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Über die Kirche kann man denken, was man will. Es gibt viel zu kritisieren, weil sie Fehler macht und in hohem Maße Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Aber es gibt auch Bereiche, wo sie großartige Arbeit leistet und vielen Menschen hilft. Die Seelsorge in den Krankenhäusern ist so ein Bereich. Wer schwer krank ist oder operiert werden muss, braucht natürlich zuerst eine möglichst gute medizinische Versorgung. Kranke sind darauf angewiesen, dass die Ärztinnen ihr Handwerk verstehen und die Pfleger sich gut um sie kümmern. In fast allen Kliniken gibt es heute zudem psychologisch geschulte Personen, die einem helfen, mit den Ängsten umzugehen, die einen befallen, wenn man die Gesundheit verliert.
Und dann gibt es da noch den Bereich, den niemand in der Hand hat. Die offenen und schwierigsten Fragen spielen sich dort ab: Was, wenn ich nicht mehr gesund werde, wenn ein langes Leiden beginnt und ich womöglich eine Chemotherapie machen muss? Halte ich das aus: zu wissen, dass ich nur noch eine bestimmte Zeit zu leben habe? Mit wem teile ich dann meine Gedanken, vor allem wenn die immer dunkler werden? Wer hält es mit mir aus, wenn ich bitter weine, aber das nicht vor meiner Familie tun will? Mit wem kann ich über das Sterben sprechen und den Tod und das, was danach kommt?
Als Pfarrer werde ich selbst hin und wieder ins Krankenhaus gerufen und mit diesen Fragen konfrontiert. Ich nehme jedes Mal einen kleinen Anlauf, weil es auch nach Jahren immer noch ein Berg ist, mich dem zu stellen, dass es einem Menschen so schlecht geht. Aber immer spüre ich anschließend, wie wichtig mein Besuch war, wie gut es Kranken tut, auch jemanden zu haben, der nicht zu den Medizinern und Therapeuten gehört. Der Mensch ist eben mehr als nur sein Körper und dessen Leiden. Es gibt für viele die Sehnsucht nach einem Himmel. Nur: Wer hilft einem, darauf zu vertrauen?
Wie gut, dass es fast überall Frauen und Männer gibt, die als Seelsorgerinnen und Pfarrer in den Kliniken präsent sind. Tag und Nacht kann man sie erreichen, wenn es dringend ist. Sie sind hoch qualifiziert und für die Ärzte und Schwestern oft ganz wichtige Partner. Dafür bilden sie sich laufend fort, damit sie sich auskennen, wenn es um Therapien geht, um Sterbehilfe und ums Trauern, das ja schon vor dem Sterben beginnt. Wie gut, dass es dafür Kirche gibt. Danke an alle Frauen und Männer, die sich Tag für Tag dieser schweren wichtigen Aufgabe stellen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38412Antisemitismus. Dieses Wort sollte es in Deutschland nicht mehr geben, weil es endlich das nicht mehr gäbe, was damit zum Ausdruck gebracht wird: Dass Menschen jüdischen Glaubens angefeindet werden, dass sie Opfer von Gewalt werden oder zum Sündenbock, auf den man alles ablädt, was einem in die Quere kommt. Leider ist das Gegenteil der Fall: Die Zahl an Übergriffen gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland hat kontinuierlich in den letzten zehn Jahren zugenommen. Die Zahl an gewalttätigen Aktionen war im Jahr 2022 besonders hoch. Die Fakten dazu sind beim Verfassungsschutz nachzulesen[1].
Woher kommt diese Aggression gegen eine verschwindende Minderheit in unserem Land? Es gibt keinen Grund für so ein irrationales Verhalten. Offenbar sind einzelne Bürger so verzweifelt oder enttäuscht, dass sie ein Ventil für ihre Wut suchen. Die lenken sie dann gegen eine Gruppe, bei der das in der Geschichte immer wieder funktioniert hat. Vom Staat erwarten sie sich für ihre Probleme keine Hilfe oder sie verachten ihn sowieso.
Und Probleme gibt es: Rentner, die ihre Miete kaum zahlen können. Familien, die bei den hohen Preisen Sorge haben, wie sie über die Runden kommen sollen. Oder die Angst, dass wir die Menschen, die zu uns flüchten, nicht gut werden integrieren können. Das sind echte Probleme. Das darf man nicht nur sagen, damit muss man unsere Politiker konfrontieren. Und sie im gleichen Atemzug dazu verpflichten, dass sie alles unternehmen, diese Probleme demokratisch zu lösen, und jede Form von Gewalt oder Menschenverachtung entschieden zu bekämpfen. Das hätte ich auch von Hubert Aiwanger erwartet. Wie halbherzig er sich für seine „Jugendsünde“ entschuldigt und sich dann auch noch als Opfer stilisiert hat, das war eher ein Ausweichen. Jedenfalls kein klares Bekenntnis, etwas aus der Geschichte gelernt zu haben. Am Ende blieb der Eindruck: Man kommt in unserem Land wieder durch, wenn man antisemitisch denkt und sich in der Öffentlichkeit pflichtschuldig distanziert. Antisemitismus wird zu einer Bagatelle, die man hinnimmt.
Einmal mehr sage ich dazu: Wehret den Anfängen! Das scheint mir der einzig richtige Weg zu sein. Konsequent zu widersprechen, wo solche Parolen auftauchen. Von kirchlicher Seite war zu der Affäre um Aiwanger wenig zu hören, verdächtig wenig. Aber gerade wir Christen müssen uns klar bekennen – gerade vor dem Hintergrund unserer eigenen judenfeindlichen Geschichte: keine Gewalt, keine Sündenböcke. Das ist in diesem Fall unser Beitrag zur Demokratie.
[1]https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/allgemein/2022-04-lagebild-antisemitismus.pdf?__blob=publicationFile&v=3
https://mediendienst-integration.de/desintegration/antisemitismus.html
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/gewalt-juden-linke-antisemitismus-101.html
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38411Seit hundert Jahren gibt es das, was wir Radio nennen. Und genau so lang gibt es hier auch Sendungen, die von Gott sprechen. Hundert Jahre Radio begehen die Rundfunkanstalten in diesem Jahr. Und wir von der Kirche erinnern daran, dass es seitdem auch unsere Sendungen dort gibt. Wobei das nicht ganz stimmt. Einer der ersten Versuche überhaupt, mittels Radiowellen etwas zu übertragen, fand schon am 22. Dezember 1920 statt. Die noch stark knisternde Übertragung eines vorweihnachtlichen Konzerts mit Musik und Texten, das viele als die erste Rundfunksendung ansehen. Am Anfang also eine religiös geprägte Sendung. Eigentlich klar, finde ich. Gott gehört eben zu uns Menschen und unserer Welt selbstverständlich dazu. Er ist überall dort, wo Menschen sind. Wir fragen danach, wie der Kosmos entstanden ist und was einmal sein wird, wenn wir nicht mehr am Leben sind. Viele Feiertage haben einen religiösen Kern, an dem man auch im Radio nicht vorbei geht.
Natürlich hat sich die Art und Weise verändert, wie Radio gemacht wird. Für die Sendungen der Kirche gilt das genauso. Gleich geblieben ist die Mischung: unterhaltsam und informativ soll’s sein, auch wenn von Gott gesprochen wird; um das Hirn und Herz der Zuhörenden zu erreichen. Nicht nur die, die ihren Glauben bewusst leben, vielleicht sonntags am Gottesdienst teilnehmen. Nein, was wir Kirchenleute hier sagen, ist für alle bestimmt, nicht nur für einen ausgewählten Kreis. Wir wenden uns ausdrücklich nach außen, wollen die ganze Breite und Vielfalt an Menschen in unserer Gesellschaft erreichen. Auch die, die sich längst von der Kirche abgewandt haben, auch die Ungläubigen und Kritiker. Wir wollen nicht missionieren, sondern erzählen, was uns auffällt, wenn wir auf unsere Welt schauen, und davon, was in unserem Leben passiert. Immer aus der Warte unseres Glaubens an einen Gott, der größer ist als wir, von dem wir hoffen, dass er barmherzig und liebevoll ist, aber den wir oft genug auch nicht verstehen. Dann verschweigen wir auch unsere Zweifel nicht. Ganz am Ende steht immer die Hoffnung, dass es andere tröstet, was wir sagen, vielleicht sogar eine neue Perspektive für glückliches Leben zeigt.
Heute gebe ich Ihnen einen Bibelvers mit auf den Weg in Ihren Tag, der mir schon oft geholfen hat – vor allem, wenn ich mir Sorgen gemacht habe: Mit meinem Gott überspringe ich Mauern[1]. Ich hoffe, dass Ihnen das auch Mut macht, vor allem, wenn gerade eine Mauer vor Ihnen liegt.
[1] Psalm 18,30
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38410Wie weit geht man? Wie weit soll man gehen, kann man gehen, muss man gehen? Wenn einer immer weniger zu dem in der Lage ist, was er sein Leben lang getan hat. Wie viel davon will man dem Partner zumuten? Wie weit erträgt man das, jeden Tag mehr zu spüren, dass man die Kontrolle über das eigene Leben verliert?
Als Pfarrer habe ich mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun, die eine Not mit sich herumtragen. Und immer wieder komme ich zu älteren Paaren, die schon lange miteinander durchs Leben gehen. Mir davon erzählen, dass bei einem die Kräfte so spürbar nachgelassen haben, dass es zum Problem wird. Meistens für den Stärkeren, Gesünderen der beiden mehr als für den, der sich langsam aus der Welt zurückzieht. Oft sind es die Männer, die ihre Selbständigkeit einbüßen. Ich sitze dann da und sehe, wie schwer das für die Frau ist. Den Ehemann so zu sehen, so gebrechlich, wie er oft gar nicht mehr der ist, der er mal war. Und ich merke, dass sie diese Frage mit sich herumtragen, auch wenn sie sich oft nicht trauen, sie auszusprechen: Wie weit halten wir das noch aus? Als Paar übernimmt der eine schließlich Verantwortung für den anderen. Dann wird dieses „Wie weit?“ zur Gewissensfrage, verbunden mit Schuldgefühlen und der Angst, in seiner Liebe zu versagen. Aber was, wenn man mit der Zeit an seine eigenen Grenzen kommt? Wenn man plötzlich die ist, die stärker ist, die jeden Tag für zwei denken muss, die alles allein erledigt, was früher gemeinsam gemeistert worden ist.
Verantwortung hat immer zwei Seiten. Wer Verantwortung für andere übernimmt, hat auch Verantwortung für sich selbst. Das hat mit Egoismus nichts zu tun. Ich kann nur so lange etwas geben, wie ich dazu in der Lage bin. Ich darf mich selbst nicht aufgeben. Ich bin nicht nur die Partnerin. Ich bin immer auch ich selbst. Und nur wenn diese zwei Seiten ausgelotet sind, funktioniert Verantwortung. Es ist gut, wenn man sich rechtzeitig darüber Gedanken macht, wie weit man gehen will. Wie viele Therapien, wenn es keine Aussicht auf Heilung gibt; wie viele lebensverlängernde Maßnahmen bei einem schlimmen Unfall. Und auf der anderen Seite wie lange man sich vorstellen kann, den Partner zu pflegen und sein Leben darauf einzustellen. Es hilft, wenn man das bespricht, solange beide gesund sind, geistig dazu in der Lage. Es ist ein Vorteil, wenn man sich in groben Zügen darüber im Klaren ist, wie weit man gehen will, wenn es dann so weit ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38409Ich bin 1964 geboren und gehöre damit zu jener Generation, die Boomer genannt wird. Wegen des Baby-Booms in Deutschland, den es einige Jahre nach Ende des Kriegs gab, als es den Menschen wirtschaftlich wieder besser ging. Mit mir zusammen sind über eine Million Kinder geboren worden, so viel wie noch nie und nie mehr seit 1945. Das heißt: Wir waren damals ein großer bunter Haufen. Und seither kommt an meiner Generation niemand vorbei. In meiner ersten Klasse der Grundschule waren wir vierzig, heute undenkbar. Und zwanzig Jahre später im Tübinger Konvikt, wo die Priesterkandidaten wohnen, eben so viele. Bis heute ruht ein wesentlicher Teil von Wirtschaft und Gesellschaft auf den Schultern der Boomer.
Beliebt sind wir deshalb aber nicht. Im Gegenteil. Ein Teil der jungen Generation geht hart mit uns ins Gericht. Und in gewisser Weise verstehe ich auch warum. Wir verbrauchen zu viel, weil wir viele sind und nicht gelernt haben zu verzichten. Wir sind im Wohlstand aufgewachsen, es ging fast immer nur aufwärts. Schon vor vierzig Jahren hat man gesehen, dass die Ressourcen an Erdöl begrenzt sind; aber den Wechsel zu einer Fortbewegung ohne Benzin haben wir nie konsequent verfolgt. Die Jungen sagen: „Ein bisschen zu fortschrittsgläubig, zu optimistisch, zu unverbesserlich – diese Generation der Boomer. Und wir, die Jungen, denen nun wirklich nichts anderes mehr übrig bleibt, wir sollen den Karren aus dem Dreck ziehen. Bevor die Welt untergeht.“
Nächstes Jahr werde ich sechzig. Ich sehe schon lange, dass es einen grundlegenden Wandel in vielen Bereichen braucht. Dass wir von allem weniger verbrauchen müssen in den reichen Industrieländern, um die begrenzten Ressourcen zu schonen, auch um mehr teilen zu können mit den Ärmeren. Wir dürfen nicht so tun, als gehöre uns die Welt, als seien wir Boomer die letzten. Nach uns die Sintflut. Ich sehe aber auch, was meine Generation tut. Wir halten den Laden am Laufen, sind fleißig und zielorientiert. Und wir geben von unserem Reichtum ab, als Spender, und als die die mehr als je in die Sozialkassen eingezahlt haben. Es gibt eben – wie fast immer – Licht und Schatten. Am besten also lernen wir voneinander, die Jungen und die Alten, versuchen an einem Strang zu ziehen. In einem Boot sitzen wir sowieso.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38408Letzte Woche habe ich meine neuen Klassen das erste Mal unterrichtet. Die erste Doppelstunde nütze ich immer dafür, dass die Schüler etwas von mir erfahren und um sie auch etwas näher kennenzulernen. Für mich ist das die entscheidende Voraussetzung, dass ich sie überhaupt unterrichten kann. Ich muss den einzelnen kennen und einigermaßen verstehen. Wie verschieden sie reagieren. Worauf der einzelne Wert legt. Wie sie aussehen und sprechen. Dass sie so verschieden sind, ist für mich kostbar, ja heilig. Ich hoffe, dass sie im Laufe der Zeit spüren und verstehen, dass wir nur dann gut miteinander durchs Leben kommen, wenn wir uns nicht als Konkurrenten verstehen, sondern respektieren und tolerant mit der Eigenart des anderen umgehen.
Für mich spielt im Religionsunterricht die Person, der einzelne Schüler eine mindestens genauso große Rolle wie der Lehrplan. Deshalb bemühe ich mich darum, dass wir uns in der Klasse vertrauen. Das kann ich nicht anordnen, aber ich achte darauf, dass so eine Atmosphäre herrscht. Dann ist es sogar möglich über private, ja intime Dinge zu sprechen: Was macht dir gerade Sorgen? Gibt es etwas, wo du Hilfe brauchst? Jede und jeder erzählt nur das, was er will. Keiner wird zu etwas gedrängt. Aber es kommen doch recht persönliche, private Dinge auf den Tisch. Ein Streit in der Familie oder ob hoffentlich die Noten gut genug sind.
Und ich merke auch in diesem Schuljahr wieder, dass ein ganzer Kosmos, eine ganz eigene kleine Welt in jedem der Jungen und Mädchen steckt. Sie sind so unterschiedlich wie wir Menschen eben sind. Wenn wir gut miteinander auskommen und zusammenleben wollen, dann müssen wir dafür etwas tun. Wir üben deshalb, einander gut und geduldig zuzuhören, die Meinung des anderen stehenzulassen und Kompromisse zu finden. Ich mache den jungen Leuten Mut, dass sie immer und immer wieder nachfragen; dass keiner die Wahrheit für sich gepachtet hat, sondern wir uns ihr nur annähern können. Dazu braucht es lebendige Diskussionen und die Bereitschaft, Neues zu hören und sich damit auseinanderzusetzen. Dafür ist die Schule ein besonders wichtiges Lernfeld. Was die Schüler hier erleben, das wird beeinflussen, wie sie sich später verhalten und mit anderen umgehen. So eine Form des Respekts und der Toleranz halte ich für einen Schlüssel in unserem Zusammenleben. Und der Religionsunterricht ist der richtige Ort, das zu üben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38407Als wir vor drei Jahren die Idee hatten, den Balkon auf der Südseite des Hauses mit einer Weinlaube zu überdachen, war ich zunächst ein bisschen skeptisch. Ich habe es mir zwar schön vorgestellt, dort an heißen Spätsommerabenden mit einem Glas Wein im kühlen Schatten zu sitzen, aber große Geduld für das Experiment hatte ich nicht. Aber die Garten-Rubrik in meiner Wochenzeitung hat mir Mut gemacht. Da steht nämlich: „Alles dauert ewig und die Hälfte misslingt. Trotzdem gibt es nichts Schöneres als Gärtnern.“ Also haben wir es angepackt. Zuerst musste die Glyzinie raus. Eine traurige Arbeit. Dann haben wir einen Weinstock gepflanzt. Und siehe da, schon im dritten Jahr haben sich vor kurzem an den Drähten überm Balkon zum ersten Mal die Ranken geschlossen. Am Balkongeländer hängen nun unzählige Reben mit Trauben ohne Ende.
Ich staune über die unbändige Triebkraft dieses einen Weinstocks. Nicht von ungefähr dient er wohl in der Bibel als Grundlage für eines der kraftvollsten Bilder, das Jesus für sich und seine Anhänger gefunden hat. Da sagt er einmal: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Wenn ich das höre und dazu das grüne Gewölbe auf meinem Balkon betrachte, schießt mir unmittelbar Kraft ein. So wie der Weinstock seinen Reben Kraft und Lebenssaft zufließen lässt. Und solche Kraft brauche ich als Christin in einer Zeit, in der so viel von schwindenden Kräften die Rede ist. Davon, dass Gemeinden kleiner werden und Kirchengebäude stillgelegt und verkauft werden müssen. Davon, dass die religiösen Bindekräfte in der Gesellschaft immer weiter abnehmen. Ich bin eigentlich ein sehr zuversichtlicher Mensch, aber dieser permanente Abwärtstrend setzt mir zu. Deshalb tut es mir gut, mich ab und zu in die Weinlaube zu setzen. Und dem nachzuspüren, dass es nicht meine gärtnerischen Bemühungen sind, die die Kirche am Leben halten werden. Dass die Kräfte dazu anderswo herkommen. Direkt aus der Erde. Direkt vom Schöpfer, der mit Christus einen starken Weinstock gesetzt hat. Und dass wir viele sind. Viele Reben an einem Weinstock. Wenn auch alles ewig dauert und die Hälfe misslingt. Trotzdem bleibe ich da dran.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38327Der kleine Ort Waterloo liegt rund 35 km südlich von Brüssel. Hier hat Napoleon im Jahr 1815 seine letzte Schlacht geschlagen und verloren, besiegt von einer alliierten Armee mit Soldaten aus sieben Ländern. Seither steht der Name des belgischen Städtchens im übertragenen Sinn für eine vernichtende Niederlage. „Da hab ich mein ganz persönliches Waterloo erlebt“, das heißt: An diesem Punkt bin ich mit einem Vorhaben endgültig gescheitert. Dass man mit Waterloo aber auch Siege einfahren kann, hat die schwedische Band Abba eindrucksvoll gezeigt. Mit ihrem gleichnamigen Titelsong haben sie 1974 den europäischen Grand Prix de la Chanson gewonnen. Mit Napoleon hält sich das Lied freilich nicht lange auf. Es erzählt eine andere Geschichte. Eine Liebesgeschichte.
Der englische Text lässt eine frisch verliebte Frau zu Wort kommen. Die singt davon, wie schön es ist, von der Liebe besiegt zu werden: „Meine Güte, ich hab zwar versucht, dich zurückzuhalten, aber du warst stärker. Es sieht ganz so aus, als müsste ich den Kampf nun aufgeben. Selbst wenn ich wollte, ich könnte dir nicht mehr entkommen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich diesem Waterloo zu stellen.“ Wenn sie das Lied kennen, es tausend Mal mitgesungen oder dazu getanzt haben, werden sie mir zustimmen: Was für ein fantastischer Untergang! Denn so ist die Liebe: Sie stellt die Welt auf den Kopf, dreht alle Maßstäbe um. Was aussieht wie eine Niederlage, ist in Wirklichkeit ein Gewinn auf der ganzen Linie. Im Abba-Sound: “I feel like I win when I lose.” Ich fühl mich gerade dann stark, wenn ich mich verliere.
Von solchen Verlusten, die sich wie ein Hauptgewinn anfühlen, erzählt auch die Bibel. Im Jesus O-Ton: „Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren. Wer sich aber zu mir bekennt und deshalb sein Leben verliert, wird es erhalten.“ Und dann setzt er noch eins drauf mit der Frage: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber mit einer beschädigten Seele durchs Leben läuft?“ Die Antwort liegt nicht nur für Napoleon auf der Hand: Das nützt gar nichts. Und dein ganz persönliches Waterloo muss noch längst nicht das Ende sein.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38326Sie ist ein echtes Schnäppchen, die Kirche in der kleinen Gemeinde Gretna auf der australischen Insel Tasmanien. Für umgerechnet 90 000€ ist sie zu haben samt Grundstück. Nun möchte ich nicht unbedingt in Australien wohnen, aber in einer umgebauten Kirche – das stelle ich mir durchaus spannend vor. Dort zu leben, wo Menschen 175 Jahre lang gesungen und gebetet haben. So lange war das historische Gebäude aus der Gründerzeit nämlich als Kirche in Betrieb, bis es für die 200 Einwohner im Dorf nicht mehr gebraucht wurde. Sie fahren jetzt zum Gottesdienst in den Nachbarort; das scheint überall auf der Welt eine ähnliche Entwicklung zu nehmen. Das ehemalige Gotteshaus steht leer und zum Verkauf. Es muss ein durch und durch von Segen getränkter Raum sein. Natürlich müsste er zuerst einmal grundlegend umgebaut werden. Das neugotische Fenster aus dem Chorraum macht sich sicher gut in einem Wohnzimmer. Und vielleicht könnte dort, wo jahrzehntelang der Altar gestanden hat, auch später wieder ein Tisch hin, um den alle sich zum Essen versammeln? Nur ein paar von vielen kniffligen Fragen, die zukünftige Bewohner werden lösen müssen.
Und dann wäre da noch die Sache mit dem Garten. Eine neue Eigentümerin erwirbt mit dem Kauf des historischen Gebäudes nämlich auch den umliegenden Friedhof. Und der soll weiterhin in Gebrauch bleiben und von den neuen Besitzern sogar gepflegt und verwaltet werden. Das ist wahrscheinlich nicht jedermanns Sache, jedes Mal beim Heimkommen den Weg über den Friedhof nehmen zu müssen. Andererseits könnte es auch eine schöne und lebensdienliche Übung sein, die Vergänglichkeit auf diese Weise ins alltägliche Leben zu integrieren. Ob der Tod etwas von seinem Schrecken verliert, wenn er im Vorgarten zuhause ist? Und ob die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, die hier gepredigt wurde, aus den Ritzen der alten Mauern kriecht und sich tröstlich um die Seele legt, wenn draußen jemand beigesetzt wird? Wer weiß das schon. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in einem biblischen Psalm. In diesem Sinne wünsche ich der Kirche St. Mary the Virgin kluge Bewohnerinnen und uns auf dem Weg zur letzten Ruhestätte eine gute Bleibe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38325Viele Jugendlich können es kaum erwarten, endlich 18 zu werden. Volljährig. Erwachsen. Keine Einschränkungen mehr. Und alles ist erlaubt. Aber das eigentlich magische Alter scheint ein ganz anderes zu sein. Jedenfalls, wenn man dem deutschen Schlager glauben will. Udo Jürgens und Peter Kraus besingen die 17jährigen. „17 Jahr, blondes Haar und ja, mit siebzehn träumt man noch vom großen Glück.“ Worin die besondere Magie dieser Altersstufe besteht, auch darin sind sich alle einig: „Mit siebzehn hat man noch Träume, da wachsen alle Bäume in den siebten Himmel.“ Und wie das so ist, wenn man erst einmal auf etwas gestoßen ist, entdeckt man sie plötzlich überall: die Siebzehnjährigen und ihre hochfliegenden Träume.
Einen hab ich sogar in der Bibel gefunden. Josef. Seine Geschichte ist ziemlich bekannt. Mit seinen 17 Jahren wird auch Josef als ein Träumer eingeführt. Er träumt zum Beispiel davon, dass seine zehn älteren Brüder, sein Vater und seine Mutter sich vor ihm verbeugen. Im Traum sind sie einmal als Garben, ein anderes Mal als Sonne, Mond und Sterne verkleidet, aber man muss gewiss kein Traumdeuter sein, um zu verstehen, was gemeint ist: Mit seinen 17 Jahren hält Josef sich für den Mittelpunkt der Welt. Aber seine Lebensgeschichte führt ihn nicht in die Mitte, sondern an den Rand, sogar an die äußersten Ränder der Gesellschaft, in Sklaverei, ins Gefängnis, mehr als einmal in Todesnähe und immer wieder sieht es so aus, als ob er für seine jugendlichen Träume bitter büßen müsste. Bis sie eines Tages dann doch in Erfüllung gehen. Da wendet sich sein Geschick. Josef hat im Ausland noch spät Karriere gemacht, und nun stehen seine Brüder tatsächlich als Bittsteller vor ihm. Sie erkennen ihn nicht einmal, so lang ist das Ganze schon her. Und auch er empfindet keinerlei Genugtuung an der Situation. Und das gefällt mir an der ganzen Geschichte: Dass die Spur seiner Träume sich durch sein ganzes Leben zieht, dass sie neben aller jugendlichen Spinnerei immer auch einen Funken Wahrheit enthalten und er ihnen durch alle Wandlungen und in allem Scheitern treu geblieben ist.
Und was ist aus Ihren Träumen geworden? Machen sie sich doch mal wieder auf deren Spur.
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