SWR2 Wort zum Tag

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21MRZ2022
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Eine mutige Frau hat es vorgemacht: Wie man aus einem Schimpfwort ein Kompliment macht und dabei von einer Bürdenträgerin zu einer Würdenträgerin wird. Ihre Geschichte steht in der Bibel: Da wird erzählt, wie sich die Frau an Jesus wendet. Sie bittet um Hilfe für ihre kranke Tochter. Aber Jesus fertigt sie barsch ab und begründet das damit, dass er für Ausländerinnen nicht zuständig sei. Wörtlich sagt er zu ihr: „Es ist nicht richtig, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“ Mir stockt jedes Mal der Atem, wenn ich höre, wie Jesus die Frau mit einem räudigen Straßenköter vergleicht. Die lässt sich aber nicht einschüchtern und antwortet schlagfertig: „Ja, Herr! Aber die Hunde fressen doch die Krümel, die vom Tisch ihrer Herren herunterfallen.“ Genial! Sie greift die Beleidigung einfach auf und schlägt den Angreifer mit seiner eigenen Waffe: In deinen Augen mag ich ein Hund sein. Aber auch der hat seine Würde! Und auf der bestehe ich jetzt.

Ich bewundere diese Frau. Und denke, sie muss wohl das Vorbild von Dora gewesen sein, von der ich in der Zeitung gelesen habe. Dora lebt in Bolivien. Sie ist eine Cholita, so werden die Nachkommen indigener und spanischer Vorfahren genannt. Cholita ist ein spanisches Wort und heißt so viel wie Bastard. Wieder so ein niederträchtig gemeintes Wort aus der Hundesprache. Dora wird behandelt wie ein Hund, aber sie fühlt wie ein Mensch. Sie arbeitet als Trägerin und Köchin für bergsteigende Touristen aus aller Welt. Sie verdient nur einen Bruchteil dessen, was die ebenfalls einheimischen Bergführer bekommen. Und sie sagt: „Ich habe immer gesehen, wie die Touristen zum Gipfel aufgebrochen sind und dann voll Freude zurückkamen. Ich habe mich immer gefragt, was ist das für eine Freude, die sie empfinden, ich kenne sie nicht.“ Und dann hat Dora sich etwas getraut. Gemeinsam mit zehn Kolleginnen ist sie im Dezember 2015 aufgebrochen. Statt Funktionskleidung trägt die Frauengruppe stolz die Tracht der Cholitas: einen einfarbigen Rock mit zehn Unterröcken, und darüber ein bunt gewebtes Schultertuch. Nur der traditionelle Hut ist einem Helm auf dem Kopf gewichen und die Füße stecken in festen Bergschuhen. So erklimmen sie schließlich erfolgreich einen Sechstausender. Und Dora spürt: „Auf dem Gipfel ankommen, das ist das Beste und ein Gefühl, das sich nur schwer erklären lässt.“

Dora und ihre Frauen haben die Gruppe „Cholitas Escaladoras de Bolivia“ gegründet. Escaladoras heißt im Spanischen Bergsteigerin. Das alte Schimpfwort Cholitas haben sie übernommen. Sie tragen es stolz. Denn sie sind jetzt escaladoras. Und von Bürdenträgerinnen zu Würdenträgerinnen geworden. Für mich sind sie wahre Gipfelstürmerinnen.

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