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SWR Kultur Wort zum Tag
Ob ein Mensch als Erwachsener in der Bibel liest, entscheidet sich vor allem zwischen seinem 4. und 14. Lebensjahr. Dabei lesen heute immer weniger Leute in der Bibel. Am häufigsten noch Menschen ab 70. Und Männer mehr als Frauen. Das habe ich auf einer Tagung erfahren. Dort wurde eine wissenschaftliche Untersuchung zur Nutzung der Bibel in Deutschland vorgestellt. Fast alle, die befragt wurden – Menschen aller Konfessionen und Überzeugungen - halten die Bibel für wichtig. Obwohl nur noch die Hälfte der Menschen überhaupt eine besitzt. Ein Drittel der Menschen schaut mindestens noch einmal im Jahr hinein. Immerhin!
Natürlich sind solche Untersuchungen immer mit Vorsicht zu genießen. Vor allem, wenn darum geht, sie zu interpretieren. Aber ich mache mir schon meine eigenen Gedanken, warum gerade die Menschen über 70 am meisten in der Bibel lesen. Unter anderem sicher deshalb, weil sie in einer Zeit aufgewachsen sind, in der die Bibel und die Kirche noch eine größere Rolle gespielt haben. Vielleicht hängt das auch noch mit den kleinen Lebensbilanzen zusammen, die mit zunehmendem Alter mehr werden. Ich bin dankbar, dass sich in meinem Leben sehr viel Schönes ereignet hat. Und erinnere mich an Bewahrung und an Glück. Sucht nach einem Sinn Umgang mit Krisen, Brüchen, die es in jedem Leben gibt. Da liegt der Griff zur Bibel im Regal womöglich wieder näher. Gerade auch für Männer, die diese Themen vorher womöglich erfolgreicher verdrängt haben.
Es könnte aber noch einen weiteren Grund dafür geben, dass ältere Menschen eher in der Bibel lesen. Der hängt mit dem anderen spannenden Ergebnis der Untersuchung zusammen. Dass sich meistens schon zwischen dem 4. und 14. Lebensjahr entscheidet, ob jemand in seinem späteren Leben auch zur Bibel greift. Die Mehrzahl der Menschen, denen die Bibel heute etwas bedeutet, hatten in dieser frühen Lebensspanne zum ersten Mal etwas mit der Bibel zu tun. Das war bei denen, die heute als ältere Menschen in der Bibel lesen, sicher eher der Fall als bei den Kindern, die heute zwischen 4 und 14 Jahre alt sind. Da steckt also eine ganz schön große Herausforderung drin. Gerade auch für Eltern und Großeltern. Nämlich die, etwas weiterzugeben von dem, was anderen ihnen als Kinder vermittelt haben.
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Die Ergebnisse der Untersuchung der Universität Leipzig kann man im Internet finden:
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SWR Kultur Wort zum Tag
In einem großen, wassergefüllten Brunnenbecken steht ein Vulkan. Um den Krater herum tanzen fünf bronzene, beinahe lebensgroße Figuren. Eine hat ein Mikrophon in der Hand und singt. Am Fuß des Vulkans steht ein Klavier aus Granit. Der Klavierspieler mit Hufen an den Füßen. Mitten im Wedding in Berlin habe ich diese Skulptur entdeckt. Sie hat mich gleich in ihren Bann gezogen.
Ich hab‘ mich dann kundig gemacht. Seit 1988 gibt es diesen Brunnen. Die Skulptur in seiner Mitte heißt „Tanz auf dem Vulkan“. Entworfen hat sie die Künstlerin Ludmilla Seefried-Matejkova. Die Skulptur im Brunnen zeigt ihren Blick auf die Lage der Menschheit: Sie tanzen und feiern. Und nehmen gar nicht wahr, wie nah sie am Abgrund stehen. Die Figur am Klavier, die die Gruppe so sorglos leben und tanzen lässt, ist ein Satyr – ein menschlich-tierisches Mischwesen aus der griechischen Mythologie. Aus dem Gefolge des Dionysos. Wie ein Verführer wiegt er die Menschen in Sicherheit. Und lässt sie dem Abgrund entgegentaumeln.
Und wohl gemerkt: Der Brunnen ist schon 40 Jahre alt! Heute haben wir uns noch viel näher an den Abgrund herangetanzt. Schade, habe ich gedacht, dass man an einem Kunstwerk nichts verändern kann. Wäre mir das erlaubt, würde ich es gerne weitergestalten. Auf der anderen Seite des Vulkans, dem Klavierspieler gegenüber, würde ich einen Engel platzieren. Er ist dabei, ein Netz über den Krater des Vulkans zu spannen. Die Situation der Menschheit ist nicht einfacher geworden. Aber das Netz würde verhindern, dass die Tanzenden in den Krater hineintaumeln.
Meinen Glauben verstehe ich wie dieses Netz. Er ändert zunächst nichts am Zustand der Welt. Aber er ahnt und hofft: Ich bin gehalten. Wenn ich in die Irre gehe. Wenn ich taumle. Wie von einem unsichtbaren Netz. Darauf verlasse ich mich. Wie die Menschen, die in der Geschichte nach der Sintflut der Zusage Gottes vertrauen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Ich verstehe das nicht als Beschwichtigung. Sondern als Angebot, in meinem Leben mit diesem Netz zu rechnen. Und mit der Möglichkeit, dass am Ende Gott am Klavier sitzt. Und uns nicht dem Verderben, sondern dem Leben entgegentanzen lässt.
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Ich sitze im Bahnhof von Erfurt am Gleis. Eine Frau setzt sich neben mich. Schnell kommen wir ins Gespräch. Ich erwarte den üblichen kleinen Small Talk. Aber das Gespräch wird sehr schnell, sehr ernsthaft. Und mit einem Mal bringt mir die Frau in wenigen Minuten ihre ganze Lebensgeschichte zu Gehör. Es ist die schnellste Lebensbeichte, die ich je erlebt habe. Sie gipfelt in dem Satz: „Die letzten sieben Jahre waren für mich verlorene Jahre.“ Der Frau ist wirklich viel weggebrochen in den letzten Jahren. An materieller Sicherheit. Und an persönlichen Beziehungen. Zu ihrem Mann. Und ihrem Sohn.
Sieben verlorene Jahre? Sofort muss ich an die sieben mageren Jahre in der biblischen Josephsgeschichte denken. Da sagt Joseph dem ägyptischen Pharao voraus, dass auf sieben reiche Erntejahre sieben schlechte, magere Jahre folgen werden. Mit der Konsequenz, dass die Menschen in den sieben fetten Jahren Vorräte anlegen können, von denen sie in den sieben mageren Jahren leben können.
Genau darum war’s mir in dem Gespräch mit der Frau am Gleis gegangen. Mit ihr auf ihre Ressourcen zu schauen, auf die Vorräte aus früheren Jahren, von denen sie jetzt noch zehren könnte. Ganz ohne entlastende Wirkung schien unser Turbo-Austausch dann auch nicht gewesen zu sein. Voll dankbarer Worte hat mich meine Gesprächspartnerin ziehen lassen. Ich fuhr davon. Sie blieb am Gleis zurück. Was für intensive Minuten waren das. Die Bank am Gleis als kurzfristig eingerichteter Beichtstuhl.
Sieben Lebensjahre von dem vernichtenden Urteil zu befreien, sie seien am Ende nur verlorene Jahre gewesen. Ganz fremd ist mir dieses Gefühl nicht. Auch ich kenne Tage, die mir im Rückblick als verloren erscheinen. Wenn ich am Ende eines Tages feststelle, dass das, was ich mir vorgenommen hatte, nicht gelungen ist. Aber dann entdecke ich manchmal doch noch einen Weg, dem Tag etwas abzugewinnen. Auch wenn einiges anders gelaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Aber die anderen Spuren, auf die er mich geführt hat, haben womöglich auch ihren Sinn gehabt. Und ein schlechter Tag ist leichter zu ertragen, wenn ich mich erinnere, wie gut der letzte gewesen ist.
Ich müsste, so denke ich, von den Tagen, die mich zufrieden zurücklassen, immer auch etwas in meine kleinen Lebensscheunen einlagern. Um andere Tage besser überstehen zu können. Damit kein Tag ein verlorener bleiben muss.
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Ich hab’s nicht so mit Geistern und Hexen. Und auch in der kommenden Nacht werde ich hoffentlich gut schlafen. Trotz der Walpurgisnacht und all ihrem Spuk. Aber natürlich erinnere ich mich an die ländliche Welt meiner Kindheit. Dort wurden in dieser Nacht immer ein paar Gartentore ausgehängt und irgendwo versteckt. Manchmal konnte man auch eine Sitzbank oben auf einer Garage wiederfinden. Eigentlich nur Streiche von ein paar Jugendlichen. Der letzte Rest einer Vorstellung von dunklen Mächten, denen es darum geht, alles Vertraute und Gewohnte durcheinander zu wirbeln. Und vermutlich werden wir morgen früh wieder von unschönen Szenen hören. In manchen Städten verwandelt sich in dieser Nacht die Lust auf Streiche leider in Exzesse und Zerstörungswut.
Sind sie also doch noch irgendwie wirksam – diese Mächte, die alles verhexen und durcheinander wirbeln wollen? Die gegenwärtige Weltlage will es einen ja fast glauben machen. Und die Hexenmeister der Gegenwart zündeln allemal mehr und gefährlicher als die harmlosen Geisterwesen, deren Geschichten sich um die Walpurgisnacht ranken. Walpurga - eine Äbtissin aus dem 8. Jahrhundert -, nach der diese Nacht benannt ist, hatte mit Spukgeschichten übrigens auch nichts am Hut.
Ich beschwöre heute die Gegenkräfte zu dieser aktuellen Hexenmeisterei. Ganz praktische, politische. Dazu zähle ich: Sich zeigen und Position beziehen. In Gesprächen, in Demonstrationen, manchmal vielleicht auch in Leserbriefen. Meine stärkste Gegenkraft erwächst mir aus meinem Glauben. Gerade weil ich‘s nicht mit Hexen habe, wird mir immer wieder klar, dass die vermeintlich so mächtigen Hexenmeister des Bösen in der Gegenwart, die Putins, die Trumps und wie sie alle heißen, auch nur mit Wasser kochen. Dass sie zwar über Macht, aber über keine besonderen Kräfte verfügen. Nein, ich möchte sie nicht ernster nehmen, als es ihnen zusteht. Weil sie eben nicht die Herren der Welt sind. Ihre Macht ist begrenzt. Und ihre Zeit ist endlich. Ich vertraue da lieber dem, den die Kirche als ihren Herrn bekennt. Daraus gewinne ich eine bleibende Zuversicht, die nicht nur gebannt auf die nächste Nacht starrt, sondern auf alle Tage und Nächte, die noch folgen. Auf die Zeit, die in Gottes Händen liegt. Im Moment wird sie ganz schön strapaziert, meine Zuversicht. Aber sie hält fürs erste. In der Walpurgisnacht. Und danach auch.
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Eigentlich haben wir den Vater mit zwei Kindern auf unserer Radtour nach dem rechten Weg fragen wollen, aber er kannte sich in der Gegend auch nicht besser aus als wir. Als wir gerade weiterfahren wollten, sagte er zu seinen beiden Kindern: „Schaut mal, die haben noch richtige Fahrräder wie früher. Ohne Elektromotor!“ Da hab‘ ich mich gefühlt, als wäre ich gerade auf dem Weg, ausgestopft ins Museum befördert zu werden. Ertappt als Fortbewegungs-Dinosaurier! Lebendiger Nachkomme des Freiherrn von Drais und seinem Laufrad.
Die Erfahrung, womöglich bald ins Museum abgeschoben zu werden, beschleicht mich manchmal auch auf einem ganz anderen Feld: Dem meines Gottesglaubens. Zwar habe ich noch keinen Vater getroffen, der zu seinen Kindern sagt: „Schaut mal, der glaubt noch an Gott, wie meine Oma früher!“ Aber in einer plural gewordenen Welt fahren die Menschen auf ganz verschiedenen Fahrrädern durch die Gegend. Das „Gottesfahrrad“ ist dabei nur eines von vielen.
In seinem Buch „Gott fährt Fahrrad“ bringt der niederländische Schriftsteller Maarten´t Hart Gottes Anwesenheit in der Welt mit dem Bild des Fahrradfahrens in Verbindung. * In seinem kindlichen Gemüt deutet er die leichte Unbeschwertheit, mit der ihm ein Radfahrer entgegenkommt, als Bild für Gott. Als Kind weigert er sich, sich von einem Fremden auf dem Lenker des Fahrrades mitnehmen zu lassen. Später deutet er das als Entscheidung gegen Gott.
Wahr daran ist für mich: Auch mein Glaube an Gott ist keine Erfindung der Moderne. Nicht abhängig von High Tec und Hochgeschwindigkeit. Wie das schlichte Rad, das Maarten `t Hart mit Gott in Verbindung bringt. Mein Glaube ist etwas, das aus alten Zeiten an mich gekommen ist. Durch meine Eltern. Durch andere Menschen, die mich geprägt haben. Durch eine Kirche, in der jeder und jede auf den Schultern von denen steht, die vorher gelebt und geglaubt haben. In der Bibel wird von einer „Wolke der Zeuginnen und Zeugen“ gesprochen. „Sie haben schon früher empfangen, womit wir uns heute in der Welt zurechtfinden können.“ Ob das auf Dauer mit einfachen alten Fahrrädern geht, oder ob wir andere Hilfsmittel des Glaubens brauchen, wird jede Generation, jeder glaubende Mensch für sich selbst entscheiden müssen. Das Museum, in dem Glaubende vor sich hin verstauben, kann derweil aber ruhig erst einmal geschlossen bleiben.
* Maarten ´t Hart, Gott fährt Fahrrad, Piper München 2008
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„Wenn ich ganz ehrlich bin: Die Kirche vermisse ich nicht!“ Im ersten Moment hat mir dieser Satz meiner Physiotherapeutin fast die Schuhe ausgezogen. Dabei hätte mich so eine Bemerkung eigentlich nicht überraschen dürfen. Untersuchungen zur Kirche gibt es schließlich zuhauf. Sie kommen alle zu ähnlichen Ergebnissen. Aber dieses Mal war es eben ein Originalton. Von einer sympathischen Frau, mit der ich schon mehrmals über meinen Beruf gesprochen hatte. Und natürlich auch über die Kirche. Dieses Mal hatte sie mich gefragt, wo es in ihrem Wohngebiet eigentlich eine Kirche gibt. Ich konnte ihr gleich mehrere nennen. Aber die sind ihr bisher noch gar nicht aufgefallen. Sie sagt: „Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt in einer Kirche gewesen bin!“ Und dann, quasi als Krönung: „Wenn ich ehrlich bin: Ich vermisse sie auch nicht!“
Nach meinem ersten Schock hat uns ihre ehrliche Bemerkung ein offenes Gespräch beschert. Ich habe verstanden: Es haben sich bei ihr in den letzten Jahren einfach keine Berührungspunkte zur Kirche mehr ergeben. Keine Beerdigung. Keine kirchliche Trauung im Freundeskreis. Ein Trauritual aber schon. Das habe ihr gefallen. „Warum?“, frage ich? „Ja, das ist doch ein großer Schritt!“, sagt sie. „Mehr als nur zusammenzuziehen. Da muss doch ein Segen her!“ Jetzt waren wir aber mittendrin. Sie vermisst nichts. Aber es muss doch ein Segen her! Jetzt stand ich wieder mit beiden Füßen fest in meinen Schuhen drin.
Wie kritisch oder distanziert Menschen auch zu Kirche und Religion stehen: Beim Thema Segen gibt’s meistens uneingeschränkte Zustimmung und große Neugier. Segen braucht der Mensch! Sonst würde er wohl doch etwas vermissen. Kirche nein. Oder nicht unbedingt. Aber Segen ja! Dieser Satz stimmt mich zuversichtlich. Denn ich drehe ihn am liebsten um. Wo’s um Segen geht – wo Segen nachgefragt wird, da ist für mich Gott im Spiel. Da ist für mich Kirche. Verborgen vielleicht. Etwas windschief womöglich. Manchmal eher als Ruine. Aber im Grundriss immer noch erkennbar. Denn der Segen ist für mich das Grundgerüst der Kirche. Ob in der vertrauten geprägten Form wie in fast jedem Gottesdienst. Oder ganz frei und auf eine konkrete Situation hin formuliert. Also nicht: „Kirche nein. Segen ja!“ Sondern „Segen ja! – und du bist mittendrin. Mitten in der Kirche und mitten in der Welt!“ Einen gesegneten Tag wünsche ich Ihnen heute!
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Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Bachs H-Moll-Messe steht auf dem Programm. Im Credo, dem Glaubensbekenntnis, herrscht auf einmal völlige Stille. Kein Orchester. Kein Chor. Generalpause! Der Chor hat sein „sepultus est“ gesungen. Auf Deutsch: “Er ist begraben worden!“ Eine ungeheure Spannung liegt in der Luft. Bis es weitergeht mit dem triumphierenden „Et ressurexit!“ „Er ist auferstanden!“
Der heutige Karsamstag hat für mich etwas von einer solchen Generalpause, dieser eine Tag zwischen Karfreitag und Ostern. In den Kirchen stehen da meist keine Blumen auf dem Altar. Es gibt auch kein Glockengeläut. In manchen Gegenden Süddeutschlands oder Österreichs sind Rätschen zu hören, hölzerne Geräte, die knarrende Laute von sich geben. Manche Altarflügel mit ihren bunten Bildern sind verhüllt. Die normalen Abläufe – sie sind unterbrochen. Zumindest im Kirchenjahr. Bevor dann in der Osternacht lautstark der Osterjubel einsetzt.
Für mich ist diese Generalpause mehr als ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Für mich ist sie ein Bild dessen, was mein Leben oft ausmacht. Eine Unterbrechung reiht sich an die andere. Meist tun mir Unterbrechungen von vertrauten Abläufen erst einmal gut, wie der Verzicht auf Süßes oder auf Alkohol in der Passionszeit. Ein kleines Fastenzeichen, mit dem ich übe, was das heißt, sich im Gewohnten zu unterbrechen. Unterbrechungen können mich aber auch völlig unerwartet und schrecklich treffen. Dann steht von einem Moment auf den anderen die Welt still. Generalpause – ohne Vorwarnung. Dann ist es wichtig, dass ich mir diese Unterbrechung zugestehe. Dass ich die Stille der Pause aushalte. Dass ich – in aller Wut oder in allem Widerstand – damit rechne, dass das Leben irgendwann wieder in Bewegung kommt. Dass ein neuer Einstieg ins Leben möglich wird.
In der Musik gibt es solche Generalpausen immer genau dann, wenn ein grundsätzlicher Umschwung angedeutet wird. Wie eben im Credo nach dem Bericht über Jesu Tod – ehe die Auferstehung besungen wird. Aus der Stille erwächst der Neuanfang, wie dem Karfreitag der Ostermorgen folgt. In der Feier der Osternacht kann ich das erleben. Die Generalpause des Karsamstags ist vorüber. Da wünsche ich mir, dass sich Vergleichbares in meinem Leben doch auch ereignet. Ein kleines Osterfest, mitten im bedrängenden Alltag. Immer wieder.
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Ganz ehrlich, zuerst habe ich meinen Augen nicht getraut. Da kommen zwei Männer zu meiner Abendandacht in die Kapelle. Der eine mit einem Glas Wein in der Hand, der andere mit einem Glas Bier. Sie haben sich in eine der hinteren Reihen gesetzt, aber waren ganz mit dabei. Immer wieder musste ich zu ihnen hinschauen. Nach der Andacht bin ich auf die beiden zugegangen. „Ich war schon überrascht!“, habe ich zu ihnen gesagt. Darauf der eine der beiden: „Aber bei euch gibt’s doch auch Wein in der Kirche, wenn ihr Gottesdienst feiert!“ „Ja natürlich, das stimmt!“, habe ich geantwortet. Und ich habe versucht, den beiden den Unterschied zu erklären. Aber richtig zufrieden war ich mit meiner Antwort nicht.
Ist der Unterschied wirklich so groß zwischen einem Abendmahl in der Kirche, mit Brot und Wein oder Saft, und einem ganz normalen Essen und Getränk – wie bei den beiden, die einfach aus ihrem normalen Glas trinken.
Heute ist Gründonnerstag. Der Tag, an dem in den Kirchen die Erinnerung an die letzte Mahlzeit von Jesus und seinen Freunden im Mittelpunkt steht. Genau darauf hat der Mann ja angespielt, als er davon sprach, in der Kirche würde doch auch Wein getrunken. Schon erstaunlich, dass sich Menschen nach zweitausend Jahren an dieses besondere Essen von Jesus mit seinen Freunden immer noch erinnern. Und im Gottesdienst ganz selbstverständlich wiederholen, was damals doch etwas Besonderes war. Aus allen Speisen und Getränken, die auf dem Tisch standen, hat Jesus die beiden herausgegriffen, die bis heute bei kaum einem Festessen fehlen: Brot – ein elementares Grundnahrungsmittel. Und Wein, schon damals ein festliches Getränk der Lebensfreude! Es wurde gefeiert! Vor allem die Erinnerung an die Befreiung der Vorfahren aus der Sklaverei in Ägypten. Gefeiert haben die Freunde von Jesus aber auch, dass bei diesem Essen im Angesicht des Todes Jesu Gott in ihrer Mitte war. Aus der Erinnerung ist Kraft und Lebensenergie erwachsen. Das ist bis heute so geblieben
Daran erinnere ich mich, wenn ich heute oder in den nächsten Tagen in der Kirche zu Brot und Wein oder Traubensaft eingeladen werde. Ich entdecke und feiere die Gegenwart Gottes in dem, was er hat wachsen lassen: Getreidekörner und Trauben. Zutaten aus der Natur. Eigentlich ein Wunder. Vielleicht, so denke ich, haben die beiden Männer nur ihren eigenen Zugang zu diesem Wunder gesucht. Und hoffentlich dann auch etwas davon gespürt.
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Eine Ausstellung über Bücher, die nie erschienen sind? Die gibt es zurzeit in New York. Im traditionsreichen Grolier Club. Ein Buch von Hemingway ist da zusehen, dessen Manuskript ihm gestohlen wurde. Die Liebesgedichte des großen Theologen Abelaerd an Heloise aus dem Mittelalter, die man damals hat verschwinden lassen. Vermutlich aus Anstandsgründen. . Oder es sind Bücher, die in einem anderen Buch genannt werden, die es aber gar nicht gibt.
Der Initiator der umfangreichen Ausstellung hat nun versucht, diese Bücher im Stile ihrer Zeit liebevoll herzustellen und ihnen auch einen Titel zu geben. Dabei sind wunderschöne Exponate herausgekommen. Man möchte sie am liebsten sofort in die Hand nehmen und darin blättern. Aber die Seiten der Bücher sind leer. Es sind gewissermaßen potemkinsche Bücher. Schöne Außenansichten. Überwiegend leere Hüllen.
Und mit uns Menschen ist es ja ganz ähnlich wie mit den Büchern. Das eine ist der Umschlag, das Cover, die Hülle. Das andere ist der Inhalt. Beide müssen am Ende bestenfalls zusammenkommen. Das Äußere ist das, was andere Menschen als Erstes wahrnehmen. Meine Außenansicht. Es lohnt sich, ihrer Aufmachung die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. An ihr zu arbeiten. Das andere ist der Text in meinem Lebensbuch. Was steht drin? Jeder Mensch fängt ab dem ersten Tag damit an, das Buch seines Lebens mit Inhalt zu füllen. Das Buch wird nie fertig. Jeden Tag kommen neue Seiten dazu. Manche bleiben erst einmal nur Skizzen. Andere arbeite ich ganz genau aus. Ich weiß nicht, wie mein fertiges Lebensbuch einmal aussehen wird. In einem kleinen Brief der Bibel heißt es: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden!“ (1. Johannes 3,2) Ganz fertig werde ich in diesem Leben nie. Mein Buch bleibt Fragment. Mit Lücken und leeren Seiten. Fortsetzung folgt. Aber auch mit wunderbaren Geschichten und farbigen Bildern.
Die ungeschriebenen Kapitel, die lassen sich immer noch anfangen. Und die Seiten, die leer geblieben sind, füllen sich vielleicht dann noch, wenn mein Lebensbuch seinen endgültigen Ort findet. Nicht in New York. Sondern da, wo mein Leben aufgehoben bleibt. Und das Buch meines Lebens gewürdigt und als schön befunden wird. Von Gott. Bei dem mein Lebensweg ans Ziel kommt. Und dem, und davon bin ich fest überzeugt, jedes Lebensbuch kostbar ist.
Imaginary Books: Lost, Unfinished, and Fictive Works (https://grolierclub.omeka.net/exhibits/show/imaginary-books)
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41576SWR Kultur Wort zum Tag
Schwimmen zwei junge Fische nebeneinanderher. Kommt ihnen ein alter Fisch entgegen und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Und schon ist er wieder weg. Sagt der eine junge Fisch zum andern: Was ist das eigentlich: Wasser?
Diese kurze Fabel hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in einer Rede zur Abschlussfeier an einem College vorgetragen. Seine Botschaft an die jungen Menschen verstehe ich so: Nehmt die Welt um euch herum mit wachen Augen und mit klarem Verstand wahr. Stellt die richtigen Fragen. Und vor allem: Lasst euch selbst in Frage stellen. Gerade leben wir ja in sehr unsicheren Zeiten. Alte Wahrheiten sind am Zerbrechen. Und was sich da an Neuem bemerkbar macht, lässt es mir manchmal schon kalt den Rücken herunterlaufen. Ich glaube, da hilft es, sich über manche Dinge ganz grundsätzlich Gedanken zu machen.
Was ist eigentlich Wasser? Für mich ist klar: Das Wasser, der Lebensraum, in dem ich leben möchte, muss eine klar nachzuvollziehende Zusammensetzung haben: Werte der Mitmenschlichkeit und der Humanität sind das. Die Bereitschaft, andere Menschen wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen. Der Verzicht darauf, andere kleinzumachen und auszugrenzen.
Wenn ich einer der jungen Fische wäre, würde ich mich vielleicht doch auch fragen: In was für einem Element bewege ich mich eigentlich? Was „umgibt mich“ in meinem Leben „von allen Seiten?“ wie es in einem Psalm heißt? Meine eigene Antwort hängt ganz eng mit meinem Glauben an Gott zusammen. Von allen Seiten möchte ich mich von Gott umgeben fühlen. Es gelingt mir längst nicht immer. Und es macht das Leben auch nicht einfacher. Man muss da nämlich auch mal in die Gegenrichtung schwimmen wie der alte Fisch in der Fabel. Man muss sich vor Raubfischen in Acht nehmen. Manchmal kann auch der Sauerstoff knapp werden. Aber wenn ich weiß, in welchem Lebensraum ich mich bewege, dann finde ich meine eigene Antwort auf die Frage: Wasser – was ist das eigentlich? Dann nehme ich das Wasser wahr als meinen Lebensraum, in dem ich mich bewegen und bergen kann. Wenn es Gott ist, der mich umgibt, lässt mich das hoffentlich gestärkt und zuversichtlich im Leben unterwegs sein.
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