SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

26DEZ2021
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Mein Opa hatte ein Kino. Über dem großen Kinosaal war das Dach nicht ausgebaut, sondern es gab nur eine Balkendecke, die mit Stoffbahnen abgehangen war. Mein Opa nahm mich als kleines Mädchen mit hoch. Er sagte: „Du musst keine Angst haben! Du kannst über die Balken drüber gehen, du musst nur aufpassen!“

An Weihnachten denke ich immer an diese Worte. Nämlich dann, wenn ich in der Kirche den Satz der Engel höre: „Fürchtet euch nicht!“

Der Satz gibt mir Zuversicht und Rückhalt. Dabei bedeutet er für mich nicht „alles wird gut“. Aus meinem eigenen Leben und meinem Freundeskreis weiß ich: das Leben läuft nicht immer geradeaus. Angesichts von schlimmen Erkrankungen und plötzlichen Todesfällen, mit denen ich bei Beerdigungen immer wieder konfrontiert bin, wäre es zynisch, zu behaupten: hier auf der Welt wird immer alles gut. Aber ich habe eine Hoffnung, die darüber hinaus geht. Ich glaube, dass der Satz „Fürchtet euch nicht!“ richtig ist.

Und besonders in diesen Pandemiezeiten tut es mir gut, ihn zu hören. Gerade weil ich mir seit anderthalb Jahren manchmal Sorgen mache. Aber ich steh der Situation nicht allein gegenüber. Ich bin vor allem dankbar für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und deren Forschung. Dank ihrer Leitlinien und Entwicklungen können wir alle gemeinsam gegen das Virus ankämpfen. Und vor allem die Impfstoffe sind der Rettungsanker, um irgendwie wieder Normalität zu erlangen.

Aber der Satz „Fürchtet euch nicht“ wird auch missbraucht – quasi als Freifahrtschein. Als könnte ich tun und lassen, was ich will, Gott wird es schon richten. Dabei muss ich selber entscheiden und handeln. Ich kann die Verantwortung nicht an Gott abtreten. Daher gehört für mich immer die Ergänzung meines Opas hinzu: „Aber du musst aufpassen!“ Das heißt: Ich muss verantwortlich handeln. Das ist oft nicht leicht, weil die Welt unübersichtlich ist und es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen gibt.

Auf dem Dachboden des Kinos bin ich dann tatsächlich damals über die Balken gegangen. Erst etwas unsicher, dann aber immer zuversichtlicher und sicherer. Und bis heute denke ich an meinen Opa, der sagte: „Du musst keine Angst haben!“ und zwar besonders dann, wenn ich an Weihnachten den Satz höre „Fürchtet euch nicht!“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34534
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