SWR2 Wort zum Tag

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08MRZ2022
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Ein kalter Morgen - auf der Höhe lag noch Schnee. Das Wetter war prächtig, der Himmel blau. Ein Spaziergang mit meinem Enkel war angesagt. Der war begeistert. Schnee zieht immer. Also hinauf zur Wurmlinger Kapelle bei Rottenburg. Auf dem Weg zur Kapelle – bergan – ist ein Kreuzweg mit 14 Stationen. So etwas hatte der Vierjährige noch nie gesehen. Er raste voraus - von „Häuschen“ zu „Häuschen“ – wie er die Stationen nannte.
Und er wollte wissen, was da passiert ist. Und warum der mit dem Kreuz auf den Schultern immer wieder „hinplumpst“. Und was die Menschen mit ihm machen. Gut fand er, dass ihm welche geholfen haben: Das Kreuz tragen, ihm ein Schweißtuch gereicht haben, ihn nicht allein gelassen haben. Doch dann kam die 10.te Station: „Die nehmen ihm die Kleider weg!“

Empörung: „Das dürfen die nicht. Schau Opa, die nehmen dem  d a s  Tuch weg, das ihm die Frau geschenkt hat. Das ist genau das Tuch.“ So hatte ich das noch nie so gesehen. Und mit der nächsten Reaktion hatte ich auch gar nicht gerechnet: „Das schauen wir uns nicht mehr an, Opa, gell.“

Im Evangelium ist das eine Station neben anderen auf dem Weg zur Kreuzigung. Sie wird so erzählt, als gehöre sie einfach dazu. Für den Jungen aber war das unerträglich: „Das will ich nicht noch einmal sehen!“

Ihm ist intuitiv klar: Wenn Menschen anderen gegen ihren Willen ihre Kleider ausziehen, geht das entschieden zu weit. So sehr, dass er da nicht mehr hinschauen möchte.

Was die Szene in der Passionsgeschichte noch besonders makaber macht: Später heißt, „sie losten um seine Kleider und verteilten sie.“ Die Soldaten, die Jesus kreuzigen, machen damit also noch einen kleinen Nebenverdienst. Wer kriegt die Kleider? Glück im Spiel – per Los – und das unter dem Kreuz!

Sein „Bitte nicht noch einmal anschauen!“, hat mir vor Augen geführt:  Wie unerträglich ist das, wenn Menschen entblößt werden! Wie erniedrigend, wie demütigend!

Man sagt, die Kleidung sei die zweite Haut des Menschen. Sie schützt uns nicht nur vor Kälte und Verletzungen. Auch vor Blicken, vor verletzenden Blicken.

Die 10.te Station auf dem Kreuzweg Jesu erinnert und mahnt: Entblößt niemanden!
Das gilt auch im übertragenen Sinn: Lasst jedem seine Schutzhaut. Lasst jeder ihren Schutzmantel. Stellt niemanden bloß: Nicht mit Gesten – nicht mit Worten. Lasst jedem das, was er oder sie von sich verbergen will.

Wir sind dann weiter gegangen – bis zur Kapelle auf der Höhe. Ich habe noch erzählt, dass die Bösen nicht gewonnen haben. Gott hat Jesus nicht im Stich gelassen. Das hat meinen Enkel erst einmal ein wenig beruhigt.

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