Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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23JUN2023
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Manchmal tue ich mich schwer, das Leben zu ergreifen. Ich fürchte manchmal, das Wichtigste zu verpassen, meine Zeit zu verschwenden statt etwas wirklich tolles zu machen: Große Reisen statt Baggersee – Karrieresprung statt alten Trott… Bin ich zu zurückhaltend? Lasse ich mich auf zu wenig ein? Bräuchte ich nicht etwas mehr Abenteuer?

Dieses ungute Gefühl hatte ich zum ersten Mal als junge Frau, als ich auf ein Gedicht von Erich Fried gestoßen bin. Das Gedicht hat den Titel „Kleines Beispiel“ und es handelt davon, dass man manchmal das Gefühl hat, gar nicht richtig gelebt zu haben.

Auch ungelebtes Leben geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer wie eine Batterie
in einer Taschenlampe

Aber das hilft nicht viel:
Wenn man (sagen wir einmal)
diese Taschenlampe
nach so- und so vielen Jahren anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn Du sie aufmachst
findest Du nur Deine Knochen
und falls Du Pech hast auch diese
schon ganz zerfressen

Da hättest Du genau so gut
leuchten können

Früher habe mich gefragt: Bin ich wie die Taschenlampe in diesem Gedicht? Anstatt zu leuchten und mich selbst bemerkbar zu machen, bin ich nicht viel zu zurückhaltend. Ich hatte große Pläne. Die habe ich dann vor mir hergeschoben… am Ende ist nie etwas daraus geworden. Hat mein Leben nie geleuchtet - und trotzdem sind die Batterien jetzt leer und ausgelaugt?

Manchmal denke ich das immer noch. Aber dann merke ich zum Glück auch: Mein Leben muss nicht außergewöhnlich oder spektakulär sein. Was mein Leben bisher zum Leuchten gebracht hat, das waren ganz alltägliche Dinge: Als ich meinen Schulabschluss geschafft habe. Die Freunde, die mich im Leben begleiten. Etwas ganz Besonderes war die Geburt meiner beiden Nichten. Und ich habe vor Stolz geleuchtet, als ich einer Freundin einen Rat geben konnte, der wirklich geholfen hat.

Heute weiß ich, wie wichtig es ist, das nicht zu übersehen. Meine Tage sind nur dann ungelebt vertan, wenn ich nichts davon bemerke und mir die Freude daran entgehen lasse. Und alten Plänen ewig hinterher zu laufen, ist wirklich Energieverschwendung. Die nutze ich lieber, um weiter zu leuchten.

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