SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

16AUG2020
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Meine Uroma, Gott hab sie selig, war eine einfache Frau. Sie hatte Wäscherin gelernt und verehrte noch den Kaiser. Sie liebte es, ihren Urenkeln Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Aber in all den Geschichten, die sie erzählte, fiel ihr zu ihren jüdischen Mitmenschen nichts ein. Kein Wort dazu, wie in der Nazizeit im Dorf die Synagoge geschändet wurde, kein Wort dazu, wie die jüdischen Nachbarn zusammengetrieben und in Güterwaggons verladen wurden. Das habe ich erst aus der Ortschronik erfahren.

Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn der Pfarrer in der Kirche etwas dazu gesagt hätte. Denn meine Uroma war eine fromme Frau und sonntags im Gottesdienst. Einmal im Jahr, und heute ist es wieder soweit, feiert die Kirche den Israelsonntag. Früher leider Gottes meistens eine schreckliche Gelegenheit. Da wurde gepredigt, dass das Christentum dem Judentum überlegen ist. Heute ist eine gute Gelegenheit, auf Paulus zu hören, den Apostel und führenden Theologen in der christlichen Anfangszeit. Denn der hat schon vor zweitausend Jahren darüber nachgedacht, wie das ist mit Judentum und Christentum. Seine Antwort:

Das Judentum ist die Wurzel, der Anfang von Gottes Wegen mit den Menschen. Und deshalb sagt Paulus jedem einzelnen Christen, der damals neu an Gott geglaubt hat: Sei nicht überheblich! „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11,18)

Das ist deshalb so wichtig, weil es nicht um abstrakte Lehren geht, sondern darum, wie wir miteinander umgehen, auch wenn wir verschieden glauben. Wir gehören zu einem Baum. Natürlich ist der, ganz mediterran, ein Olivenbaum. Aber eben ein Olivenbaum. Und die Ehre, seine Wurzel zu sein, gehört Jüdinnen und Juden.

Will sagen: Es ist nicht genug, wenn Religionen nebeneinander her vegetieren. Zusammen Baum sein, das verpflichtet. Für mich heißt das: setze dich dafür ein, dass alle Menschen so glauben dürfen, wie sie das für sich entschieden haben. Hass und Gewalt zwischen Religionen entgegenzutreten gehört wie das Amen in die Kirche. Wäre das schon früher gepredigt worden – vielleicht, dass meine Urgroßmutter den Urenkeln dann etwas zu erzählen gehabt hätte über ihre jüdischen Nachbarn. Und hoffentlich hören wir es heute und gehen dazwischen, wo die Freiheit von Menschen anderen Glaubens mit Füßen getreten wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31501
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