SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

13JUN2021
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Der wunde Punkt – wenn der berührt wird, heißt es vorsichtig sein. Und zwar für beide: für den, der ihn berührt und für den, bei dem er berührt wird. Der, der den wunden Punkt bei jemandem berührt hat muss es erstmal merken. Das ist gar nicht so einfach, denn die meisten Menschen verstecken ihn natürlich, so wie man auch eine körperliche Wunde schützt, mit Pflaster oder einem Verband. Und wie auch da kann man merken, dass ein wunder Punkt bei einem Menschen berührt wurde, wenn er zurückzuckt, sich zurückzieht oder auf einmal ganz still wird. Oder wenn er plötzlich abweisend oder aggressiv wird. Was zwar oft überraschend oder unverständlich für das Gegenüber ist, aber gut für den, der sich so schützt. Denn wunde Punkte sind meistens alte Verletzungen. Und die heilen schwer und vernarben langsam. Und wer hat schon keine? Oft werden die seelischen Wunden in der Kindheit geschlagen oder gar gerissen. Aber auch im späteren Leben kann es Verletzungen geben, die zu wunden Punkten werden: Zurückweisungen, Demütigungen oder Mobbing in Schule, Ausbildung oder Beruf. Und nicht zuletzt in der Liebe: wer liebt, macht sich verletzlich, extrem verletzlich. Wer schon Liebeskummer hatte, oder einen geliebten Menschen verloren hat, weiß wovon ich rede. Oder Eltern, in Sorge um ein Kind, spüren oft eine Art von seelischem Schmerz, der noch schlimmer scheint als der, der nur mit ihrem eigenen Leben zu tun hat. Hier wie dort gibt es nur zwei Heilmittel im Umgang mit wunden Punkten Anderer. Das eine: Abstand wahren. Leicht gesagt, ich weiß, und schwergetan. Aber heilsam, damit man nicht innerlich mitblutet und sich dadurch selbst schwächt. Und das zweite Heilmittel? So einfach wie sprichwörtlich: Zeit. Die zwar nicht alle Wunden heilt. Aber die es braucht, um die Wunden zu schließen. Also nicht in die Menschen dringen durch zu frühes oder zu häufiges Reden. Sondern warten bis sie es können und wollen.
Und die eigenen wunden Punkte? Sie pflegen oder pflegen lassen. Und zwar so wie man es gerade braucht. Durch Reden oder eben genau nicht Reden. Durch Schutz nach Außen und vor allem durch Barmherzigkeit gegenüber einem selbst. Damit das innere Gleichgewicht hergestellt werden kann, das der Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf so treffend beschrieben hat: „… das Herz zu härten für das Leben, es weich zu halten für das Lieben.“

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