, was da in den Trümmern unter den hohen Türmen und weiten Räumen begraben lag. Aber wie ich da so stand und in den tiefen Brunnen der Vergangenheit geschaut habe, habe ich es ganz anderes empfunden: Ich habe eine Kraft gespürt, die diesen Ort erhebt.

Schon in biblischen Zeiten galt: Heiligtümer werden nicht von Menschen geschaffen. Sie sind immer schon da und werden nur entdeckt. Jakob erfährt das, der Vater von Joseph: Er ist auf der Flucht, weil er sich mit einem gewaltigen Betrug den Segen seines Vaters erschlichen hat. Zuhause kann er nicht mehr bleiben. Dort ist sein Leben bedroht. Vogelfrei ist er unterwegs, und das fühlt sich überhaupt nicht romantisch an, sondern erbärmlich und gefährlich. Die erste Nacht verbringt er im Freien; den Kopf auf einen Stein gebettet. So hart ist sein Los. Doch dann träumt er von einer Leiter, die von seinem Feldbett aus in den Himmel reicht. Engel wandern sie hinab und hinauf, und von ganz oben hört Jakob Gottes Stimme. „Ich habe dich schon längst gesegnet“, sagt sie, „du hättest dir deine Betrügereien sparen können.“ Als Jakob am nächsten Morgen erwacht, weiß er: „Gott ist an diesem Ort anwesend, und ich wusste es nicht.« Und er nennt den Ort Bet-El, das heißt: Haus Gottes. Er hat ein Heiligtum entdeckt.

Und das mag nun auch für den uralten Quellort in Chartres gelten, in dessen Kathedrale so viel menschliche Kunst und Arbeit verbaut ist: Schon vor dem ersten Spatenstich war hier gewiss ein Haus Gottes und ein Tor zum Himmel. Wer dafür offen ist, spürt die Kräfte.

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