SWR4 Sonntagsgedanken

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18JUN2023
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Nächstenliebe

„Die Liebe.“ Das hat der Dalai Lama einmal auf die Frage geantwortet, was der Grundgedanke aller Religionen ist. Und er sagt auch, warum. Weil alle Religionen das Engagement für den anderen Menschen kennen. Nächstenliebe heißt das im Christentum. Ist aber auch in allen anderen Religionen bekannt.

Nächstenliebe ist mehr als nur ein Lippenbekenntnis: Es gibt so viele großartige Frauen und Männer, die sich aus ihrem Glauben heraus für andere einsetzen. Die sich um Kinder kümmern, die in einem Steinbruch in Kenia arbeiten. Die philippinische Familien bei der Vermarktung ihrer ökologisch angebauten Mangos unterstützen. Die Geflüchtete aus Syrien oder der Ukraine bei sich wohnen lassen. Die für die kranke Nachbarin einkaufen gehen.

Der Dalai Lama sagt: Liebe zu fördern, das ist menschlich. Und damit auch Kennzeichen von Religionen. Großzügigkeit anderen Menschen gegenüber ist uns wichtiger als Gemeinheit. Jeder Mensch will lieber tolerant und respektvoll behandelt werden als engstirnig und feindselig.

In einem biblischen Text wird erzählt, wie Jesus seine Jünger, seine Freunde zu sich ruft. Er gibt ihnen einen eindeutigen Auftrag: Macht Menschen gesund, macht sie heil an Leib und Seele. Jesus formuliert das so: „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ (Mt 10,8) Krankheiten sind immer schon vor allem eins gewesen: Sie führen dazu, dass Menschen aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden. Sie werden versteckt, abgeschoben, niemand will mit ihnen zu tun haben. Damals und auch heute.

Der Auftrag Jesu lässt sich deshalb als Liebesauftrag lesen: Es geht weniger um irgendwelche Wunderheilungen. Es geht vielmehr darum, dass Menschen Zuwendung und Kontakt bekommen, dass sie Gemeinschaft erleben können, dass sie wieder am Leben aller teilhaben. Das heißt: Heil werden. Und das ist eines der zentralen Ziele von Liebe, von Nächstenliebe. Den anderen Menschen wieder Mensch-werden-lassen. Das ist das eigentliche Wunder in den Heilungs- und Auferweckungsgeschichten der Bibel. Dass sich Menschen geliebt fühlen und selbst lieben können. 

Ich will, dass du bist

An der Innentüre einer Kirche lese ich einen Satz, der mich seitdem begleitet: „Ich will, dass du bist“. Ein simpler Satz. Er stammt von Augustinus. Einem der wichtigsten christlichen Theologen aus dem 4. Jahrhundert.

„Ich will, dass du bist“. Ich lese den Satz als Liebeserklärung. Ganz menschlich: Wenn ich jemanden liebe, dann will ich den Menschen so, wie er oder sie ist. Ohne Abstriche. Ohne Forderungen. Ohne „Du musst das“ oder „Das darfst du nicht“ oder „Sei anders“. Liebe ist bedingungslos.

„Ich will, dass du bist“. Augustinus denkt bei diesem Satz an Gott. Gott, so der Theologe, ruft jeden Menschen ins Leben. Nimmt jeden Menschen an – ohne Vorleistung oder Vorbedingung. Das ist die zentrale christliche Botschaft: Du darfst sein, so wie du bist. Kein Wunder. Wenn der Mensch das Ebenbild Gottes ist – warum sollte er dann anders sein müssen?

Ein Beispiel für diese Bedingungslosigkeit der Liebe finde ich in einem biblischen Text. Da wird erzählt, wie die Freunde Jesu einen Auftrag bekommen. Sie sollen losziehen, von ihrem Glauben erzählen, Menschen heilen. Bevor die zwölf Jünger aber aufbrechen, wird erst einmal erzählt, wer sie sind. Sie werden bei ihrem Namen genannt. Simon und sein Bruder Andreas, Jakobus und Johannes, Philippus und Bartholomäus und so weiter. Jeder einzelne wird vorgestellt. Nur mit ihrem Namen. Was sie können oder gelernt haben, ob sie Kinder haben und welchen Beruf, das spielt keine Rolle. So wie wir unsere Kinder nach der Geburt angesprochen haben. Mit ihrem Namen. Gesagt haben: Es ist gut, dass du bist.

„Ich will, dass du bist“. Das ist für mich die Kernbotschaft des christlichen Glaubens. Dass ich sein darf. Und anderen sagen kann: Ich will, dass du bist. Dass du so bist, wie du bist. Glauben ist eine Liebeserklärung an das Leben, an jeden Menschen, an alles, was einen Namen trägt.

 

Zu Mt 9,36 – 10,8

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37841
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