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25DEZ2023
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Eine Weihnachtskrippe versammelt viele verschiedene Menschen und Tiere. Da ist zunächst einmal das übliche Personal: Maria, Josef, das Jesuskind, Ochs und Esel, Schafe und Kamele. Dann sind da die Hirtinnen und Hirten und die drei Weisen aus einem fernen Land im Osten. In diesem Jahr habe ich noch zwei andere Figuren symbolisch dazu gestellt. Es sind zwei junge Männer aus Eritrea. Sie haben mir in diesem Jahr einen besonderen Weihnachtsmoment geschenkt. Und das kam so:

Ich bin abends nach der Arbeit mit meinem Fahrrad noch zum Supermarkt gefahren und habe eingekauft. Als ich bezahlen will, kann ich meinen Geldbeutel nicht finden, obwohl ich überall suche. Hosentaschen, Manteltaschen, Rucksacktaschen. Nichts. Meine Geldbörse ist wie vom Erdboden verschwunden. Nachdem ich noch zweimal alles abgesucht und sogar den Rucksack ausgeleert habe, wird mir klar: Die Geldbörse ist weg, mit allen Bankkarten, mit Personalausweis, Bargeld und allem Drum und Dran.
„Tief ein- und ausatmen!“, ermahne ich mich selbst. „Sonst flippe ich aus!“

Mehrfach bin ich danach mit dem Fahrrad die Strecke von meinem Büro zum Supermarkt und wieder zurück abgefahren, obwohl es geregnet hat und ich kaum etwas gesehen habe. Aber mein Geldbeutel bleibt verschwunden. Ich versuche mich zu beruhigen: „Es gibt Schlimmeres auf der Welt!“, sage ich mir. Aber der Gedanke tröstet mich nicht. Schließlich entscheide ich mich, erst einmal nach Hause zu fahren und mir einen Kamillentee zu kochen. Einmal durchschnaufen, dann zur Polizei gehen, um den Verlust zu melden. Dann Bankkarten sperren und sich darauf einstellen, dass alles ewig dauern wird, bis ich meine Papiere wieder zusammen habe.

Der Tee zieht noch, als es bei mir an der Tür klingelt. Zwei junge Männer, beide „Person of Color“, also mit dunkler Hautfarbe, grüßen mich freundlich und fragen mich nach meinem Namen. In der Hand halten sie meinen Geldbeutel, den sie irgendwo auf der Straße gefunden haben. Die beiden lachen mich an, und ich hätte sie umarmen können.

Beide erzählen mir stolz, wie sie mit Hilfe meines Personalausweises meine Adresse herausgefunden haben. Für sie sei es eine Ehrensache, extra den Umweg zu mir nach Hause zu machen, um mir den Geldbeutel persönlich zu überreichen. Wir unterhalten uns noch eine Weile. Sie heißen Luam und Jemal und sie kommen aus Eritrea. Von dort sind sie schon vor etlichen Jahren geflohen, da sie aus politischen Gründen verfolgt worden sind. In Deutschland haben sie Sicherheit, Jobs und eine neue Lebensperspektive gefunden. Ich lade sie zu mir auf eine Tasse Tee ein. Aber da winken sie ab. Sie sind schon verplant für den Abend. Ich bedanke mich herzlich, gebe den beiden ein ordentliches Trinkgeld in die Hand, dann ziehen die beiden fröhlich ihrer Wege.

Ich schaue ihnen nach und denke: Luam und Jemal werden auf der Straße vermutlich häufiger von der Polizei kontrolliert als Paul und Ben von nebenan. Und wahrscheinlich hätte auch ich selbst sie eher kritisch beäugt und misstrauisch auf meine Geldbörse aufgepasst. Der Gedanke beschämt mich. Und gleichzeitig - und umso mehr - feiere ich diesen Moment der Freude: Denn diese beiden jungen Männer sind an jenem verregneten Abend für mich definitiv zu meinen persönlichen Weihnachtsboten geworden. Sie haben mich an den Geist von Weihnachten erinnert: An Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit.

Diese Erfahrung zeigt: Jedes Jahr beziehen ganz unterschiedliche Menschen die Weihnachtsbotschaft auf ihr eigenes Leben und werden dadurch selbst zum Teil der Weihnachtsgeschichte. Auf diese Weise kommen zum ursprünglichen Krippenpersonal immer wieder andere Menschen hinzu: Geliebte Menschen, die wichtig sind im Leben und ohne deren Einsatz so ein Weihnachtsfest gar nicht funktionieren würde: Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern nachts auf der Intensivstation. Personal in Bussen und Bahnen, in diakonischen Einrichtungen und Schulen, in der Dienstleistung und in Betrieben. Die Hebamme, die bei der schwangeren Frau ist, wenn sie das Kind gebiert. Sozialarbeitende, die Drogensüchtige oder Wohnungslose unterstützen. Polizei, Feuerwehr und so viele andere, die haupt- oder ehrenamtlich dafür sorgen, dass menschliches Zusammenleben gelingt, und zwar mit Kopf, Herz und Hand.
Und so kommt auch Jesus jedes Jahr in der Heiligen Nacht auf die Welt - mitten hinein ins konkrete Leben.

Damit werden diejenigen, die Weihnachten feiern, zu modernen Hirtinnen und Hirten, die - wie damals - von den Engeln gerufen werden und die Geburt Jesu bezeugen.

In diesem Jahr sind das für mich Luam und Jemal aus Eritrea und für Sie mögen es andere sein, die mit an der Krippe stehen und die Weihnachtsbotschaft in ihr Lebensumfeld bringen. Ihnen allen wird an Weihnachten zugerufen: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch große Freude. Gott ist Mensch geworden und bringt Licht und Hoffnung in die Welt!“

Diese Weihnachtsbotschaft wird auch in den vielen Krippen weltweit immer wieder neu dargestellt. Und damit kommt die Weihnachtsgeschichte tatsächlich ganz handfest auf die Marktplätze und in die Wohnzimmer der Menschen. Mit Holzfiguren, Krippe und Stroh, Ochs und Esel und dem Stern über dem Stall.

Die Krippendarstellungen spiegeln dabei ganz selbstverständlich das jeweilige soziale Umfeld, die Region und Kultur. Da wird Jesus zum südafrikanischen, mexikanischen oder koreanischen Baby. Das ist nicht nur Folklore, sondern zeigt eindrücklich und konkret: Gott wird an Weihnachten einer von uns, nimmt menschliche Gestalt an, bekommt menschliche Züge, und die sehen dann halt auch so aus wie die Menschen: ganz verschieden.

Deshalb finde ich die Krippendarstellungen in der Advents- und Weihnachtszeit auch so spannend. Es berührt mich, mit wie viel Liebe diese Krippen geschnitzt, bemalt, aufgestellt und mit Figuren gefüllt werden. Erst sind es nur Ochs und Esel und ein paar Hirten auf dem Feld. Maria und Josef kommen am Heiligen Abend dazu und das Jesuskind wird in der Heiligen Nacht dazugelegt. Danach kommen die Hirten und schließlich am 6. Januar die drei Weisen aus einem fernen Land im Osten. Über allem wacht der Stern und die Tiere, die alles im Blick behalten.

In manchen Städten gibt es ganze Krippenwege durch die Innenstädte. Dort werden in der Adventszeit Krippen von ganz verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern aufgestellt. Ich erinnere mich an eine Krippe, die auf einem Rettungsboot voll mit Geflüchteten auf dem Wasser stand, eine andere Krippe hat mitten auf einer Müllhalde gelegen. Es gibt Krippen in Zelten, in Iglus, in einem Hochhaus oder in einer Garage. Diejenigen, die die Krippen bauen, orientieren sich an ihren eigenen Lebensorten.  

Es sind aber nicht nur die Orte der Krippen, die von alters her an verschiedene Lebensorte in der ganzen Welt versetzt worden sind.

Es sind auch die Hauptfiguren der Geschichte, die dem eigenen Lebensumfeld angepasst werden. Da gibt es Figuren eingepackt in dicke Mäntel und mit Gesichtern von Inuit, also von den Menschen, die im Norden Kanadas leben. Es gibt Figuren mit asiatischen Gesichtszügen, die Saris und Seidentücher tragen. Es gibt Figuren mit Alltagskleidern, die auch ich tragen könnte: Jeans, Pullover, Sportschuhe in einer Wohnung irgendwo in Europa. Und dann gibt es Figuren, deren Haut schwarz ist und die vor afrikanischen Zelten das neugeborene Kind bestaunen und feiern. Und es gibt dunkelhäutige Menschen vor einem Beduinenzelt oder einer einfachen Unterkunft, wie sie auch heute noch in Bethlehem zu finden sind. Die Gesichtszüge sind verschieden. Aber allen steht die Freude über das neu geborene Kind ins Gesicht geschrieben.

„Ja“, sage ich mir, „so kommt die Weihnachtsbotschaft immer wieder neu in die Welt.“ Indem überall auf der Welt der Stern von Bethlehem in die Leben der Menschen hineinleuchtet und von etwas Besonderem erzählt. Von einem einfachen Kind, das geheimnisvoll und wehrlos zu sein scheint und von dem trotzdem ein intensives Licht und eine besondere Kraft ausgeht.

Die Geschichte erzählt von der Zuversicht, dass nicht Militärmacht und Gewalt, sondern ein friedliches und respektvolles Miteinander, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit wichtig sind im Leben. Egal ob die Weihnachtsboten Hirten aus Bethlehem sind oder Luam und Jemal aus Eritrea, egal ob sie aus Nazareth, Bangkok oder Buenos Aires kommen, egal ob sie schwarz sind oder weiß, jung oder alt, männlich, weiblich oder divers, queer oder hetero. Sie alle werden zu Botinnen und Boten dieser wunderbaren Geschichte von dem Kind in der Krippe.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen friedliche und gesegnete Weihnachten!

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01NOV2023
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Alexander Foitzik spricht mit Prof. Stephan Goertz 

Alexander Foitzik:

Mit dem heutigen Fest „Allerheiligen“ gedenkt die katholische Kirche der Gemeinschaft der Heiligen, also all der Männer und Frauen, die  - oft auch unbequem und anstößig - Zeugnis von ihrem Glauben gegeben haben, in dem was sie  gesagt oder getan haben.

Über das Fest Allerheiligen, seine Botschaft spreche ich heute mit Stephan Goertz. Er ist Professor für Moraltheologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Herr Professor Goertz, gemeinsam mit Ihrer Mitarbeiterin Stephanie Höllinger haben Sie gerade über den heiligen Sebastian ein Buch veröffentlicht. Eine wirklich spannende Geschichte, über die wir reden müssen. Zuerst aber, was bedeutet für Sie dieses Fest „Allerheiligen“ – ist das für sie eher eine schöne Tradition im Kirchenjahr? Oder hat dieses Fest Allerheiligen für Sie einen besonderen aktuellen Bezug, eine besondere Botschaft für uns heute?

Prof. Stephan Goertz:

Es ist zunächst in der Tat ein Fest mit vielen Erinnerungen an meine Kindheit. Im katholischen Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin, war es Familientradition, an diesem Tag die Gräber der verstorbenen Verwandten zu besuchen – da ging es (nach dem Gottesdienst) mit dem Auto von einem Friedhof zum anderen. Das war gewissermaßen Pflichtprogramm.

Gut katholisch, würde ich sagen: Traditionen werden gepflegt – ihr tieferer Sinn liegt verborgen.

Als Theologe denke ich heute: die Verstorbenen, an die wir an ihren Gräbern gedacht haben, und die Heiligen – das sind nicht zwei voneinander getrennte Gruppen. Menschen sind außergewöhnliche Lebewesen – und insofern Heilige. Christlich gesprochen: Gott betrachtet den Menschen als sein Ebenbild und achtet damit dessen Würde. Und so ist jeder Mensch als heilig zu betrachten und zu respektieren.

Alexander Foitzik:

„Sebastian: Märtyrer – Pestheiliger – queere Ikone“ – so lautet der vielsagende Titel Ihres Buches: Sebastian war/ist ein Märtyrer der frühen Kirche Roms. Streng genommen wissen wir historisch nicht allzu viel über ihn. Und doch verehrt ihn später ganz Europa als Seuchenheiligen. Danach gerät er wieder in die zweite Reihe des Heiligen-Kosmos. Herr Professor Goertz, Sie sprechen in Ihrem Buch vieldeutig vom „Überlebenskünstler“ Sebastian. Was zeigt sich in dieser Heiligen-Karriere Sebastians? Aus welchen Erwartungen, Hoffnungen, Bildern heraus schreiben sich solche Heiligen-Geschichten. Was sagt dies jeweils über die Rolle der Heiligen, zwischen Himmel und Erde?

Prof. Stephan Goertz:

Wir haben es im Buch so bezeichnet: aus dem Sebastian der Geschichte wird der Sebastian des Glaubens. Am Anfang steht ein historisches Ereignis, auch wenn dieses für uns kaum Konturen hat. Christen und Christinnen werden seit der Antike wegen ihres Glaubens verfolgt und getötet – man nennt sie Märtyrer. Über die Märtyrer heißt es in der Bibel, dass sie nicht gerichtet werden – sondern bereits bei Gott sind. Die Märtyrer sind Sieger, nicht Besiegte. So werden sie zu den Heiligen, denn heilig sein, das ist in der religiösen Vorstellungswelt eine Eigenschaft, die auf einer göttlichen Erwählung, einer besonderen Nähe zu Gott beruht. Sie sind bei Gott. Das ist der entscheidende Gedanke. Und wenn sie bei Gott sind, dann können sie dort Fürsprache halten – dann können sie unsere Anliegen vor Gott tragen. Sie sind also Mittlerfiguren; zwischen Gott und den Menschen, zwischen Himmel und Erde. Heilige sind hybride Wesen: tot und lebendig zugleich, im Himmel und auf Erden präsent.

Die Verehrung der Heiligen erzählt von den Hoffnungen der Menschen. Etwa von der Hoffnung, dass es jemanden gibt, der sich bei Gott für mich einsetzt, der wirksam um Hilfe bitten kann, der verlässlich an meiner Seite steht.

So ist es auch bei Sebastian. Sein Aufstieg zum populären Heiligen ist mit einer Szene seines Martyriums verbunden. Als ihn die Kaiser um das Jahr 300 zum Tode verurteilen, weil er sich als hoher Offizier heimlich für die Christen eingesetzt hat, soll er durch Bogenschützen hingerichtet werden. Aber Sebastian überlebt auf wundersame Weise die eigentlich tödlichen Pfeile. So erzählt es seine Legende. Jahrhunderte später erinnern sich Menschen an diese Geschichte.

Sie erinnern sich an ihn in Zeiten der Pest, die Europa im Mittelalter immer wieder heimsucht. Denn Pfeile stehen für die Seuche, die den Menschen trifft, die angeflogen kommt, die Leid und Tod bringt. Wer könnte also besser als Sebastian in der Not um Fürsprache angerufen werden? Er ist von Pfeilen getroffen, wie wir, aber es hat es überlebt! So ist seine Figur eine Figur der Hoffnung.

Alexander Foitzik:

Im 19. Jahrhundert wird schließlich Sebastian quasi zu neuem Leben erweckt: als Identifikationsfigur für Homosexuelle und andere Stigmatisierte, in Kirche und Gesellschaft. Eine für Sie überraschende Entwicklung?

Prof. Stephan Goertz:

Ja in der Tat. Aus dem Sebastian des Glaubens wird Sebastian die Ikone. Sie beginnt vor gut zweihundert Jahren und dauert bis heute an. Wieder spielen die Pfeile die entscheidende Rolle.

In Darstellungen des Martyriums treffen die Pfeile den nackten Körper Sebastians. In der Renaissance und im Barock wird Sebastian zudem immer jünger und schöner. Ihn treffen die Pfeile, aber er wird nicht besiegt; und Schönheit kann heilende Kräfte entfalten, so dachten manche. Dieser schöne, junge Sebastian, der in der Qual Anmut bewahrt, wird zur Identifikationsfigur für schwule Männer. Sie bewundern seine Schönheit und sie erkennen sich in Sebastian wieder: sie sind Opfer von Missachtung und Gewalt, sie werden bestraft für das, was sie sind. Als mit AIDS, wie es verächtlich heißt, eine Schwulen-Pest ausbricht, wird Sebastian zur Protestfigur, die die Stigmatisierung von Homosexuellen anklagt.

Alexander Foitzik:

Wie bleibt Sebastian eigentlich Sebastian, trotz dieses Wandels? Oder umgekehrt gefragt: Was ist so zeitlos attraktiv an dieser „Figur“, dass er so offen ist für zeitbedingte Auslegungen? Und womöglich ist seine Geschichte ja noch nicht auserzählt….

Prof. Stephan Goertz:

Es gibt eine Darstellung Sebastians von dem deutschen Künstler Stephan Balkenhol – seine Skulptur zeigt einen von Pfeilen getroffenen Jedermann in weißem Hemd und schwarzer Hose; Titel des Kunstwerkes: Märtyrer.

Balkenhol schreibt dazu: „Jeder könnte im Prinzip zum Märtyrer werden, wenn er sich angreifbar macht, indem er das Risiko eingeht, sich für seine Überzeugung einzusetzen – mit seiner ganzen Existenz.“ Es kann jede und jeden treffe. Diese menschliche Grunderfahrung verbindet den Sebastian der Antike mit uns heute. Wir Menschen sind sehr verletzliche Wesen – an Körper und Seele. So verwundert es nicht, dass Sebastian kein in der Geschichte verschwundener Heiliger ist. Sondern sehr lebendig. Seht, was Menschen widerfährt – Menschen, die doch in Frieden und Freiheit leben wollen, weil es ihrer Würde entspricht. Die christliche Antwort, die an Sebastian haftet, lautet: die ungerecht Verfolgten und Gemarterten werden von Gott gerettet werden. Der Kern von Hoffnung: Das letzte Wort der Geschichte wird nicht Zerstörung sein.

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08JUN2023
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Bevor ich als evangelische Pfarrerin etwas zum katholischsten aller christlichen Feiertage sage, nämlich zum heutigen Fronleichnamsfest, möchte ich gerne die ehemalige Hamburger Bischöfin und erste Frau in einem Bischofsamt, Maria Jepsen, zitieren. Sie hat aus meiner Sicht sehr schön und treffend formuliert, wie wir Protestanten auf andere Konfessionen blicken. Sie schreibt:   

„Unter den Kindern Gottes sind die Protestanten die Ernsten. Gott hat so viele Kinderscharen. Die Protestanten aber sind die stillen unter ihnen, selten ausgelassen und kaum prächtig gekleidet. Die Belesenen sind sie, die fast nie ohne ihr Buch unterwegs sind; sie sind die, die, wenn die andern lachen oder singen oder springen, sich unter einen Baum setzen und nicht mithüpfen, sondern ihr Buch aufschlagen und darin lesen. Das ist ihr Glück: sich zu freuen an dem, was da geschrieben steht seit alten Zeiten. So fühlen sie sich Gott am nächsten. Unter den Konfessionen sind die Protestanten die Bücherwürmer, die Leseratten. Manchmal aber sehen sie auf die anderen Kinderscharen Gottes, die Sänger, die Tänzer, die Artisten. Dann bewegt sich ihr Herz, als wäre eine kleine unruhige Sehnsucht darin, die herauswill. Und sie wissen nicht recht: was soll das bedeuten? Doch schon neigen sie sich wieder über das Buch und beruhigen aus ihm mit schönen, alten Sätzen die Unruhe. Und tanzen und baden und spielen nicht mit.“

Mir gefällt diese augenzwinkernde Beschreibung, und ich finde mich darin wieder, wie ich mit meiner Bibel unterm Arm kopfschüttelnd auf jedes kirchliche Geschehen blicke, das nicht in diesem Buch seinen Ursprung und seine Quelle hat. Aber auch diese kleine unruhige Sehnsucht nach dem prallen Leben außerhalb von Buchdeckeln ist mir sehr vertraut, und deshalb möchte ich ausgehend von drei persönlichen Erfahrungen sagen, was ich an diesem Fronleichnamsfest schätze:

Zwei katholische Cousinen in meiner ansonsten rein evangelischen Großfamilie waren für mich die Türöffnerinnen in eine ganz andere kirchliche Welt als die, die ich von klein auf kennengelernt habe. Es muss wohl bei der Feier von deren Erstkommunion gewesen sein, als ich zum ersten Mal diesen Gesang gehört habe, der auch heute an vielen Orten gesungen wird: „Tantum ergo sacramentum, veneremur cernui.“  Auf Deutsch: „Sakrament der Liebe Gottes, Leib des Herrn sei hoch verehrt.“  Mit meinen Anfängerlateinkenntnisssen konnte ich längst nicht alles richtig übersetzen, geschweige denn verstehen. Aber gespürt habe ich es ganz genau: Da ging es gar nicht in erster Linie darum, alles zu verstehen oder bis ins Letzte intellektuell zu durchdringen, wie es eine Predigt, das Kernstück des evangelischen Gottesdienstes, versucht. Hier ging es eher darum, ein Geheimnis zu besingen und anzubeten, das Geheimnis der Liebe Gottes. Nicht nur größer als meine Lateinkenntnisse, sondern höher als jede menschliche Vernunft. Und deshalb die Mitte eines immer wiederkehrenden Ritus, einer heiligen Handlung, einer Wandlung, die von der stetigen Wiederholung lebt, weil sie unerschöpflich ist. Diese heilige Handlung besteht darin, dass in jeder katholischen Messfeier ein Stück Brot, meist in Form einer runden, münzgroßen Hostie in den Leib Christi verwandelt wird. Den Gläubigen, die in der anschließenden Eucharistiefeier dieses Brot zu sich nehmen, kommt Gott dadurch beispiellos nahe, ja, man könnte zugespitzt sagen, sie verleiben sich Gottes Gegenwart ein, auf dass sie sich ausbreite in jede Zelle ihres Körpers und Gottes Liebe den ganzen Menschen durchdringt.  

Die Verehrung dieser Hostie, in der sich der Leib Christi auf geheimnisvolle Weise verbirgt und zeigt, steht im Mittelpunkt beim Hochfest des Leibes und Blutes Jesu Christi, wie der heutige Feiertag offiziell heißt. Eingepackt in ein auffälliges und meist kostbares Schaugefäß, eine Monstranz, wird die Hostie an vielen Orten von einem Priester in langen Prozessionen durch die Straßen getragen. Und dabei wird nun meist alles aufgeboten, was zusätzliche Aufmerksamkeit erzeugen kann: Fahnen, ein Baldachin, weihrauchgefäßschwenkende Ministranten, Erstkommunionkinder in ihren weißen Kleidern und blauen Anzügen, Chöre und Blasorchester. Als ich auf meiner ersten Pfarrstelle zum ersten Mal eingeladen war, an einer solchen Fronleichnamsprozession teilzunehmen und bei der Station vor der evangelischen Kirche eine kleine Ansprache zu halten, habe ich wohl verstanden, dass mir eine große Ehre zuteilwurde, mir war aber offen gestanden auch ein bisschen mulmig. In den Worten von Maria Jepsen wollte ich dann doch lieber in einiger Entfernung unterm Baum sitzen als im prächtigen Zug der Artisten mitzuhüpfen. Im Lauf der Jahre und der Prozessionen hat sich das geändert, und wenn mir auch manches fremd geblieben ist, so habe ich doch eines bei diesen Prozessionen ganz deutlich erlebt: Ein starkes und stärkendes Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören und das auch öffentlich zu zeigen. Monstrare und demonstrare: Ich zeige mich und ich bekenne mich zu dem, was mich trägt.   

Eine dritte Erfahrung ist dagegen auch schmerzlich: Im Sommerurlaub in Italien gehen wir sonntags zur Heiligen Messe. Es ist ein Spektakel unter freiem Himmel. Beim Friedensgruß drücken mir alle Umstehenden die Hand, murmeln pace, Friede sei mit dir. Ich kenne ja keinen, es treibt mir die Tränen in die Augen, der Ritus trägt. Da ist es wieder, das Gefühl einer tiefen Verbundenheit über Grenzen hinweg. Wir nehmen auch an der Eucharistiefeier teil, stellen uns mit all den andern in eine lange Schlange, formen die Hände zu einer Schale, empfangen die Hostie, Nahrung für unseren Glauben. Aber bei meinem Sohn, der in der Reihe vor mir steht, damals vielleicht sechs Jahre alt, stockt die Prozession. Der Priester fragt ihn auf Italienisch, ob er denn schon seine Erstkommunion erhalten habe. Si, si, aber ja, antworte ich schnell und lächle verbindlich, eine glatte Lüge, aber es geht weiter. Wieder reichen die Sprachkenntnisse nicht aus, um zu erklären, dass wir ja evangelisch sind und unsere Kinder regelmäßig auch an den Abendmahlsfeiern in unserer Kirche teilnehmen und dort Brot und Saft mit andern teilen. Plötzlich steht mit Macht das Trennende im Raum.

Denn nach der reinen Lehre darf kein katholischer Priester einem nicht katholisch getauften und entsprechend unterwiesenen Menschen die Hostie reichen.

Zum Glück habe ich auch viele Priesterkollegen erlebt, die das einfach ignoriert haben, auch dann, wenn sie wussten, dass sie eine evangelische Pfarrerin vor sich haben. Ich danke es ihnen sehr. Was für mich aber noch viel wichtiger ist: Nie, niemals habe ich mich davon abhalten lassen, in katholischen Messen an der Eucharistiefeier teilzunehmen. Denn ich glaube fest daran, dass Christus selbst mich einlädt, niemand sonst, und deshalb lasse ich mich auch von keinem Priester davon abhalten. So wie mir in den evangelischen Gottesdiensten die Feier des Abendmahls lieb und teuer ist, so in der katholischen Messe die Feier der Eucharistie. Hier wie dort erlebe ich, dass Brot und Wein und die Gemeinschaft mit anderen meinem Glauben auf eine Art und Weise Nahrung geben, wie kein Wort es vermag. Ich brauche eben beides: Wort und Sakrament. Brot und Bibel. Denn so steht es in dem Buch, ohne das ich nie unterwegs bin: „In der Nacht, in der er verraten wurde, nahm der Herr Jesus das Brot. Er dankte Gott, brach das Brot in Stücke und sagte: »Das ist mein Leib für euch. Tut das zur Erinnerung an mich!« Ebenso nahm Jesus nach dem Essen den Becher und sagte: »Dieser Becher steht für den neuen Bund, den Gott durch mein Blut mit den Menschen schließt. Tut das zur Erinnerung an mich, sooft ihr aus diesem Becher trinkt.«

Den katholischen Christinnen und Christen bin ich dankbar, dass sie dieses Geheimnis der Liebe Gottes im wahrsten Sinne heute hochhalten. Und ich hoffe mit vielen darauf, dass der Tag kommt, an dem evangelische Pfarrerinnen bei Fronleichnamsprozessionen nicht nur biblische Ansprachen vor ihrem Kirchturm halten, sondern diese biblischen Worte auch ihre Wirkung zeigen: „Kommt, denn es ist alles bereit. Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist.“ Und dann alle Gäste sind an einem Tisch.  

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29MAI2023
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Judy Bailey und Patrick Depuhl Copyright: Darius Ramazani.

Christopher Hoffmann spricht mit den Musikern Judy Bailey und Patrick Depuhl

Christopher Hoffmann:

Ich bin Christopher Hoffmann von der katholischen Kirche. Heute am Pfingstmontag spreche ich mit den Musikern Judy Bailey und Patrick Depuhl. Sie Judy, sind in London geboren und in der Karibik, auf Barbados, aufgewachsen. Sie Patrick sind in Duisburg geboren und am Niederrhein groß geworden. Inzwischen sind Sie seit über 25 Jahren verheiratet, haben drei gemeinsame Söhne im Teenageralter und sind um die ganze Welt getourt. Und Sie haben ein wie ich finde sehr inspirierendes Buch geschrieben mit dem Titel „Das Leben ist nicht schwarz-weiss“.* Sie wollen damit gegen das schwarz-weiss Denken ankämpfen und es aufbrechen und deshalb, finde ich, hat dieses Buch auch viel mit dem Pfingstgeist zu tun, der uns ja auch herausfordern will uns immer wieder zu öffnen, unsere vielleicht festgefahrenen Meinungen zu überdenken und offen in die Welt zu schauen. Was feiern Sie heute an Pfingsten, Judy und Patrick?

Judy Bailey:

Es ist möglich für alle Leute, überall, wer auch immer du bist, wenn du möchtest du hast die Möglichkeit eine Begegnung zu haben mit Gott. Und das ist für mich Pfingsten. Ich glaube, dass der Geist möchte mit uns arbeiten. Und durch uns arbeiten. Und weil die Botschaft ziemlich klar ist in der Bibel und weil ich glaube, dass der Geist lebt und relevant ist, ich glaube, dass wir Dinge ändern können.

Patrick Depuhl:

Wenn ich an das erste Pfingsten denke, dann sehe ich da eine Gruppe von Jüngern und Jüngerinnen, die nicht so genau wusste was ihnen geschah, als Gottes Geist ihnen nahekam und ihnen Kraft gab und so ihre Gaben entfaltete und sie zu - im wahrsten Sinne des Wortes - begeisternden Menschen machte, die andere auch ansteckten mit dieser Kraft Gottes. Und Leute hatten so den Eindruck für einen Moment Gott ist mir nah auch durch diese Menschen. Und ich glaube das feiere ich Pfingsten, dass Gott immer noch nah kommen kann auf ganz überraschende, ungewöhnliche Arten und tatsächlich uns durch andere Menschen begeistert.

Die Texte aus dem Buch „Das Leben ist nicht schwarz-weiss“ haben finde ich eine ganz klare Botschaft: Vor Gott haben alle Menschen die gleiche Würde – unabhängig von Hautfarbe, von Herkunft oder Nation. Das ist für mich auch eine Pfingstbotschaft, denn in der Lesung zum heutigen Pfingstmontag, da sagt Petrus in der Apostelgeschichte: „Jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist.“ (Apg 10,34-35) Warum ist Ihnen diese Botschaft so wichtig?

Patrick Depuhl:

Ich glaub tatsächlich, dass ist so dieser Blick Gottes. Und manchmal sehen wir uns und denken, mir ist Gott vielleicht ein bisschen näher, weil ich so und so bin. Das ist eigentlich schön, dass du diesen Vers ausgesucht hast, dass Petrus das an so einem Tag auch erkennt: Moment, ich hab´s gar nicht gemerkt, ich hab immer so auf mich geachtet! Und ich merk: Ne, jeder von uns kann beten: „Unser Vater im Himmel“, das ist immer so ganz unmittelbar: mit einem Gespräch, mit einem Gebet bin ich wirklich an Gottes Ohr, an Gottes Herz. Das ist für mich voll die Pfingstbotschaft, dass Gott uns so nah ist und uns den Wert zuschreibt, weil wir haben die Tendenz zu sagen: Oh, du hast ne Behinderung,  oh, du hast nicht die richtige Hautfarbe, vielleicht mag Gott dich nicht so gerne, oder andersrum.

In dem Buch werden Sie auch sehr persönlich und begeben sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln zu ihren Vorfahren. Nehmen Sie uns mal mit auf diese Reise in die Vergangenheit, Judy…

Judy Bailey:

Es war mir immer sehr bewusst, dass mein Hintergrund -obwohl ich auf Barbados aufgewachsen bin - nicht auf Barbados angefangen hat. Wenn ich darüber nachdenke: Meine Geschichte, dass Europäer nach Afrika gegangen sind, Westafrika. Leute wurden versklavt, Leute wurden einfach „gekauft“ und mit genommen nach Barbados, um da Plantagen aufzubauen und Leute wurden schrecklich behandelt. Leute, die versklavt haben, haben einfach die Namen von die „Besitzer“ gegeben- also unsere Namen sind einfach verschwunden. Und das ist für mich sehr wichtig geworden in diesem Buch, in dieser Zeit, das wirklich ein bisschen nachzuforschen.

Patrick Depuhl:

Ich glaub auch als wir dann uns die Geschichte noch mal angeguckt haben auf Barbados: erstens haben viele die Überfahrt gar nicht überlebt, die sind einfach ins Meer geschmissen worden, wenn sie krank waren, oder wenn sie gestorben sind, weil die Verhältnisse so krass waren auf diesen Schiffen. Wenn sie es geschafft haben, haben Sie in Barbados durchschnittlich zwei bis drei Jahre überlebt, also es war wirklich so wie eine Maschine: ich gebrauch die kurz… Allein auf Barbados leben heute 287.000 Leute ungefähr- aber es sind 400.000 Sklaven auf die Insel gebracht worden, also mehr als Menschen da leben sind dahin gebracht worden und einfach so verbraucht worden als seien es keine Menschen.

In der Lesung, die an den Gottesdiensten heute zu Pfingsten zu hören ist, da schreibt Paulus im 1. Korintherbrief: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie, und alle wurden in dem einen Geist getränkt.“ Wenn Sie diesen Vers hören Judy, Ihre Vorfahren wurden aus Westafrika nach Barbados versklavt, wurden gedemütigt, gequält, manchmal sogar umgebracht wegen ihrer Hautfarbe. Was bedeutet Ihnen dieser Vers?

Judy Bailey:

Wenn ich diesen Vers höre, heißt das für mich: Wir sind gescheitert. Weil das ist nicht, was die Vergangenheit zeigt und leider teilweise auch heute nicht. Das ist für mich eine sehr klare Botschaft und Erinnerung, dass wenn besonders wir als Kirche, wenn wir sagen und wenn wir als Christen leben möchten, dann müssen wir das ganz ernst nehmen und Liebe zeigen. Wenn unser Glaube basiert ist auf Liebe, dann muss das wirklich in der Tat zu sehen, nicht nur mit Worte, aber in der Tat zu sehen und spürbar sein.

Patrick, Sie sind Nachfahre eines Mannes, der in einem so genannten „Lebensborn“-Heim der SS auf die Welt kam. Ihr Vater Michael war damit eines von rund 10.000 Kindern, die innerhalb von 10 Jahren bis 1945 in Häusern zur Welt kamen, die der Naziverbrecher Heinrich Himmler hatte bauen lassen, damit dort mehr „arische“ Kinder zur Welt kommen…

Patrick Depuhl:

Ja tatsächlich waren es etwa 10.000 Kinder, die in deutschen Heimen zur Welt gekommen sind. Es gab noch einige mehr über Europa verteilt, vor allem in Norwegen war das Stichwort: „Aufnordung der deutschen Rasse.“ Also mein Vater kam in einem Heim in der Nähe Bremens zur Welt und für uns war das dann relativ krass zu sehen: Sein Leben wurde als „wertes“ Leben beschrieben und das Leben vieler Sklaven und Schwarzen als „unwertes“ Leben. Hätten wir damals die Familie gehabt, die wir jetzt haben, mit drei Kindern, auch noch Kinder die heißen Levy, Noah, Jakob, jüdische Namen, die nicht „arisch“ sind -das wäre alles lebensgefährlich gewesen. Ich weiß noch, als ich der Expertin dieses Lebensborn-Heims, wo er geboren wurde, einen Brief schrieb: „Das haben wir Himmler ziemlich versaut“- […] Hey wären wir schwarz und weiss wären unsere Kinder grau, das sind sie nicht! Gott ist ein wunderbarer, bunter, lebendiger Gott und das müssen wir als Geschenk nehmen und eben nicht diese ganzen Trennungen und Teilungen und Einteilungen und Schubladen. Wo sein Geist uns zusammenbringt, da werden wir wirklich Menschen.

Ihr wählt für eure Konzerte immer wieder auch ganz besondere Orte und Anlässe, ihr habt zum Beispiel in einem Kinderhospiz gespielt, eine sterbende Frau in ihren letzten Stunden begleitet, ihr die Hand gehalten und ein Lied gesungen, weil sie sich das gewünscht hat. Ihr habt in Flüchtlingsunterkünften, bei Obdachlosen und sogar in Gefängnissen gesungen. Warum macht ihr das?

Patrick Depuhl:

Über die Jahre war es echt ein großes Vorrecht Konzerte in ganz vielen Ländern an ganz vielen Orten zu machen- und irgendwann hat man glaube ich auch die Idee zu sagen: Können wir nicht auch Konzerte da machen, wo man sie nicht erwartet? Das war schon in der Straßenbahn, aber eben auch an traurigen Orten, im Hospiz. Und dann schrieb später der Leiter des Hospizes: Ihr habt so viel Lebensfreude gebracht – wir dachten so wow! Wir haben in einer Friedhofskapelle gespielt. Oder einfach auf dem Bahnhof. Es war die Osternacht und ich weiß noch es haben Obdachlose in der ersten Reihe getanzt – und das sind schon ganz besondere Erinnerungen. Oder Gefängnisse haben Sie gerade angesprochen: in der Justizvollzugsanstalt Essen war das, da gab es einen Männerchor und der hat so mit Inbrunst gesungen, das war nicht nur vierstimmig, das war – ich weiss nicht - 23-stimmig, genau so viele wie das waren, aber es war so ansteckend: Und ich weiss noch diese eine Zeile: „Wie ist Versöhnung? So ist Versöhnung-wie ein Schlüssel im Gefängnis!“ Und ich dachte: Boah, das gibt diesem Lied noch mal eine ganz andere Kraft, einen ganz anderen Raum!

Zum Schluss: Sie strahlen trotz dieser zum Teil auch wirklich heftigen Lebenserfahrungen und beeindruckenden, manchmal vielleicht  auch -ich würde sagen - belastenden biographischen Stationen eine Leichtigkeit und Lebensfreude aus, die wirklich ansteckend ist. Wo kommt das her?

Judy Bailey :

Ich glaube es kommt von diesem Durchleben von schweren Sachen mit Gott mittendrin und das Wissen, dass Gott da ist und dass es weitergeht und diese Hoffnung ist irgendwie in mein Herz gepflanzt.

Vielen, vielen Dank für das Gespräch.

Sehr, sehr gerne.

*Patrick Depuhl und Judy Bailey: Das Leben ist nicht schwarz-weiß. Geschichten von Wurzeln, Welt und Heimat, adeo Verlag Asslar, 2021, Seite 190.

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18MAI2023
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Professor Heino Falke Copyright: Boris Breuer.

Christopher Hoffmann spricht mit Prof. Heino Falcke

Ich bin Christopher Hoffmann von der katholischen Kirche. Mein Gesprächspartner heute am Fest Christi Himmelfahrt ist der Astrophysiker Heino Falcke. Weltweit bekannt wurde er als er mit seinem Team 2019 das so genannte Schwarze Loch fotografiert hat und dieses Bild milliardenfach um den Globus ging. Der 56-Jährige Wissenschaftler ist eine Koryphäe der Astrophysik, lehrt und forscht an der Universität Nimwegen in den Niederlanden und er ist gläubiger Christ. Und deshalb scheint er mir prädestiniert als Gesprächspartner heute am Fest Christi Himmelfahrt. Im Englischen gibt es ja zwei Begriffe- also einmal „sky“ für den astrophysikalischen Himmel und „heaven“ für den religiösen Himmel. Im Deutschen haben wir nur diesen einen Begriff - „Himmel“ - und das führt auch am Fest Christi Himmelfahrt immer wieder zur Verwirrung. Herr Professor Falcke, von welchem Himmel ist denn da heute die Rede?

Professor Heino Falcke:

Bei der Himmelfahrt geht es natürlich um den religiösen Himmel. Aber ich glaube, dass der astronomische Himmel, den wir bewundern von der Erde aus da auch ein Symbol für ist. Weil wenn man sich mal nachts hinlegt und hat die Chance in einer dunklen, klaren Nacht mal nach oben zu schauen, dann erfährt man das, was viele Generationen seit tausenden von Jahren eben erfahren haben, die merken: Da ist etwas Größeres, etwas was weiter ist. Was auch Fragen an uns stellt. Und deswegen steht auch dieser astronomische Himmel so ein bisschen Symbol glaube ich für den religiösen Himmel, der weiter ist, der transzendenter ist, der uns herausfordert auch über unsere eigenen Grenzen hinaus zu denken und zu glauben und zu hoffen. 

Eine Frage die Sie sich ja vor vielen Jahrzehnten schon gestellt haben ist: Kann man Schwarze Löcher fotografieren? Kann man die abbilden? Und 2019 wurden Sie dann mit Ihrem Team bekannt, als Sie das geschafft haben. Können Sie uns zunächst erklären: Was ist ein schwarzes Loch überhaupt?

Ja, ein schwarzes Loch ist unfasslich viel Materie zusammengepresst in kleinstem Raum. Schwarze Löcher repräsentieren die perfekte Dunkelheit, das Ende von Raum und Zeit. Und wir können schwarze Löcher selber nicht sehen, weil sie ja keine Information von sich geben, aber wir können sehen was fehlt: das fehlende Licht, wir sehen den Schatten schwarzer Löcher und das ist das, was wir damals abgebildet haben, den Schatten eines schwarzen Lochs.                    

Kann man das in ein Bild fassen? Sie haben glaube ich mal Weltraumfriedhof das in einem Buch auch genannt?                                                                                               

Ja, Schwarze Löcher sind tatsächlich ein Weltraumfriedhof, weil wenn große Sterne sterben dann bleibt am Ende nur dieses kleine schwarze Loch. Und Schwarze Löcher können immer nur wachsen, weil alles immer nur reinfallen kann, sie können verschmelzen, sie werden größer und größer, es ist eigentlich das absolute Endstadium von allem.

Wenn ich Ihnen zuhöre: das klingt durchaus auch bedrohlich, also da könnte man vielleicht auch fragen: Hat das Leben dann überhaupt einen Sinn, wenn sowieso irgendwann alles von einem Schwarzen Loch aufgesaugt wird? Aber Sie halten erstaunlicherweise dagegen und haben in einem Interview einmal gesagt: „Ich vertraue darauf, dass das was ich mache Sinn hat. Woher kommt ihr Vertrauen?                                       

Ja, das ist tatsächlich so ein Urvertrauen, ein Urglaube der da ist. Wir lernen ja, dass unser Leben endlich ist. Wir werden geboren, wir werden wieder sterben. Wir werden nichts mitnehmen von dem, was wir hier auf der Erde schaffen. Und auch das ganze Universum ist entstanden und wird wieder vergehen, nichts bleibt am Ende. Und doch sind wir glaube ich eingebettet in eine größere Wirklichkeit, in eine größere Hoffnung. Wir kommen von einem Schöpfer, in meinem Glauben von einem Schöpfer und gehen wieder zu einem Schöpfer. Und da bin ich zu Hause. Und da empfinde ich auch den Sinn meines Lebens, der sich nicht darauf beschränkt, was ich hier auf der Erde tue. Das ist meine Aufgabe vielleicht, aber nicht mein Sinn alleine. 

Sie haben gemeinsam mit dem Spiegelredakteur Jörg Römer ein Buch über Astrophysik geschrieben. Es heißt: „Licht im Dunkeln“*. Sie sind Naturwissenschaftler und Sie sind gläubiger Christ – wie geht das für Sie zusammen?

Am Ende lerne ich in der Physik, dass ich nicht alles wissen kann. Ich kann nicht alles vorausberechnen, ich kann mein Leben auch nicht machen. Ich bin am Ende immer auf dieses Vertrauen angewiesen. Und ich kann daran verzweifeln und mich ärgern oder ich kann einfach sagen: Nein, ich bin in guten Händen. Und das ist eine Grundentscheidung, die ich irgendwann treffen muss. Und die hängt nicht davon ab, was ich mache, was ich tue. Und es hängt auch nicht davon ab, was die Kirche sagt oder nicht sagt, sondern es hängt davon ab, dass ich am Ende ein JA sage zu diesem Schöpfer und sage: JA, ich bin geliebt. Ich habe hier einen Platz auf dieser Erde. Und ich darf das auch genießen und annehmen und bewundern und bestaunen, was da ist auf dieser Welt. Wenn ich durchfrage: Wo kommt das alles her? Wie funktioniert das? Komme ich eigentlich immer auf die Frage nach dem Anfang, nach dem Ursprung. Ja, dann komme ich vielleicht zum Urknall-aber wo kommt der Urknall her? Gab es da ein Multiversum davor? Ok, dann gab es ein Multiversum davor, aber wo kommt das dann wieder her? Wo kommen die Regeln her aus denen alles entstanden ist? Und diese Grundfragen, die kann die Naturwissenschaft einfach nicht beantworten. Die muss ich füllen mit meinem Glauben, mit meinen Überzeugungen, die ich habe. Und ohne Glaube, glaube ich, kommen wir nicht weiter. Oder wir müssen aufhören zu fragen.

Ein sehr tröstliches Wort, eine Zusage, enthält das Matthäusevangelium zum Fest Christi Himmelfahrt. Da sagt Jesus Christus: „Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20). Was bedeutet Ihnen das?                                                                        

Es ist tatsächlich dieser nahe Gott. Wir hatten am Anfang diesen Schöpfergott, der ist sehr weit weg. Das ist ein philosophischer Gott. Und in Christus haben wir eigentlich eine Gotteserfahrung, die sehr persönlich ist. Und zu wissen: dieser Gott, der eigentlich so weit weg ist, der ist in Menschen und in Christus mir nahe, mein ganzes Leben lang, von Anfang bis ans Ende und eben darüber hinaus, das ist glaube ich ein sehr tiefer wichtiger Glaube der Christen.

Das meinen Sie auch damit, wenn Sie sagen: „Gott ist für mich nicht etwas, sondern jemand?!“

Für mich ist Gott eben nicht nur etwas, sondern jemand, der mich wahrnimmt und dem ich was erzählen kann und von dem ich auch irgendwas erwarten kann in dem Gespräch, was ein Gebet ist zum Beispiel.

Für mich bedeutet diese Zusage Jesu auch: Wir sind nicht allein, obwohl Jesus uns vorausgeht und weggeht von dieser Welt, bleibt er irgendwie auch bei uns. Wie verstehen Sie das-wie bleibt Jesus uns nahe?

Ja, das ist ein sehr guter Punkt. Es ist so die Spannung in der wir leben grundsätzlich auch als Menschen. Wir können diese Welt gestalten, wir können unsere eigenen Entscheidungen treffen und die können gut und die können schlecht sein. Und wir sind keine Marionetten Gottes, die genau das machen müssen. Wir sind auch keine Steine - ein Stein zum Beispiel ist ja eine Marionette der Naturgesetze, der rollt sozusagen den Fluss runter oder den Berg runter und der hat keine eigene Entscheidungsmöglichkeiten. Wir als Menschen und das unterscheidet uns von fast aller anderen Materie in diesem Universum-wir können Entscheidungen treffen, wir können darüber nachdenken, was ist gut und was ist böse, was ist richtig und was ist falsch. Und genauso sind wir in der Spannung: Da ist Gott vielleicht da. Aber er ist auch weit weg.  Er lässt uns allein und doch suchen wir Gott wieder - also wir sind immer in dieser Spannung und wir haben nie die Sicherheit, wie Marionetten völlig festgebunden zu sein an einen Gott, aber wir sind auch nicht völlig losgelöst, zumindest das ist unser Glaube.

In der Apostelgeschichte fragen zwei Männer in weißen Gewändern die Jünger nach der Himmelfahrt Jesu: „Was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?“ (Apg 1,11) Und das ist für uns ja auch heute noch eine Aufforderung, dass wir nach Jesu Himmelfahrt nicht nur wartend auf ein Jenseits diese Welt vernachlässigen sollen, sondern es gibt eine Sendung Jesu: Gestaltet diese Welt, bringt euch ein. Was ist Ihrer Meinung nach ein ganz aktueller Auftrag für uns als Christen, für alle Menschen guten Willens, wenn Sie auf diese Welt schauen?

Also ich glaube wir werden inspiriert durch den Himmel-das ist ganz entscheidend, ich glaub für Christen, dass sie inspiriert sind, aber dass sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen und ihren Nächsten im Blick haben. Das ist unser Auftrag: Auf den Nächsten zu schauen. Wir leben in einer Gesellschaft, die immer mehr auf sich schaut, die auf den einzelnen schaut. Ich glaub wir müssen als Christen auf die Gemeinschaft schauen, wir müssen die Hoffnung leben, weil wir haben große Herausforderungen mit Klima, mit auch dem Zusammenleben, mit Populisten in dieser Welt. Gesellschaft fällt auseinander und ich glaub, dass Christen da ein verbindender Kitt sein können.

Es gibt einen wunderbaren Psalm im Alten Testament, Psalm 8, ich mag ihn sehr und er wirft eine urmenschliche Frage auf, die Menschen seit Jahrtausenden stellen. Darin heißt es: „Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Stern, die du befestigt- was ist der Mensch, dass du an ihn denkst? Des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8, 4-5) Ich würde diese Frage auch Ihnen gerne stellen, Herr Professor Falcke: Was ist der Mensch?             

Der Mensch ist rein physikalisch gesehen eine Ansammlung von Materie, von Naturgesetzen, von Strom, von Chemie, aber er ist was ganz Besonderes, weil er kann Geschichten erzählen, er kann lieben, er kann geliebt werden von dem Schöpfer, der das alles irgendwie zustande gebracht hat mit diesen vielen Naturgesetzen und diesen vielen Sternen und Galaxien und all das was wir hier tun, das ist schon was ganz Besonderes. Das kann kein Stern. Das kann kein Mondgestein, das kann kein Schwarzes Loch. Wir können glauben, hoffen, lieben.

Immer wieder kommen Sie auf drei Dinge: Glaube, Liebe, Hoffnung. Warum sind Ihnen diese drei so wichtig?                

Weil sie nicht verfügbar sind. Und weil sie uns glaube ich auch auszeichnen als Menschen. Glaube, Liebe, Hoffnung ist das, was die Welt besser machen kann. Das klappt nicht immer-ich glaub nicht immer ich lieb nicht immer, und manchmal bin ich auch hoffnungslos, aber sich immer wieder daran festzuhalten, das ist das Höchste.

Herr Professor Falcke, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

Gerne.

* Heino Falcke mit Jörg Römer: Licht im Dunkeln. Schwarze Löcher, das Universum und wir. Die illustrierte Ausgabe, Klett-Cotta, Stuttgart 2021.

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10APR2023
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Jesus lebt, mit ihm auch ich
Bach-Chor Leverkusen

 Rittberger-Klas: „Jesus lebt, mit ihm auch ich – Tod, wo sind nun deine Schrecken?“ So heißt es trotzig im Osterlied, das wir gerade gehört haben. An Ostern feiern Christen das Leben – im Angesicht des Todes.
Leben und arbeiten mit dem Tod vor Augen, das ist auch Alltag für Nadia Oberste-Lehn. Sie ist Bestattermeisterin in Tübingen. Mit ihr spreche ich heute, am Ostermontag: Darüber, wie man dem Leben zugewandt bleibt, wenn man so viel mit dem Tod zu tun hat. Und darüber, was die christliche Osterbotschaft von der Auferstehung für sie bedeutet.
Frau Oberste-Lehn, an Ostern wird in den Kirchen der Sieg des Lebens über den Tod gefeiert. Der Tod hat seine Macht verloren, das ist die Botschaft. Aber gleichzeitig ist der Tod ja weiter Teil unseres Lebens, sonst bräuchten wir Ihren Beruf nicht. Ist es nicht erst einmal wichtig, das nicht zu verdrängen?

Oberste-Lehn: Auf jeden Fall! Der Tod ist ja trotzdem ein Einschnitt. So wie es bis dahin war wird es nie wieder sein. Wer sich bis zum Tod eines lieben Menschen nicht damit beschäftigt, fällt womöglich in ein noch tieferes Loch. Viele bereiten sich und die Angehörigen auf den eigenen Tod vor: Sie bestimmen die Lieder, die an der Trauerfeier gesungen werden sollen, sie suchen sich Blumen aus… Und das hilft. Wenn es so weit ist, können sich die Angehörigen viel mehr darauf konzentrieren, um einen lieben Menschen zu trauern – und das hilft einfach in so einem Fall.

Rittberger-Klas: Sie gehen täglich mit Toten um. Und auch mit Menschen, die trauern. Aber Sie wirken ganz und gar nicht wie ein trauriger Mensch. Sondern im Gegenteil sehr lebendig. Was hilft Ihnen dabei?

Oberste-Lehn: Der Beruf der Bestatterin, des Bestatters bedeutet immer eine Gradwanderung zwischen Empathie und professioneller Distanz. Ich darf nicht alles an mich heranlassen, muss aber natürlich trotzdem zugewandt und einfühlsam auf die Trauernden zugehen. Das ist nicht immer leicht und manche Geschichten Schicksale gehen natürlich auf mir nahe.
Darüber hinaus ist ein privater Ausgleich wichtig. Bei mir ist es meine Familie – ich habe einen vierjährigen Sohn – der Sport im Verein, das Ehrenamt in meiner Kirchengemeinde. Da kann ich die Arbeit Arbeit sein lassen und bin eben nicht Bestatterin.

Rittberger-Klas: Ist es auch so, dass der Umgang mit dem Tod besonders deutlich macht, dass es ein Geschenk ist, am Leben zu sein? Ein Grund zur Dankbarkeit? Empfinden Sie das so?

Oberste-Lehn: Ja, es gibt diesen aus meiner Sicht etwas überstrapazierten Satz: „Lebe jeden Tag als ob es dein letzter wäre.“ Ja, der ist tatsächlich übertrieben und unrealistisch. Aber natürlich kann ich aus meiner beruflichen Erfahrung sagen: Ich weiß, wie schnell es zu Ende sein kann. Wie ganz anderes das Leben, die Paarbeziehung, das Familienleben laufen kann. Da wird der Familienvater aus dem Leben gerissen, oder ein junger Mensch stirbt, bevor er wirklich ins Leben starten konnte. Wie wenig Zeit manchmal zwischen Diagnose und Tod liegt. Und umso dankbarer bin ich natürlich, wenn ich in dem Moment sagen kann: Wie schön, dass es mir und meinen Lieben im Moment gut geht.

Rittberger-Klas: In der Bibel gibt es ja ganz verschiedene Ostergeschichten. Diejenigen, die Jesus begleitet haben, erfahren die Botschaft von der Auferstehung mehrfach – auf unterschiedliche Weise. Dass sie bei ihnen ankommt, das passiert nicht mit einem Schlag. Es ist, als ob sie selbst erst wieder langsam zum Leben erwachen müssen nach dem Schock, dass Jesus sterben musste. Erleben Sie in Ihrer Arbeit auch solche Auferstehungsgeschichten? Momente, in denen Menschen, die dem Tod begegnet sind, das Leben spüren, neuen Mut schöpfen?

Oberste-Lehn: In dem Moment, in dem wir das erste Mal mit den trauernden Angehörigen in Kontakt sind, ist die Nachricht des Todes noch sehr frisch. Manche rufen uns nur wenige Minuten nach Eintritt des Todes an. Hier überwiegen verständlicherweise erst einmal andere Gefühle und Wahrnehmungen: Unverständnis, Trauer, Wut, Betroffenheit, Perspektivlosigkeit. Aber wir erfahren bei Betroffenen auch – häufig mit einigem Abstand – , dass das Leben wieder überhand gewinnt. Pflegende Angehörige können körperlich und seelisch wieder Kraft schöpfen, Menschen sehen mit Dankbarkeit auf den gemeinsamen Weg zurück. Da kann jemand mal wieder in den langersehnten Urlaub fahren und ausspannen. Oder der Gang zum Grab wird zu einer positiven neuen Gewohnheit.

Rittberger-Klas: Ist es auch so, dass die Rituale um den Tod herum hilfreich sind, wieder neu ins Leben zu finden.

Oberste-Lehn: Auf jeden Fall – oder um sich im ersten Schritt erst einmal damit auseinanderzusetzen: Einen Spruch für die Traueranzeige aussuchen, das Gespräch mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer, ein Leben Revue passieren lassen, das hilft, in den Trauerprozess zu starten. Und ich glaube, der Start eines Trauerprozesses ist fast das wichtigstes daran. Weil, wenn ich gut starte, wenn ich mir Zeit nehme, dann komme ich gut da durch. Trauer hört nicht auf, aber sie wird anders mit der Zeit. Und wenn ich gut gestartet bin, wenn ich hilfreiche Menschen und Rituale an die Hand bekommen, dann kann ich mich auch wieder dem Leben zuwenden. Aber das ist sehr individuell. Das geht bei einigen schneller und bei anderen langsamer, das kann man gar nicht in einen Zeitfaktor setzen. Aber es ist glaube ich unheimlich wichtig, gerade beim Beginn achtsam mit sich zu sein und achtsam mit dem, was da um einen herum passiert.

Rittberger-Klas: Genau, und ich finde es eben interessant, dass das auch in der Bibel nicht mit einem Schlag geht. Eben dass da nicht in dem Moment, in dem die Jünger am leeren Grab stehen, der Jubel ausbricht, sondern es tatsächlich eine Weile dauert, bis die Botschaft ankommt und so ist es ja auch im Leben bei uns, dass man sich langsam wieder dem Leben annähert, denke ich.

Oberste-Lehn: Ja, wir merken häufig: Die Botschaft des Todes muss erstmal ankommen, das dauert auch. Menschen sitzen bei uns und sind völlig fassungslos, können es gar nicht begreifen, was da gerade passiert – auch, was für Konsequenzen das jetzt hat. Der Rückblick: O, das war das letzte Weihnachten zum Beispiel mit demjenigen, das war der letzte Geburtstag… das wird auf einmal rückblickend noch ganz anders wahrgenommen. Aber – und das merken wir – Menschen kommen nach ein paar Woche noch einmal zu uns, weil sie Danksagungskarten in Auftrag geben oder so etwas, und wir merken schon manchmal, sie gewöhnen sich langsam an diese neue Situation und können eben auch positiv zurückschauen und sagen: Mensch, das sind schön Erinnerungen, die ich mit diesem Menschen hatte! Und das kann ich auch positiv wahrnehmen und es ist nicht immer diese große schwarze Wolke der Trauer darüber.

Rittberger-Klas: Ich glaube an dieAuferstehung der Toten – das ist ein Teil des christlichen Glaubensbekenntnisses, aber es ist heute nicht mehr leicht zu vermitteln. Was bedeutet Ihnen Satz für Sie?

Oberste-Lehn: Für mich bedeutet dieser Satz – ich musste auch erst einmal darüber nachdenken – auch mit Blick auf meinen Beruf und die Geschichten und Schicksale, die ich da mitbekomme: Hoffnung und Trost. Es gibt eine Perspektive über den Tod, über das Leid und die irdischen Probleme hinaus. Der Satz – oder der Inhalt – bedeutet für mich: Die Gegenwart Gottes zu erleben und die Menschen wiederzusehen, die mein Leben begleitet haben. Jedoch: Die Auferstehung der Toten bleibt ein großes Geheimnis – aber sie lässt manchmal hier und heute Dinge kleiner werden.

Rittberger-Klas: Hilft Ihnen das bei Ihrer Arbeit, dass Sie da einen Zugang haben? Und kommen Sie darüber manchmal auch mit Menschen ins Gespräch?

Oberste-Lehn: Also, in der Regel ist mein Glaube kein Thema im Gespräch mit den Angehörigen, sie stehen ja mit ihren Wünschen und Bedürfnissen im Mittelpunkt unserer Arbeit. Trotzdem ist eine eigene und gefestigte Haltung im Bezug auf den Tod und was danach kommt, aus meiner Sicht unglaublich wichtig für diesen Beruf. Nur so können wir Trauernden eine Stütze sein. Wenn ich selber unsicher bin, wenn ich viele Fragen mit mir rumtragen, kann sich das eventuell auch auf mein Gegenüber übertragen.
Wir unterhalten und selten tief philosophisch und theologisch mit den Angehörigen, also wie sehen sie den Tod oder was empfinden oder spüren sie darüber hinaus. Aber wir bekommen schon manchmal mit, dass sie sagen: Ich weiß, dass dieser Mensch weiter für mich da ist, weil einfach so eine tiefe innere Verbundenheit da ist, die durch den Tod nicht gekappt worden ist.

Rittberger-Klas: In der Bibel gibt es viele Geschichten, verschiedene Worte und Bilder für das Ostergeschehen und für die Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus. Welches ist Ihnen am nächsten, am liebsten?

Oberste-Lehn: Ich mag das Bild vom Weizenkorn, oder jedem Samen, der in die dunkle Erde muss, um doch schlussendlich Frucht und Leben zu bringen. Das passt für mich auch gut in diese Jahreszeit, in den Frühling, in der alles sprießt und blüht.

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07APR2023
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Ich bin Martin Wolf von der Katholischen Kirche und ich spreche am heutigen Karfreitag mit dem ehemaligen Spitzenpolitiker Dr. Peter Tauber. Herr Tauber, sie haben eine steile politische Karriere gemacht. Sie wurden 2009 in den Deutschen Bundestag gewählt und waren gute vier Jahre später schon Generalsekretär der CDU. Alles lief damals scheinbar wie am Schnürchen. Doch dann, Ende 2017, wurden Sie plötzlich schwer krank, haben einen völligen Zusammenbruch erlebt, mussten um ihr Leben kämpfen. Macht eine solche Grenzerfahrung demütig?

Ich habe ganz oft in Diskussionen oder auch in mancher Rede, die ich gehalten habe, diesen Satz bemüht, dass ich die Demut für eine der schönsten christlichen Tugenden halte. In diesem Moment, wo ich gezwungen war, weil es mir so schlecht ging, den Notarzt zu rufen, nachts um drei, da war für mich das Schlimme in Anführungszeichen gar nicht, jetzt den Notarzt zu rufen, sondern im Kern war ich erschüttert, weil alles, was ich mir zurechtgelegt hatte, wie ich mich selber sah: Mitte 40, CDU- Generalsekretär. Ich laufe dreimal im Jahr Marathon. Diese Kritik in den Medien, das macht mir alles nichts aus. Dieses Selbstbild ist da auf einen Schlag zusammengebrochen, in Frage gestellt worden. Und das war für mich natürlich ein sehr demütiger Moment, weil ich mir eingestehen musste: Das stimmt nicht, ich bin so nicht, wie ich mich gesehen habe.

Was ja erstmal eine bittere Erkenntnis ist. Was haben Sie für sich daraus gelernt?

Ich glaube, wir haben ein Problem damit, dass wir, wenn wir permanent an unserem Leistungslimit sind, gar nicht mehr die Kraft haben für die Momente, auf die es wirklich ankommt. Also wenn wir permanent 150 % geben, wo soll dann die Energiereserve, wenn Sie so wollen, herkommen? Das hat ja auch was mit Demut zu tun, sich zu fragen: Was kann ich eigentlich?

Und dann werden wir trotzdem erleben, dass wir einer Sache nicht gerecht werden, dass wir, wenn sie so wollen, scheitern. Aber wenn man sich dann sagen kann: Ich habe es probiert, und es klappt dann nicht, dann kann ich auch in Demut sagen, dann hat es nicht sein sollen.

Sie haben die Zeit als Politiker in einem sehr persönlichen Buch beschrieben. Sie erzählen darin, wie Sie für die Politik brennen, aber auch von dem fast unmenschlichen Arbeitspensum, Ihrer Überforderung und schließlich der lebensbedrohenden Erkrankung. Warum?

Na ja, dieses Buch, was ich geschrieben habe, habe ich auch deswegen geschrieben, weil ich niemandem wünsche, dass er solche Brüche braucht. Also, ich glaube, es ist gut, wenn man nicht die Erfahrung von zwei Wochen Intensivstation mit Notoperation und all dem Drumherum machen muss im Leben. Ich hätte mir das selber auch gerne erspart. Aber wenn ich dann überlege, was kann ich daraus Gutes machen für mich und dann vielleicht für andere, dann ist es eben genau das: Sich zu fragen, wie gehe ich eigentlich mit mir selber um?

Sie deuten darin ja auch ein paar eigene Fehleinschätzungen an.

Ich habe sicher auch den Fehler gemacht, neben diesem falschen Selbstbild, dass ich mich dann auch an anderen gemessen habe, anstatt zu fragen, was ist eigentlich meine Grenze und auch meine Fähigkeit? Ich will das gar nicht nur einschränkend beschreiben. Ich kann unheimlich viel und auf die Stärken zu schauen und sagen, die nutze ich jetzt aber auch richtig. Und bei den Schwächen weiß ich, ich brauche Hilfe oder ich muss mich zurücknehmen.

Sie sind bekennender Christ und haben immer betont, dass Ihnen Ihr Glaube viel bedeutet. Wie war das in dieser Krise?

Ich habe, um mit Luther zu sprechen, einen recht kindlichen Glauben mir bewahrt. Das heißt, ich bin auch entsprechend erzogen worden. Ich habe auch nach der Konfirmation den Kontakt zu meiner Kirche nicht verloren. Ich war auch in meinem Leben immer im Glauben getragen, im Gebet, in meiner Gemeinde, mal intensiver und auch mal weniger, aber das war eine Konstante. Ich habe vorher aber, wenn ich gebetet habe, nie um was bitten müssen. Ich habe immer in dem Gefühl gelebt, ich habe alles. Und da war eben zum Ersten Mal die Situation, dass ich gesagt habe: okay, das kann ich nicht alleine. Also jetzt brauche ich jemanden. Und dann war auch die Frage: Ist ER jetzt da? Und ich hatte dann das Gefühl, dass ich getragen bin.

Es gibt eine eindrucksvolle Szene in Ihrem Buch, in dem Sie eine Nacht in der Klinik beschreiben, in der Ihr Leben quasi auf der Kippe stand.

Ich hatte in der Tat so einen Moment der totalen Schwäche. Ich habe gedacht, jetzt ist mein Energielevel null. Ich weiß nicht mehr, was gleich ist. Und dann habe ich schon über mein Leben nachgedacht und hab gedacht, ich habe so viel erlebt, es war so aufregend und toll und ich lebe ja gerne. Aber diesen Gedanken: „Aber dein Wille geschehe“, den hatte ich dann und habe auch ein bisschen Zwiesprache gehalten und habe gesagt: Jesus, okay jetzt, wenn du jetzt sagst, es war vorbei, ich bin nicht böse. Aber ich hatte da, wenn Sie so wollen, ein Stück weit meinen Frieden gemacht.

Sie sind zum Glück wieder gesundgeworden und haben das Amt des Generalsekretärs Anfang 2018 aufgegeben. Dann waren Sie für drei Jahre nochmal Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium und sind 2021 schließlich aus der Berufspolitik ausgestiegen. Man könnte das, was Sie erlebt haben, in einer gewissen Analogie ja auch eine sehr persönliche Kar- und Ostergeschichte nennen. Was bedeutet Ihnen persönlich der Karfreitag?

Der Karfreitag ist natürlich dieser Moment des Stillstehens und sich auch des Bewusstmachens. Nicht nur, dass Jesus für uns gestorben ist, sondern dass wir selber im Leben herausgefordert sind und leiden können. Aber das Schöne ist ja, die Geschichte ist ja zu Ende erzählt. Wir wissen, was kommt.

Sie meinen das Osterfest, an dem wir Christen ja quasi den Sieg des Lebens feiern.

Das macht es natürlich viel leichter. Und insofern ist auch im Karfreitag, finde ich, schon ganz viel Hoffnung angelegt, auch durch das, was Jesus ja vorher erzählt. Man darf den Karfreitag ja auch nicht für sich nehmen, sondern wenn man ihn in die Gesamtgeschichte, wenn Sie so wollen, einbettet, dann ist er notwendig, um sich auch Dinge bewusst zu machen. Und deswegen ist das auch gut, dass das ein stiller Feiertag ist.

Was ja in Deutschland alle Jahre wieder für Diskussionen sorgt.

Ich habe da immer schöne Debatten mit jungen Leuten, die sagen: Ich darf da nicht tanzen gehen, und in den Club! Sag ich: Was vergibst du dir denn, wenn du mal einen Tag da nicht hingehen kannst? Und was sagt das eigentlich über dein Toleranzverständnis aus, wenn du merkst, dass es Menschen gibt, für die muss dieser Tag still sein? Und kann man das nicht respektieren? Ist das nicht auch eine Frage des Miteinanders?

Für mich haben diese Tage zwischen Gründonnerstag und dem Ostermorgen immer so eine etwas diffuse Grundstimmung. Wie erleben Sie diese Zeit?

Diese Zwischenzeit ist so eine Zeit des Ungefähren, wo man auch noch mal anfängt nachzudenken, zu überlegen und der Karfreitag ist eben mehr so ein Innehalten, so ein Stillstehen, so ein Momentum. Und das geht dann eben unmittelbar bis Ostern eben weiter und bricht auf. Und dann ist fröhliche Ostern.

Eine Zeit des Ungefähren, noch Offenen ist ein schönes Bild, finde ich. Passt dieses Bild auch zu dem Einschnitt, den Sie in ihrem Leben erfahren mussten?

Ich habe das auf jeden Fall als eine neue Möglichkeit empfunden, gemäß dieses Paulusworts aus dem Korintherbrief: „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Kreatur“, dass ich nicht nur wie mit einer Art Schnitt im Leben: jetzt kann ich neu anfangen, sondern dass ich mir bewusst machen kann: ich kann es jeden Tag. Ich kann jeden Tag etwas anders machen oder versuchen, auch besser zu machen. Das ist schon mein Anspruch. Also ich kenne meine Schwächen und an manchen Stellen glaube ich, habe ich das erkannt, dass ich mit diesem Geschenk, dass ich eben noch hier sein darf, dass ich damit was machen soll.

Sie erzählen in einem zweiten Buch dann von Menschen, die ihnen Mut machen. Warum?

Ich habe ja zunächst meine eigene Geschichte erzählt, mit den ganzen Brüchen, der Erkrankung, dem Karriereende, wenn Sie so wollen, in der Politik. Aber es ist natürlich eine Geschichte, die auch zurückschaut sehr stark. Und es gibt ja diesen schönen Satz: Das Leben wird rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt.  Es geht ja weiter. Und das, was mich so berührt hat, waren eben so viele Menschen, die ich kennenlernen durfte als Politiker. Und das sind Menschen, die inspirieren. Die für sich oder für andere so viel tun. Mut machen. Sinn stiften. Etwas teilen. Ich finde, wir widmen den Wütenden zu viel Aufmerksamkeit und den Mutigen zu wenig.

Was macht Ihnen selbst denn Mut?

Begegnungen mit solchen Menschen. Weil ich mir denke, dafür lohnt es sich zu leben. Dass es solche Menschen gibt und ich die kennen darf.

Dann danke ich Ihnen für Ihre Zeit, Herr Tauber.

Sehr gerne.

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26DEZ2022
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Heute feiert die katholische Kirche das Fest des Heiligen Stephanus. Er wird als der erste christliche Märtyrer verehrt. Warum wird dieses Fest ausgerechnet am ersten Tag nach Weihnachten gefeiert? Und welche Bedeutung kann dieser erste Märtyrer für uns heute  haben? Darüber spreche ich mit dem Freiburger Erzbischof, Stephan Burger.

 

  1. Herr Erzbischof, wir haben Sie heute Morgen um dieses Gespräch gebeten, weil wir vermuten, dass Sie zu ihrem Namenspatron „Stephan“ eine besondere Beziehung haben. Was fasziniert Sie an dieser Gestalt?

 

Es sind zwei Aspekte die mich da faszinieren: Zum einen: von Kindesbeinen an hörte ich ja immer am zweiten Weihnachtsfeiertag die Lesung aus der Apostelgeschichte. Dieser Stephanus, wie er da freimütig seinen Glauben bekennt und „den Himmel offen sieht“. „Den Himmel offen sehen - wie geht das?“, ist die Frage, die mich bis heute beschäftigt.

Und zum anderen war er aufgrund seiner Dienste in der Urgemeinde bei den Menschen ganz nah dran als Diakon. Diese zwei Aspekte sind für mich bis heute faszinierend.

 

  1. Die Apostelgeschichte ist das einzige biblische Buch, das uns etwas von Stephanus erzählt; besonders viel erfahren wir aber auch dort nicht. Offenbar war er sehr gebildet, wörtlich heißt es: „er war erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist“. Warum feiern wir sein Fest ausgerechnet nach Weihnachten?

 

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein klein wenig in die Geschichte eintauchen. Und ich denke, diese Verbindung von Weihnachten und dem Fest des Heiligen Stephanus geht zurück ins 4. Jahrhundert. Und da hat es eben die Kirche gerade geschafft, mit der Konstantinischen Wende Oberwasser zu gewinnen. Dieses Zeugnis war immer Blutzeugnis. Von daher hat Stephanus für seinen Glauben einzustehen, öffentlich einzustehen, dafür das Leben hinzugeben. Das hat viele Christen in der Urgemeinde, in der jungen Gemeinde, beschäftigt und umgetrieben. Man hat sich diese Märtyrer als Vorbild genommen, um dann zu sehen: da kommt dieser Jesus Christus in die Welt, das Wort Gottes nimmt Fleisch an. Und dafür leben diese Märtyrer selber und geben mit ihrem Leben Zeugnis ab, unter anderem eben dieser Stephanus.

 

  1. In der Jerusalemer Gemeinde kümmerte sich Stephanus um Menschen in sozial prekären Verhältnissen; später hat man ihn deshalb als den ersten „Diakon“ bezeichnet. Der Anlass wird gar nicht benannt, aber irgendwann eckt Stephanus an, bei anderen Gemeindemitgliedern, den religiösen Autoritäten und Schriftgelehrten. Am Ende wird Stephanus der Gotteslästerung angeklagt, er selbst wirft seinen jüdischen Glaubensgeschwistern vor, den Geist Gottes verraten zu haben.

Erzbischof Stephan, können Sie sich als Bischof in diesem Drama auch in die Rolle der religiösen Autoritäten einfühlen? Sie alle verteidigen doch nur ihren Glauben, ihre Tradition.

 

Und dies ist jetzt die Grundfrage: Geht es nur noch um den Glauben und die Tradition, oder ging es um mehr. Eine Frage, die sich auch heute für mich stellt - als einer, der Verantwortung trägt in dieser katholischen Kirche. Und ich denke, was Stephanus sicherlich ein Anliegen war: genauer hinzuschauen. Geht es wirklich nur um den Glauben an sich, oder geht es schon um Machtpositionierungen, um Dinge festzuhalten, Leute beeinflussen zu können, das eigene Machtverhältnis nicht aufgeben zu wollen. Ich denke, das sind Fragen, die sich damals die Mächtigen, die Verantwortlichen gestellt haben und sich heute genauso stellen.

Stephanus eckt da natürlich an mit seiner Botschaft. So wie er Jesus Christus verstanden hat, so wie er diese Botschaft leben wollte und damit auch bezeugt hat. Insofern bleibt dieser Stephanus für mich bis heute eine Gestalt, die es möglich macht, und die mich auch auffordert, meine eigene Situation zu hinterfragen: Wie stehe ich zum Glauben, zur Kirche und um was geht es mir? Geht es um Machterhalt, geht es um Positionsverteidigungen, oder geht es wirklich darum aus diesem Geist Jesu heraus zu leben? Und dies ist eine Konfrontation, der mussten sich damals die Verantwortlichen stellen, die religiösen Führer und natürlich auch wir heute in unserer Kirche.

Und ich denke, die damals Mächtigen haben versucht, ihre Position zu erhalten, zu bewahren. Aber damit haben sie auch den Tod in Kauf genommen, und das kann es nicht sein - auch für mich heute nicht. Da geht darum, aus dem Geist des Evangeliums heraus, aus diesem Geist Jesu, aus dieser Liebe Gottes, die Fleisch geworden ist, zu leben und sein Leben zu gestalten.

 

  1. Wenn ich heute die Geschichte von Stephanus und vielen anderen Märtyrern höre, bin ich von deren Glaubensstärke beeindruckt. Mich beschleicht aber auch eine leise Skepsis. Ist ein solches Martyrium wirklich nötig? Das wäre womöglich doch mit ein bisschen mehr diplomatischem Geschick vermeidbar. Ist der Märtyrer vielleicht auch zu wenig kompromissbereit.

 

Der Märtyrer, der als Fanatiker unterwegs ist, der ist nicht kompromissbereit - der Märtyrer, der meint, alles erzwingen zu können. Aber das ist für mich ein falsches Martyrium. Martyrium - da geht es für mich um das Zeugnisgeben von dieser Botschaft, von dieser Gemeinschaft. Und Stephanus hat auch dieses Martyrium nicht gesucht. Er wurde konfrontiert von den damals Mächtigen, und er hat Stellung bezogen. Und das hat den damals Mächtigen und Religionsführern nicht gepasst. Und dafür ist er nachher hingerichtet, umgebracht worden.

Das Martyrium zu suchen war noch nie Aufgabe von Christinnen und Christen. Aber das Martyrium zu erleiden, wenn es gefordert ist, das ist eine ganz andere Situation. Und das meint  Jesus auch mit seinen Worten: Wenn wir zu ihm stehen, mit ihm gehen, wenn wir von ihm Zeugnis ablegen, hat das irgendwann auch Konsequenzen. Und die können sehr unangenehm sein.

 

  1. Wie können und sollen wir heute auf Märtyrerinnen und Märtyrer schauen? Müssen wir einen wie Stephanus immer noch als den idealen Nachfolger Jesu betrachten? Im Sinne von: Wer Christus nachfolgt muss das Kreuz auf sich nehmen?

 

Rückfrage: Gibt es den Idealen Nachfolger? Den gibt es meines Erachtens nicht. Und das belegen ja auch zur Genüge die verschiedenen Heiligengeschichten, die wir kennen. Personen, die um Jesus gerungen haben, die sich auf ihn eingelassen haben - aber die waren alle nie perfekt. Aber sie sind ihren Weg gegangen, indem sie treu zur Botschaft Jesu gestanden sind, indem sie an das Wort seiner Botschaft, an seine Liebe geglaubt haben. Und sie haben auch versucht, soweit es ihren Möglichkeiten und Kräften stand, diese Liebe zu geben und umzusetzen - Zeugnis davon zu geben. Und das hat dann eben auch Konsequenzen.

 

 

  1. Herr Erzbischof, Sie sind innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz für die kirchlichen Hilfswerke Misereor und Caritas International zuständig. Durch diese Aufgabe kommen Sie viel in Länder, in denen es um die „Religionsfreiheit“ schlecht bestellt ist. Menschen werden um ihres Glaubens willen diskriminiert, verfolgt und auch getötet. Aus der einen Bluttat folgen oft viele andere. Auch im Christentum wurden aus den früher Verfolgten, die Verfolger von morgen. Stephanus soll im Augenblick seines Todes noch um Vergebung gebeten haben, für die, die ihn steinigen. Ist das womöglich die Botschaft des heutigen Tages?

 

Krippe und Kreuz gehören zusammen. Diese Mensch gewordene Liebe Gottes gibt sich am Kreuz für uns Menschen hin. Und Jesus selber hat am Kreuz auch für diejenigen gebetet, die ihn hingerichtet haben, bis hin zu diesem einen Verbrecher, dem er Schutz zusagt. Und ich denke, das Leben so zu gestalten, dass sich an uns das Böse austoben kann, dass wir das Böse nicht mehr vermehren - das wird durch die Lebenshingabe Jesu am Kreuz und auch im Fall dieses Stephanus eindeutig belegt.

Wir Christen haben die Aufgabe in dieser Welt, das Böse nicht zu vermehren, dem Bösen nicht Widerstand dadurch zu leisten, dass wir wiederum Böses tun. Sondern lernen, so hart das mitunter sein mag, auch das Böse auszuhalten, ins Leere laufen zu lassen. Das ist christliches Zeugnis, dazu ermutigt uns Stephanus mit seinem Beispiel. Und das ist auch jetzt das, was geboten ist, wenn wir in der Nachfolge Jesu stehen. Seine Liebe leben, Böses auszuhalten, dem Bösen Widerstand zu leisten durch die unendliche Macht seiner Liebe. Das ist schwer, das fordert uns immer wieder heraus. Und da scheitern wir auch jeden Tag - ich ebenso, wo ich einfach merke, dass mitunter mein Glaube, meine Liebe zu schwach ist, und sehr viele eigene Interessen auch mein Leben bestimmen. Aber sich daran erinnern lassen, dass es um das Größere geht, um diese gelebte Liebe, um die Überwindung des Bösen - das zeigt mir Weihnachten, das zeigt mir Stephanus.

 

Das war „SWR2 Zum 2. Weihnachtsfeiertag“ mit Alexander Foitzik und Erzbischof Stephan Burger aus Freiburg. Herzlichen Dank, Herr Erzbischof, dass Sie mit uns geteilt haben, was Sie an Ihrem Namenspatron Stephanus fasziniert. Allen, die heute Namenstag feiern: Herzlichen Glückwunsch!

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01NOV2022
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Ein Gespräch mit Prof. Dr. Volker Drecoll, Tübingen

Rittberger-Klas: Allerheiligen ist als Feiertag in der katholischen Tradition fest verwurzelt. In evangelischen Gegenden spielt der Tag heute dagegen keine Rolle. Gibt es aber auch für evangelische Christen an Allerheiligen etwas zu feiern? Darüber spreche ich heute mit Prof. Volker Drecoll. Er lehrt Kirchengeschichte an der Evangelisch-theologischen Fakultät in Tübingen.
Herr Prof. Drecoll, hat für Sie persönlich, als evangelischer Christ und Pfarrer, der Tag heute eine Bedeutung?

Drecoll: Für mich hat natürlich eher der Vorabend des Allerheiligenfestes Bedeutung, das ist ja das Reformationsfest. Und das Reformationsfest ist ja kein eigenes Datum, sondern eben wirklich der Vorabend von Allerheiligen, weil sich die Reformation ja auch an der Heiligenverehrung unter anderem entzündet hat. Als Pfarrer habe ich das immer so gemacht, dass ich den katholischen Kollegen gefragt habe, ob er mit mir zusammen den Vorabend von Allerheiligen feiern möchte, weil nämlich das Evangelium des Reformationstages das gleiche ist wie das von Allerheiligen, nämlich die Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium. Und das hat immer sehr gut funktioniert. Der katholische Kollege hat dann zum Reformationsfest in unserer evangelischen Kirche gepredigt über die Reform der Kirche und ich umgekehrt dann in der Katholischen Kirche im nächsten Jahr, wenn es darum ging, warum man überhaupt damals Reformation gewollt hat.

Rittberger-Klas: Also, es gibt Annäherungen, es gibt Gemeinsamkeiten, aber der Ursprung war ja schon ein Gegensatz. Die Reformatoren haben die Heiligenverehrung scharf kritisiert und die Heiligen damit quasi aus der evangelischen Kirche verbannt. War das in der Radikalität nötig?

Drecoll: Ich würde sagen: Auf der einen Seite ja, weil die Heiligenverehrung ja schon Züge angenommen hat, dass man einen Mittler brauchte, um überhaupt zu Gott zu kommen, also indirekte Umwege. Das entspricht nicht der Theologie, die man jetzt heute auch vorfindet beim katholischen Partner. Und man muss auch sagen: Die Evangelischen haben ja nicht die Heiligenverehrung komplett abgeschafft. Die Apostelfeste oder die Marienfeste sind ja auch in die lutherischen Kirchenjahresplanungen alle mit drin.

Rittberger-Klas: Nicht sehr bekannt oft bei den evangelischen Gemeinden. Aber eigentlich kann man das feiern und teilweise wird es auch gefeiert.

Drecoll: So ist es – also etwa Peter und Paul, aber auch die Marienfeste. Und zwar, weil es eigentlich Christusfeste sind, diese Feste sind nicht deshalb interessant, weil man Heilige verehrt, sondern weil man von den Heiligen aus darauf verweist, was Christus mit ihnen und an ihnen getan hat. Also insofern, als abgeleitete Christusfeste, sind sie auch im evangelischen Kalender da und darin besteht auch eine Übereinstimmung mit den katholischen Partnern.

Rittberger-Klas: Trotzdem spielen die Heiligen keine große Rolle in der evangelischen Kirche. Und man kann sich ja schon fragen, ob dadurch nicht auch etwas fehlt. Es gibt ja vielleicht auch ein urmenschliches Bedürfnis nach Vorbildern. Und es kann ja nicht schaden, wenn Kinder im November beim Laternelaufen auch die Geschichte vom Heiligen Martin hören, der seinen Mantel geteilt hat?

Drecoll: Ja, das schadet sicher nicht. Bei den Vorbildern würde ich sagen: Da haben die evangelischen auch so ihre eigenen Vorbilder entwickelt. Wie viele Martin-Luther- und Dietrich-Bonhoeffer-Kirchen gibt es denn bei uns. Da sind doch einige Leute auf den Sockel gehoben worden, weil dieses Bedürfnis nach Vorbildern da ist.

Rittberger-Klas: Aber ich höre heraus: Sie sehen das auch ein bisschen kritisch?

Drecoll: Na sicher! Menschen sind ja Menschen. Also Vorbilder sind dann vielleicht vorbildlich, wenn man gerade auch erkennt, welche Schwierigkeiten sie haben und dass sie eben nicht in allem vorbildlich sind. Und insofern, würde ich immer sagen, ist die Betrachtung anderer Christenmenschen für uns deswegen ein Trost, weil man sieht: Naja, so perfekt und vorbildlich sind sie dann auch nicht.

Rittberger-Klas: Die starken Auswüchse der Heiligenverehrung, die man im Spätmittelalter beobachten konnte, die inzwischen ja auch katholischerseits kritisch gesehen werden und von denen man auch wieder weggekommen ist, die haben sich in der Geschichte der Kirche ja erst allmählich entwickelt. Woher kam das? Und wie hat das überhaupt begonnen mit der Heiligenverehrung in der Kirche?

Drecoll: Ja, man hat schon relativ früh in der Alten Kirche, so im 4./5. Jahrhundert, zum Beispiel Heilige sehr nah an den Altären bestattet. Einfach in der Idee, dass dort, wo der Altar ist, das Heilige präsent ist, und die Heiligen dann einfach näher dran sind, ganz physisch, räumlich. Und genauso hat man dann angefangen, Berührungsreliquien zu benutzen, also etwa Tücher draufzulegen auf den Sarkopharg eines Heiligen oder einer Heiligen, und die dann mitzunehmen, in der Hoffnung, dass dadurch irgendwie Heiliges mitnehmen kann. Oder Öl, oder Wasser, das man da durchlaufen lässt, das man etwas zum Mitnehmen hat, etwas Handfestes. Das ist ja eigentlich so eine ganz räumlich-dingliche Vorstellung des Heiligen, mit der ich persönlich wenig anfangen kann, aber andere können damit vielleicht etwas anfangen. Man muss nur aufpassen, dass dadurch nicht eine Verdinglichung des Glaubens stattfindet, nach dem Motto: Hauptsache, du hast dieses Öl oder diese Berührungsreliquie, dann geht es dir gut. Weil: das ist nicht das Zentrum des christlichen Glaubens.

Rittberger-Klas: Die Heiligen und ihre Legenden spielen in der evangelischen tatsächlich eine untergeordnete Rolle, aber die Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“, die ist ja durchaus wichtig und präsent. Und ich habe den Eindruck, dass diese Formulierung, vielleicht heute besonders, erklärungsbedürftig ist. Viele sehen, was in der Kirche schiefläuft, und fragen sich, wie wir mit dem Anspruch rumlaufen können, eine „Gemeinschaft der Heiligen“ zu sein. Was bedeutet das?

Drecoll: Ja, die Gemeinschaft der Heiligen, die bekennen wir ja auch zum Beispiel auch im apostolischen Glaubensbekenntnis. Und damit ist jetzt natürlich nicht gemeint, dass zum Beispiel die Evangelische Landeskirche in Württemberg oder alternativ dazu die römisch-katholische Diözese Rottenburg-Stuttgart die heilige Kirche ist und außerhalb derer gibt es keine Heiligen. Sondern die Gemeinschaft der Heiligen ist immer die unsichtbare Gemeinschaft, die von Gott aus für heilig betrachtet wird, obwohl sie, für sich genommen, nicht so heilig ist. Also ich würde immer sagen, evangelischerseits sind wir nur deshalb heilig, weil Christus uns für heilig erachtet, nicht weil wir selbst heilig sind. Das sind wir nicht.

Rittberger-Klas: Das heißt, Heiligkeit ist keine Eigenschaft, ein besonders gutes Leben, das man führt, oder etwas, das man an sich hat oder tut, sondern eher eine Frage der Gottesbeziehung?

Drecoll: Genau. Bei Luther ist es auch immer so, dass man unterscheidet: Den Menschen für sich, wie er jetzt in der Welt dasteht, zu seiner Familie, in seinem Beruf, in der Gesellschaft – und da wird der Mensch, wenn er sich aufmerksam betrachtet, feststellen, dass er an vielen Stellen irgendwie Teil ist von Relationen ist, die nicht gut sind, die zumindest verbesserungswürdig, wenn nicht schuldbeladen sind. Aber umgekehrt davon ist da eben noch eine Perspektive, die zu Gott noch besteht. Die ist davon unterschieden. Und die bestimmt sich ganz davon, wie Gott uns betrachtet. Und Gott betrachtet uns eben nicht so, wie wir im Klein-Klein unseres Alltags oder in den großen Linien unseres Lebens versagen, sondern er betrachtet uns als wären wir heilig. Und damit setzt er eine Wirklichkeit, die sich uns natürlich nicht so schnell erschließt, weil sie in unserem Leben so nicht gegeben ist.

Rittberger-Klas: In der katholischen Tradition wird der Allerheiligentag oft mit dem Allerseelentag – eigentlich der 2. November – verbunden. Dadurch ist er stark mit dem Gedenken an die Verstorbenen verknüpft. Was bedeutet es im Blick auf den Tod, dass Christen sich als „Gemeinschaft der Heiligen“ verstehen?

Drecoll: Der Tod beendet diese Gemeinschaft der Heiligen natürlich nicht, sondern die Toten gehören zu der Gemeinschaft der Heiligen dazu wie die Lebenden, der Gemeinschaft der Toten und der Lebenden, die eines Tages auferweckt werden wird. Wir Evangelischen beten ja nicht direkt für die Toten, weil wir sagen, dass Christus sich genug um sie kümmern wird, aber es ist so, dass wir natürlich auch mit unserer Trauer da sind und mit dieser Trauer um Menschen, die uns fehlen, vor Gott treten und deswegen am Totensonntag etwa auch an die Ewigkeit denken.

Rittberger-Klas: Das gibt es auch wieder eine Verbindung zu den herausgehobenen Heiligengestalten. Das sind ja auch Menschen, deren Lebensgeschichten von Generation zu Generation weitererzählt wurden. Und die verbinden letztlich uns Christen heute ja auch mit den Christen früherer Generation, die in ihrer Zeit, in ihrem Umfeld eben versucht haben, Christsein authentisch zu leben. Ist diese Verbindung Ihnen als Kirchengeschichtler auch besonders wichtig?

Drecoll: Ob als Kirchengeschichtler weiß ich nicht – aber natürlich ist es so, dass ein Großteil er Figuren, mit denen ich mich beschäftige, sind später als besonders heilig oder besonders unheilig betrachtet worden. Und es ist tatsächlich für mich auch ein Gedanke, der mir wichtig ist: Dass die Kirche sich über alle Kontinente dieser erstreckt, aber dass sie sich auch zeitlich erstreckt, über 2000 Jahre jetzt. Und dass man auch dort eine Form der Gemeinschaft hat, über die Zeiten und Jahrhunderte hinweg.

Rittberger-Klas: Wenn Sie sich persönlich einen Lieblingsheiligen oder eine Lieblingsheilige aussuchen sollten, wer wäre das? Und warum?

Drecoll: Na, aus evangelischer Sicht würde man dazu doch sagen: Immer der Mensch, mit dem man es gerade zu tun hat. Also im Moment wären Sie das. Weil das ja immer die erste Aufgabe ist, den Menschen, mit dem man gerade zu tun hat, so zu betrachten, wie er von Christus aus betrachtet wird. Nicht so, wie er wirklich ist, sondern so, als wäre er eben schon heilig. Aber wenn Sie mich historisch fragen würden, dann würde ich vorne anfangen – vielleicht bei Paulus oder so.

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16JUN2022
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Elisabeth Hauröder Foto: C. Hoffmann

Ich bin Christopher Hoffmann von der katholischen Kirche. Meine Gesprächspartnerin heute ist Elisabeth Hauröder. Sie arbeitet als Seelsorgerin in mehreren Gemeinden an der Ahr, die von der Flutkatastrophe  betroffen sind. Die 59-Jährige Theologin, die auch schon lange als Notfallseelsorgerin tätig ist, ist seit der Nacht vom 14.Juli 2021 von Anfang an bei den Menschen vor Ort. Bei den Menschen, die Angehörige, Freunde, Hab und Gut verloren haben. Denen in Orten wie Schuld, Antweiler, Altenahr oder Ahrbrück der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Ziemlich genau elf Monate später findet auch an der Ahr das heutige Fronleichnamsfest statt. Da ich vor zehn Jahren selbst meine Ausbildung zum Pastoralreferenten im wunderschönen Ahrtal machen durfte, kenne ich Elisabeth Hauröder als Kollegin schon lange. Heute, am Fronleichnamsfest, möchte ich mit ihr darüber sprechen, wie es den Menschen an der Ahr inzwischen geht, was ihnen Kummer macht und was ihnen Kraft gibt, und wie sie Fronleichnam feiern. Ein Fronleichnam, an dem auch weiterhin viele Straßen und Häuser zerstört sind.  Liebe Elisabeth, wie erlebst du Fronleichnam an der Ahr im Jahr 2022?

An manchen Orten wird es tatsächlich Prozessionen geben. Manchmal vielleicht dann auch auf anderen und ungewohnten Wegen, weil eine Brücke nicht da ist, weil die Straße nicht begehbar ist, weil die Straße zu einer Umleitungsstrecke geworden ist. Es gibt auch Orte, an denen es einfach nur einen Open-Air-Gottesdienst geben wird, aber es ist allen trotzdem wichtig dieses Fest zu feiern: Jesus unter den Menschen zu feiern – Jesus Christus im Zeichen des Brotes auf den Straßen, auf den Plätzen und Häusern. Er ist da, und das wollen die Menschen feiern.  

Und gerade auch auf den zerstörten Straßen und vielleicht auch in den zerstörten Häusern, oder?

Ja, auch zwischen den zerstörten Häusern, vor den zerstörten Kirchen. Gott hat keine Angst vor dem Dreck, vor kaputten Häusern. Gott hat auch keine Angst vor kaputten Seelen.

Du bist mit vielen Menschen im Gespräch vor Ort– wie geht es den Menschen im Ahrtal aktuell?

Wenn ich an ein Ehepaar denke, das ich vor Augen habe, die waren letzte Woche auch nochmal zum Gespräch da und wir hatten uns ausgetauscht: Und sie warten immer noch auf den Entscheid des Gutachtens und sie wissen immer noch nicht, ob sie das Haus wieder aufbauen dürfen, oder ob es abgerissen werden muss. Und das nach einer so langen Zeit, da immer noch nicht eine wirkliche Perspektive zu haben, das ist so schwer. Also was man natürlich schon auch sagen muss: je mehr die Menschen in die Ruhe kommen und in die Ruhe gekommen sind, desto mehr kommen die Bilder dieser Nacht und dieser Tage dann auch wieder hoch und verlangen Raum, verlangen Platz und das merkt man dann auch, dass das alles auch noch mal aufgearbeitet werden will und aufgearbeitet werden muss. Und da ist der Gesprächsbedarf jetzt auch noch mal zunehmend höher.                       

Ich weiß du bist auf einem Parkplatz in Ahrbrück als Seelsorgerin auch tätig in einem Container. Wie kam es dazu und was erlebst du da?

Ahrbrück ist einer der Orte, wo eben das Pfarrhaus auch schwer geschädigt worden ist und die Kirche ebenfalls schwer geschädigt worden ist. Wir konnten es seit dem auch nicht mehr nutzen, und haben für uns aber überlegt: Uns ist es wichtig bei den Menschen zu sein und wir müssen für sie da sein, gerade in den Situationen und gerade jetzt. Klar, wir haben die Kirche nicht mehr, aber wir können ja zu ihnen gehen. Und haben dann auf dem Parkplatz einfach einen Container uns hinstellen lassen. Und jeden Tag -nach Möglichkeit - ist für zwei Stunden eine Seelsorgerin oder ein Seelsorger da.  Am Anfang war das sehr irritierend: „Was ist das denn? Wer steht denn dahinten jetzt – ein neuer Infocontainer?“ Und dann hatten wir das Logo der Pfarreiengemeinschaft drauf, haben einfach auch Grußkarten verteilt und die Menschen angesprochen und gesagt: „Kommt doch einfach – habt ihr Lust eine Tasse Kaffee mit uns zu trinken? Wir sind für euch da - Wir sind einfach nur da für euch.“ Und dann ist es auch so, dass die Menschen sogar gezielt auf eine Tasse Kaffee bei uns vorbei kommen, weil man ein besonderes Vertrauen zu einer Seelsorgerin hat, und weiß, die ist am Montagmorgen da oder der ist am Mittwochnachmittag da, dass man dann einfach auch die Gelegenheit wahrnimmt und sagt: ich hab was auf dem Herzen und  brauch einfach mal jemanden wo ich das abladen darf.

Ich finde das auch ein starkes Bild im Container auf dem Parkplatz, dieses Unfertige. Und dann gibt es noch das Projekt mit dem wunderbaren Namen „Feuerabend- Feierabend“- was ist das?

Das ist auch eine Idee, die wir geboren haben, weil wir gemerkt haben, dass es wichtig ist Begegnungsorte zu haben.Die Idee ist im Winter natürlich geboren – deswegen Feuerabend, weil wir mit einem Feuerkorb anreisen und Holz im Gepäck haben und dann Glühwein und Glühpunsch im Gepäck haben und einfach mit zwei Seelsorgerinnen vor Ort sind. Für uns ist natürlich auch das Feuer-Jesus Christus das Licht der Welt - , das war das , was bei uns dahinter gestanden hat – wir wollen einfach zeigen, dass Gott auch bei den Menschen ist. Das Feuer als die Möglichkeit in der Kälte Wärme zu bringen. Ich glaub das ist das, was Gott von uns will, dass wir da sind.Es sind Menschen, die auch immer wieder auch von dieser Nacht erzählen möchten. Es sind Menschen, die genau darüber nicht sprechen wollen, sondern die einfach über lustige, schöne Sachen sprechen wollen und es sind Menschen, die sagen: „Es tut mir gut mich mit anderen zu treffen“.

Heute wird die Monstranz mit der Eucharistie als Zeichen der Gegenwart Jesu Christi unter den Menschen in einer Prozession durch die Straßen getragen. Elisabeth, wo glaubst du ist dieser Jesus Christus, wo ist Gott gegenwärtig gewesen in den letzten Monaten? Und wo glaubst du entdeckst du ihn in all dem Schwierigen, über das wir gesprochen haben , auch heute, wenn du als Seelsorgerin unterwegs bist?

Für mich war ER da und ist da und am intensivsten und stärksten mach ich es fest an der wahnsinnigen Hilfsbereitschaft und Solidarität der Menschen. Viele sind auch genauso begrüßt worden: „Euch schickt der Himmel.“ „Ihr seid für mich zum Engel geworden.“„Du bist der Engel. Ich hätte das nie geschafft mein Haus leer zu räumen, wenn du oder ihr nicht gekommen wärt.“ Und Menschen, die sich einfach so aus ganz Deutschland auf den Weg gemacht haben. Und wir haben immer noch Helferinnen und Helfer, die kommen und helfen und es wird auch immer noch gebraucht. Ich weiß, dass da nicht nur gläubige Katholiken und gläubige Christen dabei sind, mit Sicherheit nicht. Ich weiß, dass ganz viele Religionslose da sind, dass alle Konfessionen, alle Religionen vertreten waren bei den Helferinnen und Helfern. Aber genau das ist es für mich, was es ausmacht. Was ich von meinem Glauben auch so verstehe: Gott will, dass wir Menschen uns umeinander kümmern. Dass wir nacheinander schauen, dass wir nach Möglichkeit dafür sorgen, dass wir alle gut auf dieser Welt leben können. Dann, für mich – ich hab erlebt dass ER da war -durch die Kraft die ER mir gegeben hat als Seelsorgerin auch in diesen Wochen, Monaten, immer wieder für die Menschen da zu sein. Und auch immer wieder ermutigen zu können, selbst wenn die Situationen so schlimm waren, dass Menschen ihren Glauben verloren haben – also gerade wenn Angehörige gegangen sind oder weggenommen wurden, das ist ja ein weggenommen sein. Da gab es und gibt es immer Menschen, die ihren Glauben verlieren und die mit Gott hadern und die verzweifeln, und die schreien, dass ER nicht da war und für mich ist es wichtig,  sie zu ermutigen, dass sie das dürfen: Man darf Gott alles vor die Füße schmeißen, ER ist derjenige, der -so hoffe ich es- , mich in meinem Leben trägt.Und wenn ich mich nicht getragen fühle, dann darf ich IHM das hinschmeißen, dann muss ich IHM das sagen. Und mein Verständnis ist, dass ich als Seelsorgerin dann auch da bin und das aushalte. Und ich für mich klar zu haben: dass ER mich jetzt an den Punkt gestellt hat um jetzt einfach als Mensch da zu sein und genauso waren auch viele Nachbarinnen und Nachbarn für andere da.

Prozessionen, die gehen ja auch immer nach vorne- wir blicken jetzt auch mal nach vorne, Elisabeth. Was erlebst du auch an Aufbrüchen, an Ermutigendem im Ahrtal?

Was wirklich ganz toll ist, ist zu sehen wie viele Menschen wieder zurück kommen wollen-weil es ihnen einfach wichtig ist, weil sie ihre Heimat im Ahrtal gefunden haben, bei all dem was sich verändert hat. Dass sie trotzdem sagen: „Ich gehöre hierhin.“ Und wenn ich die Strecke fahre, dann sehe ich einfach,dass die Natur wieder grünt, ich sehe dass es blüht und sprießt, das Grün , das Zeichen des neuen Lebens ist einfach da an jeder Pore kannst du es merken, dass Leben wieder entstehen kann, auch in all dieser Zerstörung, entsteht trotzdem wieder Neues Leben. Und es wird auch wieder geheiratet, es wird auch wieder getauft-auch da ist der Blick nach vorne zu spüren.

Vielen, vielen Dank Elisabeth Hauröder für das Gespräch.

Christopher, sehr sehr gerne.

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