SWR2 Wort zum Tag

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30DEZ2021
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Geboren 1968. Benjamin ist mein Jahrgang. Aufgewachsen ist er mit seinen Geschwistern in einer großbürgerlichen Familie in Frankfurt am Main. Begegnet sind wir uns noch nie. Wenn wir uns früher über den Weg gelaufen wären, hätten wir uns womöglich nicht viel zu sagen gehabt. Was uns verbindet, sind dieselben Fragen. Das Interesse an den großen Fragen des Lebens: Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Schon mit elf Jahren hat Ben sich darüber Gedanken gemacht: „Es war eine kindlich-philosophische Fragestellung“, sagt er: „Alles besteht aus kleinen Teilchen. Und die Chemiker verstehen, wie diese Teilchen sich verhalten. Also müsste man als Chemiker doch alles begreifen, warum es die Welt gibt und wie sie sich verändert. Warum es Menschen gibt und wie sie ticken.“

Benjamin hat mit denselben Fragen im Kopf wie ich Chemie studiert. Irgendwann hat er sich auf die organische Chemie spezialisiert und sich mit Kohlen- und Wasserstoffen beschäftigt. Chemie habe ich in der Oberstufe gleich mal abgewählt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass mich die naturwissenschaftlichen Fächer irgendwie weiterbringen könnten. Antworten auf meine Fragen habe ich bei den Philosophen und Theologen gesucht, bei Dichtern und Denkern. Heute bedaure ich diesen geisteswissenschaftlichen Tunnelblick und wüsste gern mehr von anderen Fachrichtungen. Und dann bin ich vor einigen Wochen auf Benjamin gestoßen. Von ihm habe ich gelernt: „Ein Kohlestoffatom geht bis zu vier stabile Verbindungen mit anderen Atomen ein, kann sich aber auch mit seinesgleichen verknüpfen. Das prädestiniert den Kohlenstoff für das Leben.“

Prädestiniert für das Leben! Ich bin verblüfft, wie wir auf völlig unterschiedlichen Wegen zu demselben Ergebnis gekommen sind: Voraussetzung des Lebens sind stabile Verbindungen. Der Chemiker sagt: Ein Atom, das keine Verbindungen mit anderen Elementen oder mit seinesgleichen eingehen kann, kann nicht Grundstoff des Lebens werden. Die Theologin sagt: Ein Mensch, der keine Beziehungen mit anderen Lebewesen oder mit seinesgleichen eingeht, wird verkümmern. So lebensnotwendig wie Wasser und Brot sind menschliche Kontakte. Leben ist immer Leben in Beziehung, vom kleinsten Teilchen, aus dem wir gemacht sind, bis zu dem komplexen Organismus, der am Ende einen Menschen ausmacht.

Leben ist Leben in Verbindung mit sich selbst, mit anderen Lebewesen, in Verbindung mit Gott. Letzteres würde Benjamin List vielleicht bestreiten. Vor wenigen Wochen hat er den Nobelpreis für Chemie bekommen. Für ein Experiment, dem ich nicht so leicht folgen kann. Aber unseren gemeinsamen Grundgedanken spinne ich gerne fort: Vielleicht existiert ja auch Gott, weil er nicht für sich selbst Gott sein will, sondern stabile Beziehungen eingeht – mit uns Menschen.

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