SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

19AUG2020
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Es gibt in der Bergpredigt diesen Satz: „Warum siehst du aber den Splitter im Auge Deines Bruders, und nimmst nicht wahr den Balken in Deinem eigenen Auge!“ Das ist ein großartiger Satz. Er wird hauptsächlich so verstanden, dass man erst einmal die eigenen Fehler beheben soll, ehe man an anderen herummäkelt. Und ich finde, das ist richtig. 

Allerdings ist das eine Lebensaufgabe. Denn gemessen an dem moralischen Anspruch, den das Christentum in sich trägt, werde ich kaum damit fertig meinen eigenen Balken loszuwerden. Und dann käme ich nicht mehr dazu, mich mit den Splittern der anderen zu beschäftigen. Aber ich finde es ist genauso wichtig, dass man auf deren Splitter hinweist.  

Ich will Rückmeldung über mein Tun und meine Person - Natürlich in einer guten Art und Weise . - Denn Rückmeldung bringt mich weiter. Und sie hilft mir auch dabei an einem eigenen Balken zu hobeln. Ich glaube also nicht, dass es in der Bergpredigt darum geht, dass wir erst selbst makellos sein müssen, ehe wir auf die Splitter des anderen schauen dürfen. 

Vielleicht hilft ein anderes, etwas flapsiges Sprichwort weiter zu verstehen, was gemeint ist. Einer meiner Lehrer hat früher gerne gesagt, wenn ich nicht wusste worum es gerade geht, ich hätte ein Brett vorm Kopf. Und wenn man ein Brett vorm Kopf hat, sieht man nicht sehr weit. Vielleicht ist der Balken in der Bergpredigt eher so etwas wie dieses Brett vorm Kopf, das verhindert, dass ich sehe. Dieses Brett muss weg.

Wenn ich den Balken aus dem Auge ziehe, dann bekomme ich freie Sicht. Dann kann ich sehen. Und darum geht es: Zu sehen wer ich bin und dass ich nicht perfekt bin. Ebenso wie jeder andere nicht perfekt ist. Das ist unsere Ausgangssituation. Jeder Mensch hat eine Menge Splitter in seinen Augen. Jeder soll die seinen sehen und dazu stehen. Dann kann ich auch die meiner Mitmenschen sehen und auf sie hinweisen. Nicht mit ausgestrecktem Zeigefinger, sondern auf respekt- und liebevolle Art und Weise. Und wir können uns gegenseitig helfen sie zu entfernen. Oder zumindest die Entzündungen, die sie hervorrufen zu heilen. Denn das geht nicht allein.

Denn oft kann ein anderer, ein Gegenüber, treffendere Aussagen über mich machen als ich selbst.

Wir brauchen einander.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31385
weiterlesen...