SWR2 Wort zum Tag

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15OKT2020
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Ich spaziere oder radle unheimlich gerne durch den Wald. Es tut einfach gut die frische Luft zu atmen, den Geruch von Moos, Tannen und Erde in der Nase zu haben, die Vögel zwitschern zu hören oder der Stille zu lauschen. Nach so einem Waldspaziergang fühle ich mich wie nach einer Frischzellenkur. Und im Gegensatz zu vielen anderen Wellnessangeboten hat der Waldspaziergang einen Vorteil: Er kostet nichts. 

Das stimmt allerdings nur halb. Gott sei Dank muss ich noch nichts für einen Waldspaziergang bezahlen. Aber wenn ich dabei Müll liegen lasse oder Pflanzen pflücke, wenn ich nervige Insekten totschlage oder das Auto eine Weile auf dem Waldparkplatz laufen lasse, dann richte ich schon einen Schaden an, den man berechnen könnte. 

Wissenschaftler haben immer wieder versucht, einen Preis für die Natur zu errechnen. Zum Beispiel der Münchner Professor und Biochemiker Frederic Vester. Er hat den Geldwert eines Blaukehlchen untersucht. Das Blaukehlchen leistet einiges: Es bekämpft zum Beispiel Schädlinge oder hat eine beruhigende Wirkung auf Menschen wenn es singt. Rechnet man alles zusammen, dann leistet dieser kleine Vogel im Jahr den Gegenwert von gut 150 Euro. Eine Buche erwirtschaftet in ihrem Baumleben gut 250.000 Euro. Sie reinigt die Luft, spendet Schatten und bietet Heimat für ganz viele Kleintiere, ohne die ein Wald nicht überleben würde. 

Bei diesen Rechenspielchen bin ich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite bin ich strikt dagegen, dass die Natur auch noch vom Kapitalismus vereinnahmt wird, indem man jedem Ding einen festgelegten Preis zuordnet. Denn was einen Preis hat, das kann ich auch kaufen, mit dem kann ich handeln. Auf der anderen Seite hilft so eine konkrete Zahl dabei, endlich zu erkennen, wie viel die Natur ganz konkret wert ist, was sie leistet. Denn noch bezahlt niemand dafür, wenn er die Luft verpestet, Insekten oder Pflanzen ausrottet oder Regenwürmer zu asphaltiert. 

Man hat untersucht, dass keine der 20 größten Wirtschaftsbranchen profitabel arbeiten könnte, wenn sie dafür bezahlen müsste, was sie zerstört - also Abwässer ableitet, die Luft verschmutzt, Wald rodet und damit natürlich auch all den Lebewesen schadet, die sich dort aufhalten. Vielleicht also doch keine so schlechte Idee, wenn an ganz vielen Dingen kleine imaginäre Schilder hängen, stecken oder schwimmen würden: Ein Schildchen in einem Fluss, eines am Strand oder auf einer Blumenwiese, ein Minischild an einer Schnake oder ein Plakat in einem Steinbruch. Und auf diesen Schildern sollte neben dem Preis stehen: „Überleg´s dir zwei Mal, ich bin wertvoll!“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31872
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