Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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08OKT2020
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Zugegeben, ich bin noch nicht wirklich alt. Heute werden Männer in Baden-Württemberg im Durchschnitt 79 ½ Jahre alt. Dann hätte ich noch über zwanzig Jahre zu leben. Aber jung bin ich auch nicht mehr. Meine Knie tun manchmal weh und der Atem wird kürzer. Es fällt mir schwerer, mich auf die vielen Eindrücke im Straßenverkehr zu konzentrieren. Ich bin eben in die Jahre gekommen. Vielleicht drückt diese etwas poetische Formulierung am besten aus, was ich empfinde: Dass es durchaus von Vorteil ist, nicht mehr ganz so jung zu sein. Sondern schon so manches erlebt, wertvolle Erfahrungen gesammelt zu haben. Ich habe inzwischen viele Menschen beerdigt. Hundertjährige und Neugeborene. Solche, die ruhig eingeschlafen sind und andere, die bei einem tragischen Unfall mitten aus dem Leben gerissen wurden. Und immer bin ich dabei ihren Angehörigen begegnet, die den Tod aushalten mussten. Ich bin beileibe nicht abgeklärt, wenn ich mit dem Tod eines Menschen konfrontiert werde. Aber ich weiß ihn auszuhalten und will für andere ein guter Begleiter sein. Als Priester kann ich Menschen in Situationen beistehen, in denen sie den Boden unter ihren Füßen verloren haben. Und diese Erfahrung hilft mir eben auch selbst. Wenn ich mit dem Tod in meiner eigenen Familie zu tun habe. Wenn ich an Grenzen stoße und merke, dass mich eine Frage ganz stark beschäftigt. Ich weiß dann, was das in mir auslöst. Ich habe einen Schatz an Erfahrung, der mir hilft, die Ruhe zu bewahren, weil ich heute mehr als früher weiß. Und deshalb die Hoffnung weniger schnell sinken lasse: „Thomas, das kannst du, das schaffst du.“ Dann freue ich mich über mein Alter und was ich im Laufe der Jahre gelernt, bearbeitet habe, wie ich reifer geworden bin.

Alt zu werden hat in unserer Gesellschaft keinen hohen Stellenwert. Es gilt vielen als Makel, nicht mehr so zu können wie früher. Ich sehe auch, dass für manche das Leben im Alter sehr beschwerlich wird, so sehr, dass sie lieber nicht mehr leben wollen. Das rede ich alles nicht klein. Aber ich lege dazu, dass es eben auch diese andere schöne Seite des Älterwerdens gibt. Und dass es sich lohnt, die nicht zu übersehen, sondern etwas aus ihr zu machen. Aus den Erfahrungen, die einen reif gemacht haben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31789
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