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In der Innenstadt von Baden-Baden standen mir auf einmal drei große Tafeln im Weg. Oben drüber ganz groß – wie eine Überschrift: „Bevor ich sterbe möchte ich – Punkt, Punkt, Punkt.“ Und drunter ganz viele Linien und ein Kästchen, in dem bunte Kreide lag. Passanten konnten mit der Kreide die freien Linien beschriften, und haben das auch ganz eifrig getan.
Dieses Kunstprojekt stammt von der US-Amerikanerin Candy Chang. In vielen Städten auf der ganzen Welt hat sie diese Tafeln schon aufgestellt und die Menschen dazu angeregt nachzudenken - über den Tod und damit auch über das Leben.
Wie kommt eine Künstlerin auf so eine Idee? Candy Chang hatte das Thema Tod nie so richtig auf dem Schirm - bis ganz plötzlich ein guter Freund von ihr gestorben ist. Das hat sie umgehauen. Und dann hat sie damit angefangen, diesen Tod auf ihre ganz spezielle Weise zu verdauen. Mit Kunst. Genauer gesagt: mit öffentlicher Kunst zum Mitmachen.
Die erste Tafel hat Candy Chang in New Orleans in ihrer Nachbarschaft aufgehängt und mit Schablone den Satzanfang „Before I die …“ draufgesprüht. Dann hat sie gewartet, was passieren würde. Die Idee ist aufgegangen: Nachbarn und Passanten haben die Aufforderung verstanden und munter drauf los geschrieben. Aus den Tafeln sind so richtige Kunstwerke entstanden. Und als es sich herumgesprochen hatte, sind Menschen von überall her gekommen, um mit bunter Kreide aufzuschreiben, was sie sich wünschen, wovon sie träumen oder was sie sich noch erhoffen.
Auch auf den Tafeln in Baden-Baden hat es funktioniert. Viele Passanten haben zur Kreide gegriffen und den Satz vervollständigt. Da steht zum Beispiel: Bevor ich sterbe möchte ich…
… anpflanzen ohne Ende
… meine eigene Geige gebaut haben
… Uroma werden
… mit Lisa die Welt erkunden
… beim Isle of Man Rennen mitmachen
… aus einem Flugzeug springen (mit Fallschirm)
… einen Tag ohne Schmerzen sein
… verstehen, warum ich hier bin
Das finde ich bemerkenswert: Candy Chang wollte eigentlich nur den Tod ihres Freundes verstehen und verkraften. Dabei hat sie massenhaft Menschen dazu angeregt, über den Tod und letztlich auch über das Leben nachzudenken. Mich übrigens auch. Denn vor so einer Tafel fragst du dich automatisch: Was ist mir im Leben besonders wichtig?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40761Astronautinnen und Astronauten, die die Erde aus dem Weltraum gesehen haben, haben uns Normalos etwas voraus: sie haben den „Overview-Effekt“ erlebt. Das muss etwas ganz besonderes sein. Viele von ihnen sagen, dieser Blick habe ihr Leben verändert.
Jetzt ist der Overview-Effekt auch für uns erlebbar. In der Karlsruher Stadtkirche hat der britische Installationskünstler Luke Jerram eine leuchtend blaue detailgetreue Nachbildung der Erdkugel aufgehängt. Mit Hilfe von NASA-Fotos ist die Oberfläche entstanden. Sieben Meter Durchmesser hat die Installation und soll eine ähnliche Wirkung auf die Betrachtenden haben wie das Original auf Astronauten.
Luke Jerram hat das Kunstwerk „Gaia“ genannt, Untertitel: „Erlebe das blaue Wunder!“. „Gaia“ ist in der griechischen Mythologie eine der ersten Gottheiten und die personifizierte Erde. Das blaue Wunder kann noch bis zum 6. Oktober täglich von 13 bis 22 Uhr in der Stadtkirche am Karlsruher Marktplatz angeschaut werden.
Der ehemalige deutsche Astronaut Ulf Merbold war 1983 mit der Raumfähre Columbia im All unterwegs. Er beschreibt den Augenblick, in dem er vom originalen Overview-Effekt gepackt wurde, so: „Beim ersten Blick zur Erde stockte mir der Atem. (…) Es war (…) die königsblaue Farbe der Atmosphäre, die mich verzauberte. Doch wie dünn war die lebenserhaltende Schicht! Hier war der Moment, von dem alle Astronauten erzählt hatten, die vor mir geflogen waren. Die Erde lag ausgebreitet unter uns. Ihre Schönheit war hinreißend - keine Sprache kann es beschreiben, doch wie verletzlich sah sie aus!“
Ulf Merbold beschreibt, wie außergewöhnlich schön und verwundbar die Erde von weitem wirkt. Der Blick könnte aber noch mehr veranschaulichen. Von weit oben sieht man zwar Flussläufe und Gebirgszüge, Wüsten und Meere, aber weder Ländergrenzen noch Einteilungen in Hautfarbe, Geschlecht oder soziale Herkunft. Die meisten Grenzen und Begrenzungen sind künstlich von den Menschen gemacht.
Und noch etwas: Der Blick aus dem Weltall kann dabei helfen, sich selbst realistisch einzuordnen. Ich muss mich nicht so wichtig nehmen, ich bin nur ein winziges Rädchen im Weltgetriebe. Umso erstaunlicher, dass die Bibel immer wieder betont, dass Gott jeden einzelnen von uns sieht und liebt.
Ich finde, es passt sehr gut, dass diese riesige leuchtende Erdkugel in einer Kirche hängt. Denn wenn ich da im Gotteshaus vor dem blauen Wunder stehe, dann fühle ich mich auf der einen Seite klein und hilflos. Auf der anderen Seite aber lädt sie mich ein, unsere Schöpfung mit einem ganz neuen Blick zu betrachten: mit dem liebenden Blick Gottes.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40760Eine meiner Lieblingsszenen spielt im Monty Python Kultfilm „Das Leben des Brian“. Da predigt der Protagonist Brian vom Fenster aus zu einer großen Menschenmenge, die sich unten in den Gassen von Jerusalem versammelt hat. Er ruft ihnen zu: „Ihr seid alle Individuen.“ Die Menschen antworten allesamt wie aus einem Mund „Ja, wir sind alle Individuen!“
Das witzige an der Szene ist, dass sie es so synchron brüllen wie bei einer Militärparade. Brian merkt, dass das irgendwie nicht zusammenpasst und versucht es nochmal: „Und ihr seid alle völlig verschieden!“ Die Menge antwortet wieder im Chor: „Ja, wir sind alle völlig verschieden!“
Auf den ersten Blick bilden sie eine wunderbare Einheit, aber eine, bei der die einzelnen Individuen nichts gelten. Die Einheit ist zur Schau gestellt und wirkt verordnet, wie etwa bei chinesischen Parteitagen.
Echte Einheit sollte anders aussehen, und zwar so, wie es Brian schon sagt: Sie besteht aus Individuen, die alle völlig verschieden sind. Und genau das macht Einheit so kompliziert und gleichzeitig so schön. Sie kann gelingen, wenn sich alle oder viele aktiv beteiligen, wenn sie Kompromisse aushandeln, sich zusammenraufen und um eine gute Lösung ringen. Dieser gemeinsame Weg hat natürlich Höhen und Tiefen und kann ganz schön zusammenschweißen.
In einer Demokatie ist das eigentlich ganz gut erreichbar. Aber inzwischen teilt sich unsere Gesellschaft in immer mehr Grüppchen und soziale Blasen, die praktisch nichts voneinander wissen, auch weil sie im Internet nur ihre eigenen Interessen angezeigt bekommen. Zum Beispiel Klimaschützer, Rechtspopulisten, bestimmte Milieus oder religiöse Orientierungen.
Auch Jesus war Einheit ein großes Anliegen. Im Johannesevangelium betet er kurz vor seinem Tod zu Gott und sagt: „Alle sollen eins sein.“ Und dann fügt er hinzu: „Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch alle in uns sein.“ Hört sich erst mal etwas kryptisch an, aber ist gar nicht so kompliziert. Einheit besteht immer aus vielen – Jesus, Gott, die Menschen. Und der Schlüssel zur Einheit heißt wohlwollend und rücksichtsvoll sein, den anderen beachten und anerkennen, oder einfach: die Menschen lieben.
Aber das macht Einheit auch schwieriger, denn man kann sie genauso wenig verordnen wie die Liebe. Gemeinschaft und Einheit entstehen nur dort, wo Menschen sich zuhören, sich füreinander interessieren, für ihre Sache einstehen können ohne andere zu verletzen, wo alle frei zustimmen und sich einbringen können - und das ist anstrengend. Aber was mit so viel Mühe ausgehandelt wurde, das kann am Ende auch wirklich tragen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40759Wenn ich als kirchlicher Mitarbeiter von Umweltschutz rede, dann gibt es immer wieder Leute, die tun das ab. Sie behaupten, das sei nur ein Thema für Grüne und Umweltschützer. Ich finde aber, Umweltschutz ist ein Thema für alle und ganz besonders für Christen. Für mich hört meine Religion nicht an der Kirchentür auf - im Gegenteil: da fängt sie erst richtig an. Gott ist ja auch nicht nur in der Kirche zu finden, sondern überall.
Darum geht es auch in einer kurzen Geschichte. Sie handelt von einem Forscher, der mit einem Einheimischen eine arabische Wüste durchquert. Als die Sonne untergeht breitet der Araber einen Teppich auf dem Boden aus und betet. Der Forscher fragt: „Was machen Sie da?“ Der Araber antwortet: „Ich bete zu Gott.“ Der Forscher bohrt weiter: „Haben Sie diesen Gott denn jemals gesehen oder betastet oder befühlt?“ Der Araber: „Nein“. Der Forscher schüttelt den Kopf: „Wie können Sie dann nur an ihn glauben?“
Am nächsten Morgen schaut der Forscher aus seinem Zelt und sagt: „Aha, hier ist heute Nacht ein Kamel gewesen!“ Sein Begleiter fragt: „Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie das Kamel gesehen oder betastet oder befühlt?“´ Der Forscher: „Nein, aber man sieht doch rings um das Zelt die breiten Fußspuren!“ Der Araber muss schmunzeln und weist zum Horizont. Dort geht gerade die Sonne in all ihrer Pracht auf. Dann sagt er: „Schauen Sie nur: dort ist die Fußspur von Gott.“
Wie Recht der Araber doch hat: Gott selbst kann ich zwar nicht sehen, aber wie großartig muss er sein, wenn ich mir anschaue, was er alles geschaffen hat: Die Sonne, das Weltall, unsere Erde und wie alles zusammenwirkt. Die vielen tollen Landschaften, Pflanzen und Tiere. Und auch zu was wir Menschen inzwischen fähig sind.
Das alles sind für mich Spuren Gottes. Auf die möchte die so genannte „Schöpfungszeit“ aufmerksam machen. Sie dauert vier Wochen, von Anfang September bis Anfang Oktober und wird in der evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirche gefeiert. Die christlichen Kirchen möchten die „Schöpfungszeit“ so bekannt machen, wie z.B. die Fastenzeit oder den Advent. Ich zweifle, ob das gelingen wird, aber ich hoffe es. Man kann gar nicht genug Werbung dafür machen, aufmerksam zu werden für alles, was die Natur uns bietet. Und dafür, dass die Welt mit ihrem ganzen Reichtum noch möglichst lange erhalten bleibt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40758Versteckspielen mit Papa gehört für meine Kinder zu den Highlights. Manchmal brauchen sie ganz schön lange, bis sie mich haben. Und auch diesmal ist es wieder so. Ich stehe strumpfsockig auf dem Fensterbrett in der Küche und bemühe mich, in eine Falte des Vorhangs zu passen. Da ruft es: „18, 19, 20 - ich komme“, und ich richte mich ein auf eine unbequeme Wartezeit.
Was ich schon alles gesucht habe! Mein Zeugnis oder den Generalschlüssel für die Kirche zum Beispiel. Wenn so was weg ist, dann falle ich erst mal in eine Art Schockstarre. Und dann fange ich an, wie wild zu suchen. Unbeschreiblich ist der Moment, wenn ich das lang gesuchte Teil dann wiederfinde. Und manches Verlorene bleibt auch verschollen: der praktische Inbus-Schlüssel mit Griff zum Beispiel oder die Bob Marley CD, von der ich nur noch die Hülle habe.
Gesucht wird aber noch mehr, viel Existentielleres: Der richtige Beruf zum Beispiel. Oder die Liebe des Lebens. Manche suchen eine Heimat, andere die richtige Therapie oder gar den Sinn, warum man überhaupt lebt und hier ist.
Meine Kinder durchstreifen die Küche. Ich halte die Luft an und mach mich noch ein bisschen dünner. Puh, nochmal gut gegangen. Ich kenne Kinder, die sind totunglücklich, wenn sie beim Versteckspielen nicht gefunden werden. Und vielleicht ist das auch eine Sehnsucht von uns Menschen im Leben: dass wir gefunden werden - von einer lieben Partnerin oder einem Partner, von jemandem, der mich so nimmt, wie ich bin oder letztlich auch von Gott.
Ich glaube an einen Gott, der mich gerne findet. Und natürlich ist es sinnlos, sich vor ihm zu verstecken. Das drückt auch der Psalm 139 aus dem Alten Testament aus. Dort heißt es: „(Gott,) du bist vertraut mit all meinen Wegen. (…) Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen (…). Wohin kann ich gehen (…), wohin vor deinem Angesicht fliehen? Wenn ich hinaufstiege zum Himmel - dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt - siehe, da bist du. Nähme ich die Flügel des Morgenrots, ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten (…).“
Das hört sich ein bisschen nach aussichtslosem Versteckspiel an. Aber sich finden lassen hat hier nichts mit erwischen zu tun, nichts mit einem übellaunigen Überwachungsgott, sondern mit bergen, begleiten und behüten - so wie bei mir und meinen Kindern.
„Papa, hab dich!“ Mist, so war das jetzt nicht gemeint.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40757Was ist wichtiger - Geld oder Liebe? Diese Frage hat mich im Sommer in St. Tropez eingeholt, wo ich mit VW-Bus und Familie unterwegs war.
Wir hatten unsere Handtücher zufällig in der Nähe eines ziemlich exklusiven Beach-Clubs ausgelegt. Und während meine Frau ein Buch liest, und die Kinder im Meer nach Steinen tauchen, beobachte ich, wie immer wieder ein paar Leute mit einem motorisierten Schlauchboot von ihren Luxusyachten abgeholt werden und am Steg des Beach-Clubs an Land gehen. Dort trinken sie einen Aperol, essen zu Mittag oder fläzen sich in eine Lounge mit Sonnenschirm. Die kostet in der ersten Reihe 150,- pro Person - das hat meine Frau rausgekriegt. „Kein schlechtes Leben“, denke ich und stelle mir vor, was ich mir alles leisten würde, wenn ich so viel Geld hätte. Geld macht sicher vieles einfacher. Das merkt man vor allem, wenn es knapp ist.
Und dann beobachte ich noch eine Szene, ein paar Handtücher weiter. Da liegen zwei junge, frisch Verliebte am Strand. Sie sind offenbar sehr glücklich. Haben nichts als ein Handtuch und eine Wasserflasche dabei. Sie leben sprichwörtlich von Luft und Liebe - wie ein Gegenentwurf zu den Leuten im Beach-Club. Und sie scheinen nicht unglücklicher zu sein – im Gegenteil. Echte Liebe ist doch eigentlich das höchste der Gefühle. Und ich meine jetzt nicht nur die Liebe zu einer Partnerin, sondern auch zu den Eltern oder zu den eigenen Kindern. Für manche ist auch die Liebe zu Gott etwas ganz Großes.
Später laufen wir am Hafen von St. Tropez entlang. Die haushohen Luxusyachten dort sprengen jeden Rahmen, nicht nur finanziell, denn teilweise verdecken sie sogar die Sicht auf die Stadt. Aber dann entdeckt meine Frau eine Skulptur aus Metall. Ein Männchen, das knapp überm Boden schwebt. In der linken Hand einen schweren Geldsack, der es zu Boden zieht. Und in der Rechten ein Luftballon-Herz, das nach oben zieht. „Geld oder Liebe?“, scheint es zu fragen. Geld kann runterziehen, Liebe nach oben. Während ich die Skulptur betrachte, denke ich: Die passt gut hier her. Denn gerade wer viel Geld hat, sollte ab und zu überlegen, wie wichtig man es nimmt, ob es mich regiert, ob es mich gierig oder oberflächlich macht - runterzieht. Und wer nicht so viel davon hat, darf sich immer wieder bewusst machen, welch wunderbares Geschenk doch die Liebe ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40756Ausgerechnet Mose heißt der gigantische mobile Deich, der die Stadt Venedig regelmäßig vor Überflutungen schützt. Mose, wie der Mann aus der Bibel. Seit vier Jahren ist er in Betrieb und seither schon 84-mal zum Einsatz gekommen. Bei Hochwassergefahr werden seine 78 leuchtend gelben Fluttore vom Meeresboden auf 30 Meter Höhe hochgeklappt und riegeln so die Lagunenstadt auf einer Länge von knapp 2 km vom offenen Meer ab.
Ich wusste gar nicht, dass es diese Vorrichtung überhaupt gibt, und war begeistert, als ich neulich davon gelesen habe. Und auch der biblische Namensgeber hätte wohl seine helle Freude an dem technischen Wunderwerk gehabt. Zwar ist der venezianische Mose nur die Abkürzung von „Modulo Sperimentale Elettromeccanico“, was auf Deutsch - und reichlich untertreiben - so viel heißt wie ein „elektromechanisches Versuchsmodul“, aber es besteht kein Zweifel, dass Mose zwei mit immensem technischem Aufwand genau das zuwege bringt, was Mose eins einst allein durch das Heben seines Armes bewirkt haben soll: Er hat, so steht es in der Bibel, das Meer geteilt. Hat dafür gesorgt, dass eine Gruppe von Menschen aus sklavischen Verhältnissen im alten Ägypten entkommen konnte. Buchstäblich in letzter Sekunde, bevor die Streitkräfte des Pharaos die Flüchtigen eingeholt hatten, hat Mose die Fluten geteilt.
Die Israeliten gelangen sicher ans rettende Ufer; die Verfolger kommen um, als die unsichtbaren Dämme kurz darauf brechen und das Wasser zurückkommt. Und ganz egal, was sich damals tatsächlich abgespielt hat, diese Geschichte ist für Generationen von Menschen zur Urerfahrung von möglicher Rettung aus höchster Not geworden. Und ein neuer Mose tut nun dasselbe für die Venezianer. Ihre Stadt sinkt jährlich um drei bis vier Millimeter ab. Und draußen steigen die Meeresspiegel. Aber Mose hält das Unheil fern. Er ist für mich ein wuchtiges Beispiel für den zwar nicht von Mose, aber von Hölderlin überlieferten Satz: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40702Im biblischen Wochenabschnitt für den kommenden Schabbat treffen wir auf einige bedeutende Passagen, in denen die wesentlichen Aspekte unseres Judentums auf den Punkt gebracht werden. Uns verbindet die Tora. Wenn wir den am Sinai geschlossenen Bund annehmen, haben wir ein Volk, zu dem wir gehören (5.B.M. 29:9,13-14). Unsere Tradition lässt uns nicht den Raum, Unwissenheit vorzutäuschen. Die Tora bietet uns die Möglichkeit, das Universum und unseren Platz darin zu verstehen. Und wir haben alle die Fähigkeit, sie zu begreifen. Die Tora erklärt uns, dass wir in unserer Wahl frei sind. Jeden Tag treffen wir Entscheidungen darüber, wie wir leben wollen. Und dabei geht es auch um Achtsamkeit. Wir müssen stets darauf achten, was um uns herum geschieht. Denn je tiefer wir das Hier und Jetzt wahrnehmen, desto bewusster wird unser Handeln und Verhalten sein. Je bewusster und überlegter wir leben, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns von spontanen Stimmungen und momentanen Launen leiten lassen. Jüdisch zu sein bedeutet zu wissen, dass wir uns in Verantwortung für diese Welt sehen und dass es in unseren Möglichkeiten liegt, die damit zusammenhängenden Verpflichtungen zu erfüllen. Während wir uns auf unser Neujahrsfest am kommenden Donnerstag und auf die mit dem neuen Jahr beginnenden Hohen Feiertage vorbereiten, mögen uns diese Überlegungen Kraft und Orientierung geben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40601
„Ein kleiner Einstein“ habe ich damals unter das Foto geschrieben. Mein ältester Sohn ist darauf vielleicht fünf Jahre alt und hat sich die viel zu große Brille seines Vaters auf die Nase gesetzt. Dadurch blickt er nun sehr gelehrt in die Welt. Und sieht aus wie ein kleiner Einstein.
Was auf dem Foto wie ein Scherz daherkommt, war vor zwanzig Jahren in vielen Kindertagesstätten im Land Programm. Beim sogenannten „Einstein-Konzept“ gab es für jedes Kind einen individuell abgestimmten Bildungsplan. Die Stärken sollten gezielt gefördert, die Schwächen ausgeglichen werden. Der Blick auf das einzelne Kind, seine Interessen und Bedürfnisse stand im Mittelpunkt. Zwei Jahrzehnte später schlägt das Pendel nun wieder in die andere Richtung aus: „Wir brauchen mehr Gemeinschaftssinn, mehr wir“, sagt die Leiterin einer Stuttgarter Kita. „Mehr Rituale, mehr gemeinsames Singen und Spielen, mehr verlässliche Strukturen im Kindergartenalltag.“ Mit Sorge blickt sie auf eine erwachsene „Ich-Gesellschaft“, in der vor allem die Frage zählt „Was nützt es mir?“
Ich schaue wieder das Bild in meinem Fotoalbum an: Aus dem kleinen Einstein ist später ein begeisterter Pfadfinder geworden und heute ein junger Mann, der eigene Interessen verfolgt und sich neben seinem Studium ehrenamtlich in einem Berliner Gemeinschaftsprojekt engagiert. Und ich denke, es braucht doch wohl immer beides: Eine gute individuelle Förderung und eine, die die sozialen Kompetenzen auch nicht aus dem Auge verliert. Lauter kleine Einsteins, das kann ja nicht funktionieren.
Im neuen Testament findet sich ein schönes Bild für eine gelingende Gemeinschaft. Der eine Stein, der Einstein, auf den es da ankommt, ist Christus. Er bildet ein tragfähiges Fundament. Und von den Menschen, die auf ihn bauen, heißt es: Lasst euch selbst als lebendige Steine zu einer Gemeinschaft aufbauen. So wird ein Haus draus.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40701Ameisen sind nicht nur faszinierende Tierchen, sondern auch ganz hervorragende Lehrmeister. Das hatte sich schon in biblischen Zeiten herumgesprochen. Im Alten Testament findet sich dazu im Buch der Sprüche folgende Aufforderung: „Geh und beobachte die Ameise, du Faulenzer! Nimm dir ein Beispiel an ihr! Die Ameisen haben keine Aufseher, niemand befiehlt ihnen und niemand treibt sie an. Trotzdem sorgen sie im Sommer für ihre Nahrung und sammeln Vorräte zur Erntezeit. Wie lange willst du also noch liegen bleiben? Wann kommst du endlich aus den Federn?“
Herrlich! 3000 Jahre später hat sich aus solch feinen Beobachtungen ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt: die Bionik. Da wird erforscht, wie wir die geheimen Baupläne der Natur für technische Geräte oder Prozesse nutzen können. Wenn jetzt im Herbst z.B. die Samen der Ahornbäume wie kleine Propeller durch die Luft segeln, dann zeigen sie, wie auch Flugzeugpropeller funktionieren. Der Rumpf großer Überseeschiffe könnte in Zukunft so beschaffen sein wie Seerosenblätter oder wie die Haut von Haifischen - damit sie leichter und schneller durchs Wasser gleiten und damit Energie sparen. Und nun zurück zur Ameise: Mit ihrem vorbildlichen Verhalten könnte sie uns helfen, ein richtig großes Problem zu lösen. Denn Bioniker haben gerade entdeckt, dass Ameisen nie im Stau stehen. Beim Bau ihrer engen Tunnel stehen sie sich nicht gegenseitig im Weg. Was von außen betrachtet, wie ein undurchdringliches Gewusel aussieht, ist in Wirklichkeit bestens organisiert: Einzelne Ameisen drehen nämlich wieder um, wenn sie auf ihrem Weg zum Arbeitsplatz nur ein wenig Stau wahrnahmen.
Fazit: Wenn alle sich für eine gemeinsame Aufgabe einsetzen, ist das am effektivsten, wenn manche einfach abwarten, bis sie dran sind oder jemanden ablösen können. Optimale Arbeitsleistung bei gleichzeitiger Stauvermeidung! Was für ein geniales Prinzip! Da kann ich den biblischen Ratschlag ja nur wiederholen: Geh und beobachte die Ameise. Und steh nie mehr im Stau!
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