SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

27MRZ2022
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Meine Eltern gehören zur Generation der Kriegskinder. Jahrgang 1938 und 39 haben sie ihre ganze Kindheit in Kriegszeiten zugebracht. Als Erwachsene haben sie nicht im Traum daran gedacht, dass es in Europa noch einmal so einen Krieg geben würde, wie wir ihn gerade in der Ukraine verfolgen müssen. Aber nun kommt alles wieder hoch. Bei meinem Vater die traumatischen Erlebnisse seiner Flucht, bei meiner Mutter die Nächte im Luftschutzkeller. Bei beiden die Angst. Auch die Angst ihrer Eltern, die sich auf die Kinder übertragen hat. Denn Kinder spüren ganz genau, was ihre Eltern bewegt, auch wenn darüber nicht gesprochen wird. Was tröstet ein Kind im Krieg? Ein Kind in Todesangst? Ein Kind mit Lebensangst? Die Schauspielerin Senta Berger, ebenfalls ein Kriegskind, Jahrgang 1941, erinnert sich. Sie erzählt: „Damals saßen wir sehr oft im Luftschutzkeller. Dort waren die Leute fast hysterisch vor Angst. Wenn dann noch ein Kind angefangen hat zu schreien, hat das die anderen völlig an den Rand der Belastbarkeit gebracht. Aber meine Mutter hat alles dafür getan, dass ich keine Angst habe, nicht weine und ruhig bleibe.“ Wie sie das geschafft hat? Sentas Mutter hat immer Bücher mitgenommen. Und hat ihrer Tochter vorgelesen. So ist es ihr gelungen, die kleine Senta in eine andere Welt zu versetzen, in der die Schrecken des Krieges für eine Weile außen vor geblieben sind.

Ach, die Mütter! Seit je her sind sie die großen Meisterinnen im Trösten. Kein Wunder, dass selbst Gott kein anderer Vergleich einfällt, wenn er einmal zu seinem kriegsgeplagten Volk sagt: „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet.“ Mütterliche Wärme und Geborgenheit- in diesem Schutzraum kann sich wohl jeder Mensch getröstet fühlen. Und so stelle ich mir vor, dass Gott gerade in einer U-Bahn-Station in Kiew sitzt, in einem Theater in Mariupol oder in einem verbarrikadierten Haus in Charkiw und Kinderbücher vorliest. Zutrauen würde ich es ihm allemal. So wie der Apostel Paulus, der diesen mütterlichen Gott einmal den Gott allen Trostes genannt hat. Das schreibt er am Anfang eines Briefes an die Gemeinde in Korinth, der heute in vielen evangelischen Gottesdiensten ausgelegt wird. Paulus lässt mit wenigen Worten einen wahren Trostregen auf die Menschen niedergehen. In seinen Sätzen kommt kein anderes Wort so häufig vor wie Trost, trösten oder getröstet werden. So einen frühlingswarmen Trostregen brauchen wir. Als Menschen, für die der Krieg für immer der Vergangenheit anzugehören schien. Und als Menschen, für die er nun bittere Gegenwart geworden ist.

 

Heute regnet es Trost in Worten. Aus einem Brief, den der Apostel Paulus an Menschen in Not geschrieben hat. Dort vergleicht er das Leid, dem Menschen manchmal ausgesetzt sind, mit der Leidensgeschichte, die Jesus durchlebt hat. In der Passionszeit vor Ostern denken Christen in ihren Gottesdiensten traditionell darüber nach, was es bedeutet, wenn selbst ein Mensch, der Gott so nahe gewesen ist wie Jesus, leiden musste. Und warum Menschen heute immer noch unschuldig leiden müssen. Dazu schreibt Paulus: „Wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.“ Und: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er ist der der Gott, bei dem wir Trost finden. Er tröstet uns in all unserer Not. Und so können auch wir andere Menschen in ihrer Not trösten. Wir selbst haben ja durch Gott Trost erfahren.“

In diesen Sätzen tut sich ein wunderbarer Trostkreislauf auf: Getröstete Menschen können andere trösten oder, wie es so schön heißt, sie können Trost spenden. Und dazu gibt es gerade so viele Möglichkeiten: Geldspenden, Sachspenden, Zeitspenden, Kreativspenden. Ich bin überwältigt, wieviel Hilfsbereitschaft in den vergangenen Wochen im ganzen Land ausgebrochen ist. Und ich glaube, sie hat etwas damit zu tun, was die einstigen Kriegskinder aus Deutschland früher selbst erlebt haben. Denn bei ihnen kommt nicht nur die Angst wieder hoch, sondern auch das, was die Angst damals vertrieben hat. Jetzt wollen sie dabei mithelfen, dass sich diese Angst nie wieder in die Seele von Kindern frisst und dort ein Menschenleben lang verstört. Menschen sollen getröstet werden.

Eine besondere Trostspende hat sich Natalia Banakh ausgedacht. Die Ukrainerin lebt seit vielen Jahren in Hamburg und betreibt dort zusammen mit ihrem deutschen Mann eine Buchhandlung. Jetzt hat sie mit der Vertreterin ihres Buch-Großhändlers darüber nachgedacht, wie sie an eine große Menge ukrainischer Kinderbücher kommt. Ihre Schwester will diese Bücher dann persönlich in die Kriegsgebiete bringen. Und so könnte sich das Trostbild von damals bald wiederholen: Mütter lesen ihren Kindern während eines russischen Bombenangriffs Bücher vor. Und vertreiben so die Angst. Ich glaube, dass in dieser Geste, wie in jeder anderen guten Idee und guten Tat etwas von Gottes mütterlichem Trost spürbar wird. Und ich wünsche mir, dass auf diese Weise der große Kreislauf des Tröstens niemals unterbrochen wird.

Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Martina Steinbrecher von der evangelischen Kirche aus Karlsruhe

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35089
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