SWR4 Sonntagsgedanken

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13JUN2021
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Was von selbst passiert

„Ich.“ Wenn kleine Kinder dieses Wort sagen können, ist die Welt eine andere. Jetzt können sie deutlich machen, was sie wollen oder eben auch nicht. Oft genug reicht dafür dieses eine Wort. Das Kind zeigt auf etwas und sagt „ich“. Und allen ist klar, dass das Kind da etwas haben will. „Ich“, das ist das Wort, mit dem ein Kind deutlich macht: Ich weiß um mich, ich nable mich von den Eltern ab, ich habe eigene Interessen. Wer „ich“ sagen kann, der ist eine eigene Welt; kann für sich sprechen. „Ich“ zu sagen, das ist ein Ausdruck von Selbst-Sein. „Ich“, das macht frei von dem, was andere wollen, denken oder sagen.

„Ich.“ Das Wort markiert aber auch das Gegenteil von Freiheit. In unserer Gesellschaft heute ist klar: Ich bin gezwungen, alles selbst zu machen. Muss mich entscheiden. Beruf, Familie, Wohnort. Mir ist wenig vorgegeben, ich muss Entscheidungen treffen.

Gerade die Corona-Zeiten machen mir aber auch klar, wie wenig ich beeinflussen kann, wie wenig von mir abhängt. Obwohl ich „ich“ sagen kann, gleitet mir vieles aus den Händen. Ob ich krank werde oder nicht – nicht meine Entscheidung. Ob ich meinen Traumjob ergattere – hängt nicht nur von mir ab. Ob ich bald einen Impftermin bekomme – da kann ich nur hoffen.

Da lebe ich in einer Welt, in der es als das Allerselbstverständlichste gilt, dass ich alles für mich regeln und machen soll. In einer Welt, in der viele glauben, dass alles in ihrer Hand liegt und von ihnen abhängt. Und in dieser Welt werde ich belehrt, dass es manchmal das Beste ist, die Hände in den Schoß zu legen. Sich zurückzuhalten. Zu warten. Auszuharren.

Ich bin in den letzten Wochen viel spazieren gegangen und gewandert. In den kühlen April-, den seltenen sonnigen Mai- und den wunderbaren ersten Junitagen. Ich habe erlebt: Ohne mein Zutun verändert sich die Natur. Im April war der Boden immer noch grau-braun, die Äste nackt, der Wind rüttelte an den Bäumen. Als ich aber letztes Wochenende unterwegs war, habe ich mich richtig befreit gefühlt. Sonne, grüne Wiesen und Blüten auf dem Waldboden. Es kann Großes entstehen, auch wenn ich gar nichts tue, selber gar keinen Einfluss darauf habe. 

Für Morgen handeln

„Ich“ sagen können, das ist wichtig. Und trotzdem passiert Großes, das mich angeht – und bei dem ich nicht beteiligt bin. Darum geht es heute in den Sonntagsgedanken.

Ich gehe durch die Wiesen spazieren und sehe, wie das Getreide schon wieder größer geworden ist. Vor Wochen habe ich den Bauern beobachtet, wie er die Saat ausgebracht hat. Und dann hat er es einfach wachsen gelassen. Gehofft, dass er später eine gute Ernte einfahren kann. In der Zwischenzeit kann der Bauer gar nichts tun. Alles wächst ohne ihn.

Im Wald ist das noch extremer. Getreide, das kann ich ein paar Monate nach der Saat ernten. Ein Baum, der braucht Jahrzehnte um zu wachsen und Früchte zu tragen. Aber auch hier erlebe ich: Der Baum, der Wald, die wachsen ohne mich.

„Ich“ sagen können, das ist wichtig. Auf seine eigenen Kräfte, seine eigenen Entscheidungen setzen genau so. Das Getreide und der Wald sagen mir aber auch: Etwas geschieht ohne dich – und vielleicht ist es sogar erst für die gedacht, die nach dir leben.

Der Begriff Nachhaltigkeit steht dafür. Der ist derzeit in aller Munde. Alles soll nachhaltig sein. Was die wenigsten wissen: Nachhaltigkeit kommt aus der Waldwirtschaft. Schon im Mittelalter entdeckten die Menschen, dass der Wald nicht einfach unbegrenzt da ist. Er muss gehegt und gepflegt werden. Und, was noch viel wichtiger ist: Wald wächst langsam. Wenn ich einen Baum pflanze, kann er erst ein oder zwei Generationen später gefällt und genutzt werden. Ich wiederum kann das Holz nutzen, für das meine Großeltern gesorgt haben. Wer einen Baum pflanzt, der pflanzt ihn für die nächsten Generationen.

Für mich heißt das: Ich muss über mich und meine Welt hinaussehen. Vieles kann erst später Früchte tragen. Vielleicht sogar erst dann, wenn ich gar nicht mehr da bin. Und ich kann auch nur wenig dafür tun, dass zum Beispiel ein Same, den ich irgendwann einmal eingepflanzt habe, aufgeht und viele Jahre später zu einem stattlichen Baum wird.

Das ist wie in meinem Leben. Ob unsere Kinder ihr Leben meistern, glücklich werden – das liegt kaum in meiner Hand. Ob die Lieder, die ich schreibe, in anderen weiterklingen – da kann ich nichts dran machen. Ob es etwas nutzt, wenn ich Fahrrad fahre, statt alles mit dem Auto zu erledigen? Das werde ich kaum erleben.

Ich kann dafür sorgen, dass etwas wachsen kann: Bäume, Menschen, Ideen. Und darauf vertrauen, dass alles wächst und Früchte trägt. Auch ohne mich.

 

 

Evangelium (Mk 4,26-34)

26 In jener Zeit sprach Jesus zu der Menge: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; 27 dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. 28 Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. 29 Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da. 30 Er sagte: Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben? 31 Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät. 32 Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können. 33 Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten. 34 Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.

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