Zeige Beiträge 1 bis 10 von 5243 »
Jürgens Todestag war auf den 18. August festgesetzt worden.
Ich habe den Sommer in den Bergen auf einer Hütte verbracht. Jürgen war das Schwein, das auf der benachbarten Alm aufgewachsen ist. Am genanntem Datum sollte ein kleines Fest dort oben stattfinden. Zu diesem Anlass sollte Jürgen geschlachtet werden. Sein Leben war also auf diesen Tag hin angelegt und sollte da in einen Festbraten münden. Weil ich gerne und viel laufen gehe, bin ich zwei Monate lang beinahe täglich an Jürgens Gehege vorbeigekommen. Ich habe gesehen, wie er in der Erde gewühlt hat, gefressen hat und gewachsen ist. Als dann der 18. August immer näher gekommen ist, bin ich ab und zu an seinem Zaun stehengeblieben und habe ihm zugeschaut. Er hat unbekümmert die Sachen gemacht, die er eben macht. Nichts von seinem nahen Tod ahnend. Mein Vegetarierherz hat natürlich geblutet.
Am Tag vor seinem Tod, stand ich wieder am Zaun. Da hatte ich das große Bedürfnis ihn zu warnen. „Morgen wirst Du geschlachtet“, habe ich ihm zugerufen. „Heute ist Dein letzter Tag“. Ich habe mir eingebildet, dass er das wissen sollte. Ich habe auch kurz darüber nachgedacht ihn zu befreien, ihm eine Chance zu geben davonzukommen. Aber er hat auf meinen Zuruf nicht einmal reagiert, es hatte geregnet und er sich in einer Dreckpfütze gesuhlt.
Am 19. August kam ich in der Frühe wieder vorbei. Jürgens Gehege war leer. Ich bin mit einem sonderbaren Unbehagen am Zaun gestanden. Ich weiß nicht, wie ein Schwein denkt und fühlt, aber ich konnte es nicht verhindern mich an seinem Gehege mit ihm zu vergleichen. Jürgen hat bis zu seinem Lebensende kerngesund und grunzend in seinem Element gelebt. Im Vergleich zu den meisten seiner Artgenossen hatte er ein privilegiertes Leben. Er war wahrscheinlich ein glückliches Tier. Ich lebe auch ein privilegiertes Leben, ich bin ein freier, selbstbestimmter, glücklicher Mensch. Ich will noch lange leben. Und ich hatte gedacht, Jürgen will das sicher auch. Deshalb habe ich ihn gewarnt, dass er geschlachtet werden soll. Aber er hat nicht reagiert. Natürlich konnte er mich nicht verstehen, ich habe ihn vermenschlicht und mich selbst auf ihn projiziert. Er hat einfach weitergemacht mit dem, was er immer gemacht hat. Er hat sich nicht dafür interessiert, wann er sterben muss. So habe ich es gedeutet. Und irgendwie, glaube ich, dass er damit recht gehabt hat.
Denn ich denke, es ist gut, dass wir den Zeitpunkt nicht kennen, an dem wir sterben müssen. Ich zumindest will es gar nicht wissen. Ich will weiterleben in der Hoffnung, dass es weitergeht. Bis es irgendwann vorbei ist. Irgendwann - Das genügt, mehr muss ich gar nicht wissen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38869Vor Kurzem musste ich mal wieder eine Vollbremsung hinlegen. Ich weiß nicht mehr was gewesen ist, vielleicht habe ich am Radio was verstellt, vielleicht - ich gestehe es – am Handy rumgedrückt. Auf jeden Fall war ich kurz unaufmerksam. Als ich wieder auf die Straße geschaut habe, war da plötzlich ein Müllaster, der vorher noch nicht dagewesen ist. Ich bin auf die Bremse gestiegen und konnte gerade noch rechtzeitig halten. Aber fast wäre es schiefgegangen und es hätte möglicherweise böse Folgen haben können. Glück gehabt! habe ich gedacht. Ich war danach eine Weile lang ganz schön angespannt, erst allmählich ist der Schreck von mir abgefallen. Und auf der restlichen Fahrt habe ich darüber nachgedacht, in wie vielen Situationen ich schon Glück gehabt habe. Wie oft es knapp gewesen ist.
Nicht nur beim Autofahren, auch mit dem Fahrrad, oder wenn ich zu Fuß unterwegs gewesen bin. Es gibt ja allerhand Gefahren. Ganz banale Sachen. Nasses Laub zum Beispiel, auf dem ich schon oft ausgerutscht bin oder vereiste Pfützen im Wald. Wenn man nicht aufpasst, kann schnell was schief gehen. Aber nicht nur die eigene Unaufmerksamkeit ist gefährlich, auch die der anderen. Sieht mich der Autofahrer nachts, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin?
Ich bin auf jeden Fall schon in einigen brenzlichen Situationen gewesen. Aber mir ist noch nie etwas passiert. Ich habe mir noch nie was gebrochen, mich noch nie schwer verletzt. Auch zuhause, die meisten Unfälle, heißt es ja, passieren im Haushalt. Auch da ist mir - Gott sei Dank - noch nie etwas Ernstes zugestoßen. Keine Schnittverletzungen in der Küche, kein Ausrutschen in der Dusche. Irgendwie, so mein Eindruck, bin ich ein Glückskind. Sonst wäre ich wohl schon lange nicht mehr hier. Das wird mir immer klarer, je älter ich werde.
Vielleicht hält jemand eine schützende Hand über mich. Vielleicht gibt es so etwas wie einen Schutzengel. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hatte ich bislang mehr Glück als Unglück, wenn es um die alltäglichen Gefahren geht. Vielleicht auch mehr Glück als Verstand. Dafür bin ich sehr dankbar, denn das ist nicht selbstverständlich. Neulich hatte ein Freund von mir einen schweren Unfall. In einer Situation, die ich schon hundertmal heil überstanden habe.
Es ist so eine Sache mit dem Glück. Man braucht viel davon, jeden Tag. Und ich wünsche mir, dass es genug davon für alle gibt. Denn, das weiß jeder, das hat jeder schonmal im eigenen Umfeld oder am eigenen Leib erlebt. Oft genügt es nur einmal Pech zu haben. Und alles ist anders.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38868Vor Jahren bin ich mal nach einer langen Wanderung in einem typischen alpenländischen Urlaubsort gelandet. In den Straßen ist mir an vielen Häusern ein Schild mit der Aufschrift Fremdenzimmer aufgefallen.
Ich bin dann in ein Wirtshaus gegangen, das völlig überfüllt gewesen ist. Ich habe nur noch Platz an einem Tisch gefunden, an dem schon eine Gruppe gesessen hat. Wie sich herausstellte, waren es lauter Einheimische. Wir kamen ins Gespräch und unterhielten uns über die Berge der Region. Die interessantesten Routen durch die Wände, die idyllischsten Seen, die urigsten Almen und die schönsten Aussichtspunkte. Weil ich schon oft dort in der Gegend gewesen war und mich einigermaßen auskannte, konnte ich gut mitreden und ich hatte den Eindruck gehabt, dass ich akzeptiert wurde. Da es allesamt ältere Männer gewesen sind und es mich immer interessiert, wie es früher gewesen ist, fragte ich schließlich, wie sehr sich der Ort gewandelt hat. Wovon die Leute hier leben und wie groß der Einfluss des Tourismus ist. Dabei bin ich auch auf die auffallend vielen Fremdenzimmerschilder zu sprechen gekommen. Ich hatte den Eindruck, dass jeder, der hier lebt, sein Geld mit Tourismus verdient oder zumindest die Kasse ein wenig damit aufbessert. Das war auch so, habe ich zur Antwort bekommen. Von der Landwirtschaft zu leben lohne sich nicht mehr, sagten sie, viele von den Jungen arbeiteten in der Stadt und pendelten hin und her, einige lebten ganz vom Tourismus. Aber beinahe jeder vermietete Zimmer an Touristen. Einer von Ihnen sagte, dass er auch zwei Fremdenzimmer anbiete. Aber eigentlich, fügte er hinzu, kämen dort seit vielen Jahren immer die gleichen Gäste, die hier Urlaub machen. Das sei bei den meisten so. Man kenne sich mittlerweile und freue sich immer schon, wenn zu den entsprechenden Zeiten die entsprechenden Gäste kommen. Die anderen am Tisch stimmten zu, dass es bei ihnen auch so sei und auch bei allen, die sie kannten.
Natürlich geht es bei dem ganzen um Tourismus, auch darum Geld zu verdienen. Die Gäste, auch wenn sie schon lange kommen, zahlen vermutlich die normalen Tarife. Aber dennoch, ich finde, es ist ein schönes Bild. Wenn man überlegt, was passieren kann, wenn man Fremdenzimmer anbietet. Es ist gut zu wissen, dass in all den Fremdenzimmern mittlerweile Freunde wohnen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38867Heute um die Mittagszeit werde ich wieder Nikolaus in unsrem Kindergarten spielen. Wie die letzten Jahre schon, werde ich heimlich durch die Hintertür eingelassen. Ich werde einen alten Samtvorhang um die Schultern legen, ein mit Goldpapier eingebundenes Buch in die Hand bekommen und bestimmt auch wieder den Wattebart verfluchen: erstens weil das Gummiband hinter den Ohren einschneidet und zweitens, weil ich ständig Flusen zwischen den Zähnen habe werde.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Nikolaus zu mir als Kind gekommen ist. Meine Gefühlswelt war immer ein wilder Mix: einerseits habe ich mich auf die Süßigkeiten gefreut, auf Lebkuchen, Mandarinen und Schokotäfelchen. Andererseits hatte ich ganz schön die Hosen voll vor Knecht Ruprecht und all den peinlichen Verfehlungen, die der Nikolaus aus dem Goldenen Buch vorgelesen hat.
Irgendwie passt diese Mischung zu dem, was vom echten Bischof Nikolaus überliefert wird. Einerseits soll er die Güte in Person gewesen sein. Er hat einmal eine ganze Stadt vor dem Hungertod gerettet, indem er mutig einem Kapitän die halbe Schiffsladung Getreide abgeschwätzt hat. Ein anderes Mal legt er einem alleinerziehenden Vater nachts heimlich drei Goldkugeln für seine drei Töchter ins Haus.
Aber er konnte auch ruppig werden. Immer dann nämlich wenn es darum ging, Unrecht aus der Welt zu räumen. Einem Henker ist er mal ganz schön grob gekommen. Hat ihn und seinen korrupten Gouverneur beschimpft und davon gejagt, weil sie gerade dabei waren Unschuldige hinzurichten. Und einen der energischsten Auftritte hat Nikolaus im Buch „Struwwelpeter“. Dort lachen drei Lausbuben einen - wie es im Buch heißt „armen schwarzen Mohren“ aus. Der Nikolaus holt ein großes Tintenfass, weil er sauer ist auf die drei. Das Gedicht geht so weiter: „Bis übern Kopf ins Tintenfass tunkt sie der große Nikolas. Und hätten sie nicht so gelacht, hätt Niklas sie nicht schwarz gemacht.“ Auch hier: Nikolaus setzt Gerechtigkeit durch und stellt sich vor Minderheiten.
Mal knurrig und mal herzensgut. Aber immer hat Bischof Nikolaus einem Ziel gedient. Und das scheint der wahre Kern der Legenden und Geschichten zu sein, die heute noch um ihn kursieren: Er hat Menschen zu ihrem Recht verholfen.
Ich glaube, ich werde nachher im Kindergarten wieder mal ein sehr sanftmütiger Nikolaus sein. Ohne Rute – dafür aber mit einem Samtvorhang um die Schultern und Watteflusen zwischen den Zähnen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38909Wie viel Geld ist ein Mensch wert? Diese Frage erscheint auf den ersten Blick fast unmoralisch. Denn den eigentlichen Wert eines Menschen kann man nicht in Euros ausdrücken. Wie will man all das berechnen, was er kann, welche speziellen Fertigkeiten er hat; aber auch was ihn ausmacht, wie er andere zum Lachen bringt, welche Power er hat, wie hartnäckig er sein kann, wie liebevoll, fürsorglich, erfinderisch und kreativ er ist.
Und trotzdem wird immer wieder am puren Materialwert von uns rumgerechnet. Das Technologiemagazin „Wired“ hat das einmal genau zusammengezählt: Wie viel würde man für unsere Organe bekommen, wie viel für Haut und Knochen, für die vielen unterschiedlichen Körperflüssigkeiten und Chemikalien, die der Körper produziert. Und siehe da: allein die zwölf Gramm Thyrotropin – ein Hormon, das im Gehirn vorkommt – sind schon über eine halbe Million Euro wert. Und der ganze Mensch fast 40 Millionen – purer Materialwert, da sind die nicht-materiellen Dinge noch gar nicht eingerechnet. Das fühlt sich doch gut an!
Jammerschade ist nur, dass viele Menschen - außer Fußballstars vielleicht - nicht so behandelt werden, als wären sie 40 Millionen wert. Ich denke dabei besonders an diejenigen, die auf der Flucht sind oder in Kriegsgebieten leben. An Minderheiten, an misshandelte Kinder, an Obdachlose, an hart schuftende Frauen oder an Gefangene.
Aber ich erlebe es auch hier in meinem Alltag. Mit teuren Autos zum Beispiel wird oft besser umgegangen als mit Menschen. Autos werden poliert, es wird ihnen gut zugeredet, sie werden gewaschen und gesaugt, und ab und zu gibt´s einen Ausflug ins Grüne. Sie bekommen feinstes Öl und auch mal Schmuck geschenkt – Duftbäume für den Rückspiegel oder Designer-Radkappen für die Räder. Und die Menschen? Ich erlebe immer wieder, dass sie ignoriert werden, dass sie angeschrien, abgespeist oder übers Ohr gehauen werden, dass sie verlassen, entlassen oder einfach links liegen gelassen werden.
Ich weiß nicht, ob´s helfen würde: ein kleines Preisschild, auf dem draufsteht „Minimum 40 Millionen“ – und das bei wirklich allen Menschen. Und vielleicht noch ein Aufkleber dazu, auf dem steht „keine Massenware, individuell mit viel Liebe gefertigtes Einzelexemplar“.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38908Ein Ringkampf kann spannend sein. Ein Ringkampf mit Gott wohl eher nicht, denn Gott schlägt alle - könnte man meine, er ist stark und übermächtig, lässt beim Kräftemessen nichts anbrennen. In der Bibel wird von so einem Kampf erzählt, der aber völlig unerwartet ausgeht.
Jakob hat vor Jahren seinen Bruder übers Ohr gehauen. Es war so schlimm, dass sein Bruder ihn dafür umbringen wollte. Jakob konnte gerade noch ins Ausland fliehen und ist dadurch mit dem Leben davongekommen. Aber nach vielen Jahren zieht es ihn zurück in seine Heimat. Er hat zwar Angst vor seinem vielleicht immer noch zornigen Bruder, aber die Sehnsucht nach zuhause ist einfach größer.
In der Abenddämmerung kommt Jakob an den Fluss Jabbok, der ihn noch von seiner Heimat trennt. Und plötzlich – wie aus dem Nichts – ist da ein Mann der ihn angreift. Jakob wehrt sich, die beiden schenken sich nichts. Sie kämpfen und kämpfen - die ganze Nacht geht das so. Als der Morgen bereits dämmert stehen die beiden immer noch fest umklammert da. Da sagt der Angreifer zu Jakob: „Jetzt lass mich endlich los“. Mit diesen Worten gibt ihm voll einen aufs Hüftgelenk mit. Jakob stöhnt laut auf und presst einen eigenartigen Satz hervor: „Ich lasse dich nicht los, erst musst du mich segnen.“ Jakob muss wohl während des Kampfes eine Ahnung beschlichen haben, mit wem er es da zu tun hat.
Schließlich löst der Angreifer die Situation auf und sagt: „Jakob, du sollst ab jetzt „Gottesstreiter“ heißen, denn mit Gott und Mensch hast du gestritten und gesiegt.“ Und dann segnet er Jakob tatsächlich. Jakob ist fix und fertig und vor allem froh, dass es rum ist, denn es hätte auch anders laufen können. Er macht sich selbst klar: „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.“ Dann zieht er hinkend der aufgehenden Sonne und seiner Heimat entgegen.
Was für eine Geschichte! Sie steht dafür, wie es ist, wenn man mit Gott ringt. Oft ist es ein Suchen, ein Hadern, es kann lange dauern und anstrengend sein. Und manche werden dabei auch enttäuscht oder tragen Blessuren davon. Ich nehme aus der Geschichte mit: Es lohnt sich zu kämpfen und zu ringen, es lohnt sich zu zweifeln und sich seinen Zweifeln zu stellen. Und manchmal kann es gerade dann, wenn man verletzt wird, zur entscheidenden Wende kommen. In all dem kann Gott sich zeigen. Manchmal als ein zäher Partner, manchmal kompromissbereit. Aber am Ende – da steht der Segen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38907Plötzlich erscheint mir alles da unten irgendwie irrelevant: Die Menschen, die Autos, die Straßen. Alles ist zwar noch gut zu erkennen, aber doch auch ganz weit weg. Vor ein paar Tagen bin ich mit dem Riesenrad auf dem Stuttgarter Schlossplatz gefahren. Rein in die Gondel, zehn Sekunden nach oben gefahren: Und schon war ich in einer ganz anderen Welt. Faszinierend! Ein Überblick, den ich sonst nicht habe, wenn ich mitten im Gewusel stecke: Die Welt da unten ist spannend zu betrachten, aber ich fühle mich gar nicht mehr als ein Teil davon. Sie ist nur noch ein Anschauungsobjekt. Der Lärm, der Stress, die Anderen – geht mich scheinbar nichts mehr an. Ich schwebe über allem, dem Himmel näher als der Erde.
Vater unser im Himmel…
Das ist einer der wichtigsten Sätze im Christentum. Beginn des wichtigsten christlichen Gebets, Jesus selbst hat es gebetet und anderen nahe gebracht, dass sie so beten sollen. Vater unser im Himmel …
Wenn ich so im Riesenrad sitze, kommt mir das schon ziemlich hoch oben vor. Und wie weit mag Gottes Himmel davon noch entfernt sein? Da frage ich mich: Was bekommt er da überhaupt von uns mit? Klar, ich traue Gott zu, dass er in uns Menschen mehr sieht als die winzig kleinen Ameisen, wie ich sie aus dem Riesenrad von oben wahrnehme.
Aber interessant finde ich trotzdem: Gott kommt zu wichtigen Anlässen immer wieder auf die Erde. Zum Beispiel, um mit Mose zu sprechen. Da verirrt er sich in das Gestrüpp eines brennenden Dornbuschs, um ihm einen ganz wichtigen Auftrag zu geben, nämlich die Israeliten aus der Sklaverei zu befreien. Und natürlich auch an Weihnachten. Morgen geht es ja los mit der Adventszeit. Sie soll helfen, uns darauf vorzubereiten, dass Gott auf die Erde kommt. Dass er Mensch wird und alle menschlichen Erfahrungen mit uns teilt. Nein, dieser Gott ist keiner, der uninteressiert im Himmel sitzt. Er kommt zu uns und kommt uns nahe. Er bringt den Himmel auf die Erde. Gut, dass es jetzt wieder Zeit gibt, um sich darauf vorzubereiten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38865Der Dezember ist für mich der Monat der Erwartungen. Ich habe zum Beispiel Erwartungen an mich selbst: Schöne Geschenke finden, einen geraden Weihnachtsbaum und überhaupt soll für Weihnachten alles gut vorbereitet sein.
Erwartungen gibt es auch bei der Arbeit: Jahresabschlüsse müssen vor dem Fest noch erledigt werden, Projekte sollen abgeschlossen sein, sodass man gut ins Neue Jahr starten kann.
Grundsätzlich sind Erwartungshaltungen ja erstmal nichts Schlechtes. „Von dir erwarte ich nichts mehr“ – das will auch keiner hören. Dann ist man abgeschrieben, unwichtig.
Von wem etwas erwartet wird, der trägt Verantwortung für andere und für sich. Dem wird etwas zugetraut.
Aber mir verursacht das alles auch Stress. Denn manche Erwartungen von außen oder an mich selbst sind vielleicht auch ein bisschen überzogen. Ich spüre dann: Es gibt kaum noch Raum für Fehler, für schlechte Tage, für Müdigkeit.
In dieser Gemengelage hilft mir eine theologische Erkenntnis, die eigentlich kein gutes Image hat: „Alle Menschen sind Sünder“. So ein negatives Menschenbild will niemand vorgeführt bekommen: Der Mensch ist unvollkommen, macht Fehler, entfernt sich durch seine Verfehlungen von Gott.
Aber wenn man es mal andersherum betrachtet, kommt es bei mir so an: Wer Sünder, wer nicht perfekt ist, von dem kann man auch keine Perfektion verlangen.
Und das ist ja eine allgemein menschliche Erfahrung: Wir können nicht alles richtig machen, nicht allen Ansprüchen genügen. Diese Erkenntnis kann auch befreien. Befreien von dem Druck, überzogenen Erwartungen entsprechen zu müssen.
Wichtig dabei ist, finde ich, was Martin Luther auf die Formel simul iustus et peccator gebracht hat. Wir sind Sünder, aber gleichzeitig auch gerechtfertigt. Gott verzeiht uns unsere Unzulänglichkeiten, er verurteilt uns nicht für das, was wir nicht perfekt hinbekommen.
Ich finde, das befreit davon, mich an übertriebenen Erwartungen abmühen zu müssen. Ich muss mich nicht dafür fertig machen, dass manches nicht so klappt, wie andere sich das vielleicht vorstellen: in der Schule, bei der Arbeit, in der Familie. Und nehme mir vor: genauso wenig von anderen zu verlangen, dass sie alles perfekt hinbekommen. Vielleicht versuche ich es dieses Jahr mal mit dem Dezember als Monat der Unperfektheit. Und ich bin mir sicher: Weihnachten und das neue Jahr werden trotzdem schön.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38864Wir wurden ganz schön durchgeschüttelt. Und gewackelt hat es. Vor den schmalen Fenstern – ein undurchdringliches Grau. Ich saß im Flugzeug, und der Landeanflug auf Stuttgart war ganz schön turbulent. Richtige Flugangst habe ich nicht. Angenehm finde ich die Fliegerei aber auch nicht. Deshalb habe ich mich bei diesem Anflug wirklich unwohl gefühlt – und ein kurzes Stoßgebet in den Himmel geschickt: Ach lass uns doch sicher landen … und Gott sei Dank, es hat gewirkt. Wir sind sicher gelandet. Mein Gebet wurde erhört. Oder ist das in Wirklichkeit eine Augenwischerei?
Ich glaube nicht an eine direkte Gebetserhörung. Ich glaube nicht, dass ich mir eine Wunschwelt zusammen beten kann nach dem Motto: Was ich mir erbete, tritt ein, weil Gott dafür sorgt.
Mir hilft beten trotzdem. Zum Beispiel dann, wenn ich mich einsam fühle. Wenn mir niemand einfällt, der mir helfen könnte, kann ich mich an Gott wenden. Oder wenn ich Angst habe. Zum Beispiel, wenn ich eingequetscht in einem wackelnden Flugzeug sitze.
Beten hilft in diesem Sinne erst einmal mir selbst. Aber ich glaube, dass es noch mehr kann.
Ich denke zum Beispiel an die ganzen Friedensgebete, die gerade regelmäßig in vielen Kirchen und Städten stattfinden. Frieden für die Ukraine, im Nahen Osten – das wünschen sich viele. Wie gesagt: Leider geht das nicht auf Knopfdruck, wir beten und dann kommt der Frieden. Aber ich finde, wer für Frieden betet, hat die Hoffnung auf ihn noch nicht aufgegeben, der glaubt noch daran, dass sich Gottes Frieden irgendwann überall durchsetzt.
Ja, ich denke, erst, wenn der Letzte aufgehört hat, an die Möglichkeit eines Friedens zu glauben, dann gibt es wirklich keine Hoffnung mehr. Beten hält diese Hoffnung wach. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was um mich herum geschieht. Für wen oder was muss ich beten? Wer kann Hilfe brauchen? An wen sollte ich denken? Darüber nachzudenken, hält den Blick wach für andere; und für eine gerechte und friedliche Welt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38863
Wenn jemand einen Sieg errungen hat, sagt man im Deutschen manchmal auch: „Er hat den Sieg davongetragen.“ Der österreichisch–israelische Schriftsteller Elazar Benyoëtz ist ein Sprachkünstler. Er fasziniert mich mit seiner Lyrik schon lange. Worte wie diese – „Er trug den Sieg davon“ – bürstet er gegen den Strich. Aus „Er trug den Sieg davon“ wird bei ihm »Alle Siege werden davon getragen.«*
Davongetragen, weggetragen? Und wohin bitte?
Beschädigen Siege womöglich das Miteinander? In aller Regel sieht man ja glückliche Sieger und enttäuschte Verlierer. Sieger haben es leicht. Verlierer tragen schwer an einer Niederlage. So die landläufige Meinung. Elazar Benyoëtz hinterfragt diese Sichtweise: Sind die Sieger auch die Gewinner?
Zweifel daran kommen bei mir schon im Kinderzimmer auf: Mein Enkel ist bei Spielen gerne der Sieger. Ich helfe ihm dabei. Doch er spürt offenbar auch: Das ist nicht gut, wenn der Opa andauernd verliert. Darum tut er manchmal trickreich sogar einiges dafür, dass auch mal der Opa der Sieger ist.
»Alle Siege werden davongetragen«
Für Elazar Benyoëtz ist das eine Lebensweisheit, die mit eigenen Erfahrungen zu tun hat. 1937 in Wien geboren sind seine Eltern mit ihm noch vor Kriegsbeginn nach Palästina geflohen. Er ist so dem „Sieg Heil!“ der Nationalsozialisten entkommen. Kriege hat er später auch in Israel erlebt.
Im Schatten des Ukraine Krieges wurde er im vergangenen Jahr gefragt, was ihm die Schrecken von Krieg und Vertreibung sagen. Benyoëtz hat aphoristisch geantwortet:
„Kriege sind Versäumnisse des Nachkriegs. ... in der Tat gibt es nur Kriegs- und Nachkriegszeiten - Frieden gibt es nur dann, wenn die Menschen nicht bloß gegen den Krieg, sondern auch gegen das Siegen sind.“** Für mich hört sich diese Lebensweisheit an wie eine zentrale Botschaft von Jesus:
Wer sich gegen das Siegen stellt, wer verlieren – also loslassen und unterliegen kann –, der kann wirkliches Leben gewinnen. Ich frage mich: Wie könnte dieser Umgang mit Siegen und Niederlagen zu einem Gewinn für unser Leben und unsere Kultur werden?! Auf den Kriegsfeldern dieser Tage und auch in persönlichen Streitereien?! Benyoëtz Aphorismus ermutigt zu einer Abkehr von Siegesbilanzen: Denn da hat er wohl recht: »Alle Siege werden« – zuletzt – »davongetragen.«
* Elazar Benyoëtz, Alle Siege werden davongetragen, München 1998
** Interview Deutsche Welle – 24.3.2022
Zeige Beiträge 1 bis 10 von 5243 »