SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

26SEP2021
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Haben Sie schon gewählt? Oder liegen Ihre Wahlunterlagen so wie bei mir noch neben dem Frühstückstisch und warten auf den Sonntagsspaziergang mit einem kleinen Abstecher zum Wahllokal? Oder nehmen Sie gar nicht an der Bundestagswahl teil, weil Sie wie mein Nachbar der Meinung sind, dass sich sowieso nichts ändern wird im Land, ganz egal, an welcher Stelle Sie Ihre Kreuzchen machen? Es ist aber auch nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen. In unserer komplizierten Welt wird es wahrscheinlich sogar immer schwieriger, eine gute Wahl zu treffen. Das Ergebnis einer Umfrage hat mich dann aber doch überrascht: Nur ein Prozent aller Wahlberechtigten beschäftigen sich im Vorfeld einer Wahl mit Parteiprogrammen. Ein Prozent! Ich weiß noch, wie das war, als ich zum ersten Mal wählen durfte. Da habe ich mir von allen Parteien, großen wie kleinen, ihre Wahlprogramme zuschicken lassen. Dicke Umschläge habe ich aus dem Briefkasten gezogen. Wahrscheinlich habe ich das ganze Papier nicht von vorne bis hinten durchgearbeitet, aber einen Überblick verschafft habe ich mir schon. Das ist freilich lange her. Im Lauf der Zeit war mir irgendwann klar, welche Partei meine eigenen Überzeugungen am ehesten vertritt. Und deswegen habe ich auch schon lange keine Parteiprogramme mehr studiert. Vielleicht ist es also gar nicht so ungewöhnlich, zu diesen 99% zu gehören.

Richtig verblüfft hat mich allerdings der Kommentar eines bekannten Spitzenpolitikers. Der hat in einem Interview gesagt: „Ein Prozent aller Wahlberechtigten lesen Parteiprogramme? Das finde ich eine überraschend hohe Zahl“. Und seine Begründung lautet: „Menschen werden von Menschen überzeugt, berührt, begeistert oder eben auch enttäuscht. Und das ist auch gut so. Sonst könnten wir uns ja gleich von programmierten Robotern oder Wahlomaten regieren lassen. Am Anfang steht eine Person. Ein Mensch. Die Botschaft kommt erst an zweiter Stelle.“ Das kenne ich auch aus meiner eigenen Arbeit in verschiedenen Kirchengemeinden. Viele engagierte Menschen habe ich da kennengelernt. Jetzt frage ich mich: Wie viele von denen haben wohl die Bibel von vorne bis hinten gelesen? Oder kennen die Bekenntnisschriften ihrer Landeskirche? Auch ein Prozent? Oder wäre das auch eine überraschend hohe Zahl? Aber ihren Pfarrer, den finden sie pfiffig, die Kindergottesdienstmitarbeiterin mitreißend, den Chorleiter charismatisch. Oder eben langweilig, weltfremd, abgehoben. Ein Mensch, der mir sympathisch ist, mich begeistern kann oder zum Nachdenken bringt, dem höre ich gerne zu. Und vielleicht kaufe ich ihm dann auch seine Botschaft ab.  

Menschen werden durch Menschen gewonnen, behauptet ein Spitzenpolitiker, nicht durch Parteiprogramme. Das war auch schon vor 2000 Jahren so. In der römischen Provinz Galiläa gab es natürlich keine demokratischen Wahlen. Aber viele Leute, die unterschiedliche Ideen hatten, wie man das Land von der römischen Besatzungsmacht befreien könnte. Das war damals die politische Frage Nummer eins. An Straßenecken und auf Plätzen haben verschiedene Kandidaten lautstark für ihre Überzeugungen geworben. Auch Jesus hat dazu gehört. Zu denen, die einem Hoffnung auf veränderte Verhältnisse gemacht haben. Dass endlich auch die Benachteiligten gesehen werden und Rechte bekommen. Dass die Reichen etwas von ihrem Wohlstand abgeben zugunsten der Ärmeren. Dass der große Frieden zwischen den Völkern in den zwischenmenschlichen Beziehungen anfängt. Dafür hat er geworben.

Aber nicht mit Flyern an einem Marktstand in seinem Heimatwahlkreis Nazareth. Stattdessen berichtet die Bibel Folgendes: Auf ein paar Fischer am See Genezareth ist Jesus zugegangen und hat zu ihnen gesagt: Folgt mir nach! Die Reaktion ist erstaunlich. Im nächsten Satz heißt es nämlich: „Und sie verließen alles und folgten ihm nach.“ Diesem Menschen, nicht seinem Programm. Von dem hatten sie vielleicht noch gar nicht so viel mitgekriegt. Haben erst im Zusammensein mit Jesus erlebt, wie es ist, wenn Menschen tatsächlich satt werden an Leib und Seele, wenn ein Ausgestoßener in die Gemeinschaft zurückgeholt wird oder eine Frau vor der Vollstreckung eines Todesurteils bewahrt wird. Am Anfang steht da der Mensch Jesus. Er war glaubwürdig. Sie haben ihm vertraut.

Menschen werden durch Menschen gewonnen. Damals wie heute. Wenn das so ist, dann wächst mein Respekt vor den Frauen und Männern, die sich heute zur Wahl stellen. Denn sie haben nicht nur ein Programm, für das sie werben, sie verkörpern es. Sie stehen dafür ein mit Leib und Seele. Und werden daran gemessen. Nicht selten auch übel beschimpft. An Stammtischen und im Netz. Ohne Fehl und Tadel sind sie nicht. Es sind Menschen. Ich hoffe, es macht ihnen Mut, wenn sie hören, was Jesus einmal gesagt hat: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt. Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch auf den Weg macht und Frucht bringt.“ Dazu sind sie doch angetreten. Dafür stellen sie sich heute zur Wahl. Um sich auf den Weg zu machen. Und etwas zu tun, das Ergebnisse hervorbringt. Gute Früchte, wie Jesus das nennt. Machen auch Sie sich heute auf den Weg. Zum Wählen. Ich wünsche Ihnen eine gute Wahl. Vor allem aber einen gesegneten Sonntag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33965
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