SWR2 Wort zum Tag

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03DEZ2020
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„Der fremde Blick.“ So hat Navid Kermani seine Dankesrede überschrieben.
Die er vor kurzem in einer Kirche in Bad Homburg gehalten hat. Kermani hat dort den Hölderlinpreis erhalten und in seiner Rede gewissermaßen mit den Augen Friedrich Hölderlins auf unsere Gegenwart gesehen.

Der „fremde Blick.“ Ich denke, Navid Kermani findet, es tut not, dass wir uns mit den fremden, hellsichtigen Augen Hölderlins sehen. Vielleicht kann daraus Rettendes wachsen.

Kermani meint auch aus Hölderlin spreche „ein Heiliger Geist“. Wenn er uns moderne Menschen sieht als „vereinzelt, gebrechlich, entfremdet“.

So heißt es in einem Gedicht von Hölderlin:
Feiern möcht‘ ich, aber wofür? und singen mit Andern
Aber so einsam fehlt jegliches Göttliche mir.
Dies ist’s, mein Gebrechen, ….Daß ich fühllos sitze den Tag…
Und die Pflanze des Felds, und der Vögel Singen mich
trüb macht,

Ach! und nichtig und leer, wie Gefängniswände, der Himmel


Der Himmel leer, das Göttliche fehlt. Die Klage Hölderlins verbindet für Kermani beides: Man kann den gemeinsamen Ursprung aller Geschöpfe nicht mehr spüren, weil viele den Schöpfer „im Himmel“ verloren haben. Und verloren haben wir den Schöpfer, weil wir uns viel mehr selbst als Schöpfer der Wirklichkeit sehen. Durch Wissenschaft und Technik. Da braucht es im Himmel keinen Schöpfer mehr.

Navid Kermani klagt nicht antimodern. Aber kann man drüber wegsehen, was er sagt? „Die …Fortschritte, die die Menschheit seit (Hölderlin) gemacht hat, sind unbestreitbar... Aber wenn wir einmal nicht unsere .. menschliche Entwicklung zum Maßstab nehmen, sondern auf die Pflanzen blicken, auf die Tierwelt, die Meere, die Urwälder, die Luft, die Gletscher, das Polareis, den Boden…. dann ist das winzige Vierteljahrtausend seit ..Hölderlins Geburt eine ..beispiellose Verlust- und Katastrophengeschichte.“ So Navid Kermani.

Sein fremder Blick gehört in diesem Jahr für mich in die Adventszeit. Corona überdeckt so vieles. Sogar die Sehnsucht nach Heilung für die Schöpfung. Dabei ist es an der Zeit, dass Sie und ich mit Kopf und Herz hoffen. Dass der Schöpfung und uns Menschen in ihr wieder gemeinsam wohl wird. Für mich gehört in den Advent 2020 die Sehnsucht, dass Sie und ich uns verwandeln. Damit wir Freund*innen der ganzen Schöpfung werden. Und dass Gott im Himmel uns dafür die Sinne und den Geist gibt. „Eins zu sein mit allem, was lebt“, darin hat Hölderlin unsere göttliche Bestimmung gesehen. Vielleicht hilft es, wenn wir uns diesen fremden Blick zu eigen machen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32158
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