SWR2 Wort zum Tag

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04JAN2021
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„Ich sehe dich mit Freuden an/ und kann mich nicht satt sehen;/ und weil ich nun nichts weiter kann, / bleib ich anbetend stehen. / O daß mein Sinn ein Abgrund wär/ und meine Seel ein weites Meer, / daß ich dich möchte fassen.“  So sprechen eindeutig nur Verliebte, förmlich hingerissen -  wie junge Eltern mit ihren Kindern, wie Menschen, die sich heiß lieben. Nicht zu fassen die Lust und Leidenschaft hier: „ich kann nicht genug kriegen von dir“.  Hier singt jemand von seinem Glück, und wohl alle kennen vergleichbare Szenen größter Freude.

Manche von Ihnen haben vermutlich gemerkt, dass es sich um die vierte Strophe eines der schönsten alten Weihnachtslieder handelt – für viele ein Ohrwurm wegen der Melodie Johann Sebastian Bachs: „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben“. Da schaut jemand verliebt auf Jesus, da feiert jemand seine Geburt. „Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts“, notierte in unseren Tagen der Schriftsteller Botho Strauß. Ja, ich bin immer noch im Nachklang zu Weihnachten; ich möchte diese Stimmung ins Neue Jahr hinüberretten. Mit Weihnachten fing ja alles erst an. Und es ist eine wunderbare Idee der Reichenauer Mönche damals gewesen, unseren Kalender nach der Geburt Christi zu zählen. Denn damit kam wirklich Neues in die Welt. 

Der evangelische Pfarrer Paul Gerhardt hat diese Lobeshymne auf den kleinen Jesus in schwierigsten Zeiten gedichtet: 30 Jahre Krieg in Europa, Streit zwischen Lutheranern und Reformierten in Berlin, er selbst ein Opfer des Konflikts, vier seiner fünf Kinder sterben früh, und nach 13 Jahre Ehe war er Witwer. Also kein leichtes Leben, das Gegenteil einer Idylle. Auch wenn Paul Gerhardt das Jesuskind in der Krippe besingt, immer ist schon der erwachsene Jesus im Blick, der sich mutig riskiert und entsprechende Schwierigkeiten bekommt bis zum schrecklichen Tod am Kreuz.

„Ach, dass mein Seel ein Abgrund wär…“. Welche Begeisterung für den Mann aus Nazaret, welch eine Lust zu leben. Das begonnene Jahr ab der Geburt Christi zu zählen, macht tatsächlich Sinn. Es kann diesem Tag Form und Format geben, und dem ganzen Jahr. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32358
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