Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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22APR2021
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Wieder einmal wird ein ehemaliger SS-Mann angeklagt. Er war in jungen Jahren Wachmann in einem Konzentrationslager. Das Besondere an diesem Fall ist: Der Angeklagte ist 100 Jahre alt, und seine Taten liegen über 75 Jahre zurück.

Muss man einen so alten Mann noch vor Gericht zerren? Soll ein solcher Greis noch ins Gefängnis? Könnte man nach so langer Zeit nicht sagen: „Schwamm drüber“?

Wir haben uns in Deutschland anders entschieden: Mord verjährt nicht. Das Motiv hierfür ist nicht Rachsucht. Sondern weil das Unrecht so schwer wiegt und aus Respekt vor den Opfern soll keiner mit einem Mord davonkommen. Es wäre unerträglich, wenn eine Täterin oder ein Täter nach 20, 30 Jahren sich auf Verjährung berufen könnte und den Kindern des Opfers ins Gesicht lachte.

Trotzdem hätte ich auf den ersten Blick ein ungutes Gefühl dabei, einen Hundertjährigen ins Gefängnis zu stecken. Vielleicht hat er sich ja die 75 Jahre nach seiner Tat gut geführt.

Gerade als Christen können wir selbst eine schwere Schuld nicht ewig nachtragen. Da müssten doch irgendwie Vergebung und Gnade möglich sein. Gottes Barmherzigkeit ist doch größer als die größte Schuld.

Auf den zweiten Blick steht mir der kirchliche Umgang mit Schuld und Vergebung vor Augen. Noch heute gehen viele Katholikinnen und Katholiken zur Beichte, empfangen das Sakrament der Vergebung und Versöhnung. Und dabei ist klar: Grundsätzlich kann hier jede Schuld vergeben werden. Aber am Anfang der Beichte steht immer das Schuldbekenntnis. Das präzise und konkrete Eingeständnis der persönlichen Fehler und des eigenen Versagens. Keine Vergebung ohne Schuldbekenntnis und Reue.

So sehe ich das auch bei Straftaten. Auch wenn sie – wie bei dem SS-Mann – lange zurückliegen. Das Strafurteil stellt die Schuld fest und verhängt die Strafe. Das dient der Gerechtigkeit und respektiert die Opfer. Kein „Schwamm drüber“. Zugleich erleichtert das Urteil auch Vergebung: Wenn das Verfahren den Täter beeindruckt, er zu seiner Schuld steht und die Tat bereut - dann können die Opfer und Angehörigen auch an Vergebung denken. Und auch Gott vergibt dem reumütigen Täter. Ob ein uralter Mensch kurz vor seinem Tod noch ins Gefängnis muss, ist eine andere Frage.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33029
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