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Es ist ein Sonntagvormittag in München. 200 Frauen treffen sich zum Spazierengehen. Das Besondere ist: sie kennen sich nicht. Noch nicht. Erst während des Spaziergangs kommt man ins Plaudern. Nach knapp einer Stunde gehen die Frauen wieder auseinander – zufrieden über einen gemütlichen Sonntagsspaziergang in Gesellschaft, viele erfüllt von einem guten Gespräch und manche sogar mit einer Telefonnummer, um sich verabreden zu können.
Die Idee zu solchen Spaziergängen hat Clare Carrington[1] aus den USA mitgebracht. Zurück von ihrem Auslandsaufenthalt war sie so begeistert, dass sie über insta Frauen zum Spaziergang eingeladen hat. Und die Resonanz war riesig. Mittlerweile hat sich die Idee rumgesprochen, und die Spaziergänge sind ein richtiger Trend geworden. Und das nicht nur in München. Bereits in mehr als 30 Städten sind sogenannte „girlswalkingandtalking“-Gruppen zu finden, frei übersetzt „Mädels laufen und reden“.
Miteinander unterwegs sein, jemand anderem erzählen, wie das Leben gerade ist, und wie es mir geht – das geschieht auch in dem biblischen Text, der ganz eng zum heutigen Ostermontag gehört und in vielen katholischen Gottesdiensten zu hören ist.
Zwei Jünger sind unterwegs nach Emmaus und vertrauen einander an, was sie beschäftigt. Vor allem, wie traurig sie sind, da ihr Freund Jesus gestorben ist. Unterwegs treffen sie auf einen Fremden, der wissen will, was sie bedrückt. Sie erzählen ihm, wie enttäuscht und traurig sie sind. Er hört ihnen zu, er baut sie auf, und er erzählt, dass er voller Hoffnung ist. Erst im Nachhinein, beim Essen am Abend, kapieren sie, dass der Fremde, der mit ihnen gegangen ist, Jesus war. Und dass sie das eigentlich schon unterwegs gespürt haben. (vgl. Lk 24, 13-35)
Ich kann mich gut in die Situation der beiden Jünger hineinversetzen. Wenn ich traurig bin oder ein belastender Gedanke sich in meinem Kopf festgekrallt hat, dann tut es mir gut, wenn ich nicht alleine bleibe. Wenn ich rausgehe, in Bewegung komme und mich jemandem anvertrauen kann. Zu merken „Ich bin nicht allein“, macht mein Herz leichter. Und ich bin mir in solchen Momenten sicher: Jesus geht mit. Er begleitet mich, und das kann ich durch andere spüren.
„Ich bin nicht allein.“ Das sagt übrigens auch Clare, die mit den Frauenspaziergängen. Wenn man sie fragt, ob man zu den Spaziergängen wirklich alleine kommen kann, antwortet sie: „Genau darum geht es, das ist das Schöne: Jede kommt zwar alleine, aber keine geht alleine.“
[1] vgl. Fasten-Wegweiser 2025 „wandeln“ von AndereZeiten, S. 38f. oder auch: https://www.brigitte.de/aktuell/gesellschaft/clare-carrington--macherinnen-im-check-13858566.html
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41993„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“ Dieser Satz stammt aus dem Buch des Propheten Jesaja und ich spreche ihn nicht nur bei jeder Taufe, sondern auch auf dem Friedhof. Ein Satz Gottes für uns Menschen, der uns meint, wenn wir geboren werden und genauso wenn wir sterben.
Dieser Satz könnte auch die Überschrift sein für die Ostergeschichte, wie der Evangelist Johannes sie uns erzählt. Denn die Ostergeschichte beginnt auch auf einem Friedhof: Maria geht auf den Friedhof. Sie braucht einen Ort, um zu trauern. Denn mit Jesus ist die Freude in ihrem Leben gestorben. Sie hat ihn geliebt; und die dunkle Schwester der Liebe ist die Trauer. Denn auch jetzt sehnt sie sich nach ihm, will ihm nahe sein, wenigstens an seinem Grab. Aber dort bekommt sie es noch deutlicher zu spüren, dass ihre Liebe kein Gegenüber mehr hat. Dass sie den Menschen auch hier nicht mehr finden kann. Und die Tränen fließen.
Da können auch Engel nicht helfen. Zwei sitzen im offenen Grab, da wo Jesus eigentlich liegen sollte. Sie bekommen auf ihre Frage, warum Maria weint, nur eine knappe Antwort: „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Noch immer sucht sie nach einem Toten – sucht nach einem Ort für ihre Trauer und kann die Zeichen nicht deuten. Weder die Engel sagen ihr etwas, noch das leere Grab.
Maria geht weg. Und als sie dann dem auferstandenen Jesus begegnet – er leibhaftig vor ihr steht - öffnet ihr das auch nicht die Augen: „Warum weinst du? Wen suchst du?“ Sie erkennt ihn nicht, weil es das einfach nicht gibt. Einen, der von den Toten zurückkehrt. Die Trennung zwischen Lebenden und Toten ist fürchterlich endgültig – da gibt es kein Wiedersehen. Erst als Jesus sich Maria wirklich zuwendet, sie bei ihrem Namen ruft, erst da erkennt sie ihn. „Maria“ – und ihr Herz wird warm.
Maria konnte ihren geliebten Freund nicht mehr finden – aber er hat sie gefunden. Gott hat sie gefunden und gerufen – bei ihrem Namen. Gott ruft uns mit Namen – unser ganzes Leben lang und darüber hinaus. An Gottes Liebe zu uns kann auch der Tod nichts ändern. Und das ändert alles. Frohe Ostern wünscht Ihnen Anne Waßmann-Böhm, aus Ingelheim, von der evangelischen Kirche
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41965Kein Tag fühlt dem Christentum so auf den Zahn wie der Karfreitag heute. Weil heute der gekreuzigte Jesus im Mittelpunkt steht wie sonst nie. Und die Christen darauf ihren Glauben bauen. Gott lässt zu, dass Jesus stirbt. Jesus wählt ausdrücklich diesen Weg, weil er weiß, dass er ohnehin nicht daran vorbeikommt. Und Gott lässt es nicht nur zu, sondern geht mit ihm in den Tod. Christen glauben an einen Gott, der in der Ohnmacht, im Tod zeigt, wer er ist.
An Karfreitag wird in den katholischen Gottesdiensten stets die Johannespassion vorgetragen. Sie unterscheidet sich von der Leidensgeschichte wie die anderen drei Evangelisten sie erzählen. Zwar beschreibt auch Johannes, wie Jesus zu Unrecht verurteilt und gedemütigt wurde und einen qualvollen Tod stirbt. Aber zwischen den Zeilen merkt man, wie er den Akzent verschiebt. Deutlicher als die anderen zeigt er, dass der, der da am Kreuz stirbt, ein Sieger ist. Sieger über den Tod. Der Gekreuzigte trägt bei Johannes eine Krone, die nicht aus Dornen ist. So wie die Künstler der Romanik dies stets in ihren Gemälden darstellen.
Es bleibt dabei, auch bei Johannes: Jesus stirbt. Er ist Gottes Erwählter, ja sein geliebter Sohn. Aber eben ohne jene Macht, auf die unsere Welt aufgebaut ist. Er hat keine Armee, kein Geld, keinen Status. Am Ende hat er kaum noch Freunde. Und es ist der Christen-Glaube, dass Gott eben auf diese Weise zeigt, worauf es ihm ankommt. Dass die Letzten bei ihm an erster Stelle stehen[1]. Dass der gewinnt, der schwach ist und bereit, seine Schwäche zu zeigen[2]. Dass die Liebe stärker ist als der Tod[3] und womöglich erst dort ihre wahre Größe zeigen kann, wo einer bereit ist, sein Leben für seine Freunde hinzugeben[4].
Das letzte Wort, das Jesus am Kreuz spricht, lautet in der Passion des Johannes: Es ist vollbracht[5]. Mich hat dieses Wort früher ratlos zurückgelassen. Es ist aus mit Jesus, sein Leben auf der Erde ist vorbei. Wenn das mit „vollbracht“ gemeint sein soll… Zufrieden war ich damit nicht, bis ich verstanden habe: Jesus spricht da gar nicht selbst. Es ist die Stimme Gottes, die da aus ihm spricht. Oder wenn ich es noch radikaler sagen soll: Gott selbst spricht da am Kreuz. Erst jetzt – im Tod - ist vollkommen zu erkennen, wie er ist. Ein Gott, der ganz im Menschen ist, der überall mit uns hingeht, der uns durch den Tod die Tür zu neuem Leben öffnet.
[1] Vgl. Matthäus 20,16
[2] Vgl. 2. Korintherbrief 12,9
[3] Vgl. Hohelied 8,6
[4] Vgl. Johannes 15,13
[5] Johannes 19,30
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41971Von klein auf kenne ich das „Vater unser“ – das Gebet von Jesus für seine Anhänger. Es gehört zu jedem Gottesdienst dazu, und ich habe ich es schon oft gebetet, und – zugegeben - manchmal fast mechanisch.
Bis eines Tages mich jedes einzelne Wort getroffen hat – bis ins Mark. Mich gepackt und fast geschüttelt hat mit aller Wucht seiner Bedeutung.
„Vater unser im Himmel“ – Das war, als ich vor ein paar Jahren das Grab meiner Großtante Olga besucht habe. Es befindet sich in Dänemark. Vor 80 Jahren ist sie dort gestorben – auf der Flucht aus Ostpreußen, in einem Auffanglager kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Hals über Kopf hatte sie aufbrechen müssen und alles zurücklassen, was doch ein paar Stunden zuvor noch Heimat war: ihr Zuhause, ihre Familie. Ihre Kräfte reichten nur bis Dänemark. Dort liegt sie in einem Gräberfeld für Flüchtlinge, zusammen mit anderen Frauen, Kindern, Babys und ein paar Soldaten im Teenager-Alter.
An einem wunderschönen Spätsommertag stehe ich dort und fühle mich meiner Tante nahe, obwohl ich sie ja nie getroffen habe. Da beginnt in der benachbarten Kirche die Vater-Unser-Glocke anzuläuten. Gerade ist dort im Gottesdienst, und die Glocke zeigt, dass gerade das Vater-unser gebetet wird. Und ich fange an, mitzubeten: „Vater unser im Himmel – sei da, wenn hier auf Erden kein Vater und keine Mutter mehr trösten können...“
„Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme.“ Und ich denke: Und nicht das Reich irgendwelcher Despoten, die bereit sind, für ihren eigenen Ruhm andere zu vertreiben, zu töten. Nicht deren Wille - nein – DEIN Wille geschehe.
„Herr, gib uns unser tägliches Brot“ unser tägliches Auskommen. Um mehr zu bitten, ist nicht nötig – nicht wichtig. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – weil Vergebung wie ein Neuanfang ist. Und uns befreit von Rachegedanken und Vergeltung.
„Herr Gott – Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.“ Zu diesem Reich gehöre ich. Und zu diesem Reich gehört meine Großtante. Sie und alle anderen, die jemals überwältigt worden sind von der Bosheit in dieser Welt. Ich schließe mit meinem Gebet: „Herr: dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit - in Ewigkeit Amen.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41970Der Stab ist schnell gebrochen. Über Leute, die nicht ins Raster passen, nicht meinen Vorstellungen entsprechen. Weil sie anders aussehen oder ticken. Anders leben oder lieben wollen. Sich nicht penibel an Regeln halten, die mir wichtig sind. Wenn ich ehrlich bin, ertappe ich mich auch selbst immer mal wieder, dass ich abwertend und auch urteilend über andere denke. Vor allem, wenn ich die Leute gar nicht kenne. Dass das offenbar nicht nur bei mir so ist, zeigt der Volksmund, der dafür einige Sprichwörter gefunden hat: „Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“ Oder: „Kehr erst mal vor deiner eigenen Tür.“ Die Angewohnheit, über andere zu urteilen, ohne sie und ihre Beweggründe zu kennen, hat schon Jesus kritisiert. Hat seine Zuhörer ermahnt, nicht zu urteilen, damit auch über sie selbst nicht geurteilt wird. Stattdessen sollen sie Fehler vergeben. Gegenseitig. Am nachdrücklichsten wird das, wo es um alles geht, um Leben oder Tod. Etwa in der biblischen Geschichte einer Frau, die in flagranti beim Ehebruch ertappt wurde. Von ein paar Männern wird sie deshalb zu Jesus geschleppt. Es ist ein Vergehen, auf das im jüdischen Gesetz damals der Tod durch Steinigen stand – und zwar nicht nur für die Frau, sondern für beide Beteiligten.
Für Jesus, der sich dazu verhalten soll, ist es eine Falle. Verurteilt er das Vergehen nicht, setzt er sich über das Gesetz hinweg, das ihm selbst heilig ist. Unterstützt er hingegen das Todesurteil, erscheint alles zweifelhaft, was er über den barmherzigen Gott gesagt hat. Eine Zwickmühle. Zu dem, was der Frau vorgeworfen wird, schweigt Jesus. Doch was er sagt ist so einfach wie genial: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein.“ Niemand rührt sich. Stattdessen verlässt einer nach dem anderen wortlos den Platz.
Es ist ein Lehrstück über eine Tugend, die zum Kern des Christlichen gehört: Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit ist kein wurstiges „Passt schon. Schwamm drüber!“ Barmherzigkeit nimmt Versagen und Schuld absolut ernst. Aber wer barmherzig ist, ist sich immer bewusst, dass kein Mensch makellos und fehlerfrei ist. Jeder auch selbst mal auf Milde und Barmherzigkeit angewiesen ist. Barmherzigkeit ist das Gegenstück zum gnadenlosen Furor, der sich immer öfter in der Gesellschaft austobt. Ganz besonders in sozialen Netzwerken, wo Gegner oder Andersdenkende niedergemacht werden. Am Ende der biblischen Geschichte steht Jesus mit der Frau alleine da und sagt zu ihr: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh nach Hause und sündige von jetzt an nicht mehr!“
Brot ist etwas Wunderbares. Das Knacksen der frischen Kruste kann einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Und kostbar – besonders, wenn man nicht so viel davon hat.
Als ich ein Kind war, hat mir mein Vater eine Geschichte erzählt, aus seiner eigenen Jugendzeit. Passiert sein muss sie kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Mein Vater – als junger Teenager - war damals gerne unterwegs mit dem Fahrrad, wenn möglich auch für ein paar Tage. Seine Mutter hat ihm dann immer etwas Proviant mitgegeben: Brot - ein paar Scheiben, bestreut mit ein wenig Salz, manchmal hat es sogar für etwas Butter gereicht.
Einmal – allein auf dem Weg zurück nach Hause – da wollte er sein letzte Stück auspacken – und es lag vor ihm: total verschimmelt. Bestürzung! Denn das war doch – Brot!
Als ich die Geschichte zum ersten Mal als Kind gehört habe, da hat mich besonders berührt: dass mein Vater damals nicht gewusst hat, was er tun soll. Er konnte „Brot“ doch nicht einfach so wegschmeißen. In seiner Not ist mein er ein paar Schritte in den Wald hineingegangen und hat es – sorgsam! – dem Erdboden übergeben. Er hat es sozusagen „beerdigt“: Brot – lebenserhaltende Nahrung, auf die er nicht genug aufgepasst hatte.
Brot ist etwas Wunderbares - etwas so Elementares: unentbehrliche Nahrung – so unentbehrlich wie Vertrauen und wie Hoffnung. Ich denke, darauf spielt Jesus an, wenn er sich in der Bibel mit Brot vergleicht. Zu seinen Jüngern sagt er: „Ich bin solches Brot: lebendiges Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.“ (Joh 6, 51)
Diese Worte sind gar nicht so leicht auszuhalten, finde ich: Jesus als Leben-stiftendes Brot? Das verzehrt werden wird – sterben muss, um Kraft zu geben für die Ewigkeit? Jesus wird tatsächlich sterben am Kreuz und in ein Grab gelegt werden – die Passionszeit erinnert daran.
Aber damit ist seine Kraft nicht verloren, anders als bei dem Brot, das mein Vater einst in die Erde gelegt hat. Die Lebenskraft von Jesus reicht weiter. Sie schenkt Hoffnung auf neues Leben - sogar über den Tod hinaus.
Brot ist etwas Wunderbares. Es schmeckt für mich auch immer nach Hoffnung: dass Jesus Christus meinen Hunger nach Frieden, nach Leben und nach Gerechtigkeit stillen wird.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41860Mit jeder Menge Klebeband lassen sich biblische Geschichten erzählen. Das habe ich neulich auf einer Fortbildung erfahren. Da ging es um Ester, eine jüdische Königin. Ihre Geschichte ist schnell erzählt. Ein Hauptmann aus dem eigenen Heer plant, alle Juden im Land umzubringen. Sie und ihr ganzes Volk sind bedroht. Zunächst zögert Ester, weil auch sie selbst sterben könnte. Doch ein Gespräch mit ihrem Adoptivvater Mordechai macht ihr Mut. Er sagt zu ihr: „Wer weiß, ob du nicht gerade für eine Zeit wie diese jetzt Königin geworden bist.“ (Est 4,14). Ester spürt, dass Mordechai Recht hat. Genau sie braucht es jetzt. Geschickt überzeugt sie ihren Mann, den König, dass nicht die Juden sterben sollen, sondern der Hauptmann den Tod verdient und rettet so sich und ihr Volk.
Auf meiner Fortbildung wurde diese Geschichte immer wieder unterbrochen. Dann kam das Klebeband zum Einsatz. Weil der Name Ester übersetzt „Stern“ oder „die Leuchtende“ bedeutet, war die erste Aufgabe an unsere Gruppe, mit buntem Klebeband einen großen Stern auf den Boden zu kleben. Die nächste Aufgabe war schon schwerer. Mit dem Klebeband sollte jeder ein Symbol für sich selbst neben Esters Stern kleben: Ein Kreis oder ein Rechteck oder auch ein Umriss mit Beinen, Armen und Kopf. Das soll zeigen: die Ester Geschichte ist zwar schon lange her, aber sie hat auch etwas mit mir zu tun. Ich kann mich bildlich neben Ester stellen, denn auch in meinem Leben gibt es Dinge, die mich herausfordern oder mir Angst machen. Und diese Dinge sollten wir dann wieder symbolisch darstellen und um unseren Umriss herum kleben. Manche haben Wörter, wie „Krieg“ und „Machtmissbrauch“ geklebt. Andere haben mit schwarzem und weißem Klebeband ausgedrückt, wie sehr sie das schwarz-weiß-Denken belastet. Und wieder andere haben Symbole geklebt: ein Kreuz für den Tod oder ein zerbrochenes Herz für eine unglückliche Liebe.
Um all dem etwas entgegenzusetzen, war die nächste Aufgabe: Und jetzt klebt einen Mutmach-Satz in die Mitte eures Umrisses. Ein stärkendes Wort, das ihr jetzt gerade braucht. Einen Satz, so in der Art wie Ester ihn von Mordechai gesagt bekommen hat. Auf dem Boden klebte dann schnell „Just do it.“ Also: „Mach einfach“. Oder auch „Fürchte dich nicht.“ oder „Lass los, was war.“
Ich habe einen Satz auf den Boden geklebt, der mir persönlich sehr wichtig ist, und der auch heute in katholischen Gottesdiensten zu hören ist. Gott sagt ihn Mose, denn wie Ester weiß auch Mose nicht, wie es weitergehen soll. Gott verspricht: „Ich bin mit dir.“ (Ex 3,12).
„Du hast einen seltsamen Beruf“, hat meine Tochter neulich zu mir gesagt. „Du redest über einen, der gestorben ist und der trotzdem allmächtig sein soll. Das geht irgendwie nicht beides. Jesus ist seltsam.“
Einem Mann namens Nikodemus kam Jesus auch reichlich seltsam vor. Er hat gefragt: „Was hat Gott mit uns und mit dieser Welt vor? Und was hast du damit zu tun, Jesus?“ diese Fragen treiben Nikodemus um. Die Bibel erzählt, dass Nikodemus Jude ist. Er ist auch Mitglied des Hohen Rats in Jerusalem, des höchsten jüdischen Gerichts, das über wichtige religiöse Fragen verhandelt. Aber dann taucht dieser seltsame Jesus auf und gibt allem eine neue Richtung. Es scheint, als würde Jesus Gott besonders nahe stehen.
Nikodemus sucht Jesus darum allein auf, im Schutze der Nacht mit all den Fragen, die ihn schon so lange plagen. Und mit den neuen, die plötzlich in ihm auftauchen (Joh 3). Was Jesus ihm erzählt, klingt wirklich seltsam: „Ich bin das Heilmittel für diese Welt. Wenn ich ans Kreuz geschlagen werde, dann ist das sinnvoll. Denn durch meinen Tod bekommen alle Menschen das ewige Leben.“
Wenn ich das heute, 2000 Jahre später höre, klingt das immer noch höchst seltsam: Dieser Jesus am Kreuz soll das Heilmittel der Welt sein? Einer, der sich nicht gewehrt hat, der sich willig in sein Schicksal ergeben hat? Der alles ertragen hat: Anschuldigungen, Misshandlungen und den Tod am Kreuz? Seltsam.
Das Wort „seltsam“ bedeutet ursprünglich „selten zu sehen“. Und das hat Nikodemus verstanden: Dass dieser Jesus im wahrsten Sinne des Wortes seltsam ist. Dass es nämlich einen wie Jesus äußerst selten zu sehen gibt. Einen, der auf alle äußerliche Macht verzichtet. Einen, der konsequent der Liebe treu bleibt.
Jahre später, als Jesus zum Tod verurteilt wird, bringt Nikodemus den Mut auf, Jesus gegen alle anderen zu verteidigen (Joh 7,50.51). Und nach Jesu Tod hat Nikodemus keine Angst zu zeigen, wie sehr Jesus ihn beeindruckt hat. Er hilft, Jesu Leichnam für die Beerdigung fertig zu machen (Joh 19,39). Obwohl Nikodemus riskiert, selbst verhaftet zu werden, verabschiedet er Jesus so liebevoll und nimmt damit der Gewalt ein Stückchen von ihrer Macht. Ich bekomme eine Ahnung davon, was die seltsamen Worte von Jesus bedeuten. Wie mächtig sein Verzicht auf Macht und Gewalt war. Wie klar die Liebe Gottes durch ihn in die Welt scheint.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41783Am Anfang des Glaubens steht der Weg. Das Unterwegs-Sein. Weil Abraham, der Urvater des biblischen Glaubens, ein Nomade war. Er hat in Zelten gelebt und zog mit Sack und Frau, seinen Tieren und allem Besitz von einem Ort zum nächsten. Unterwegs in der Wüste. So beginnt die Geschichte des Ein-Gott-Glaubens. Denn dort – in der Wüste – hört Abraham die Stimme dessen, der ihn heißt aufzubrechen. Und zu ihm sagt: Du sollst gesegnet sein[1]. Der Gott, der später Jahwe genannt wird, den Mose „Ich-bin-da“ nennt. Der das Land verheißt, in dem Milch und Honig fließen[2]. Das gelobte Land für das erwählte Gottesvolk. Ich hoffe, dieses Land auch zu erreichen. Wenn ich genug unterwegs war, genug gefragt und gesucht haben werde.
Aber solange gilt, was heute wie immer am Beginn der Fastenzeit in den katholischen Gottesdiensten als Lesung aus dem Alten Testament der Bibel vorgetragen wird. Es gilt: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer[3]. So beginnt das Glaubensbekenntnis Israels, das ein religiöses Programm ist. Wer an den Gott Abrahams, Israels und Jakobs glaubt, bleibt zeitlebens heimatlos. Ein Nomade, auf dem Weg. In gewisser Hinsicht jedenfalls. Auch als Christ bleibe ich heimatlos auf dieser Welt. Und suche um so mehr einen Halt bei Gott.
Ich habe ein Haus, in dem ich wohne, das mich schützt und mir Geborgenheit schenkt. Oft beruhigt mich das, weil ich weiß, dass ich abends heimkommen kann. Aber ich spüre auch: Das ist nicht alles, was ich will und brauche. Da bleibt eine Unruhe in mir, die mich suchen und fragen lässt: Wenn Dein Leben heute aus ist, war das dann alles? War das hier das Ziel? Das frage ich mich jedes Mal, wenn ich einen Menschen beerdige, aus seinem Leben erzähle, an seinem Grab stehe. War’s das? Nein, das wäre mir zu wenig – für mich und für andere. Diese gequälte Welt, all das Schuften und die vielen Ungerechtigkeiten, die es hier gibt – das reicht nicht aus für ein Wort wie Heimat.
Ganz zu schweigen von denen, die gezwungenermaßen unterwegs sind, weil sie aus ihrer irdischen Heimat vertrieben wurden, weil dort Krieg ist, Machtgier und Egoismus regieren. Ich kann sie dabei unterstützen, dass sie in der Verbannung nicht verzweifeln, sondern Trost finden, menschliche Wärme und materielle Hilfe. Ein Zelt. Wenigstens eine Ahnung von Heimat. Denn die hatte ganz zu Beginn auch der Nomade Abraham.
[1] Genesis 12,2
[2] Deuteronomium 26,9
[3] Deuteronomium 26,5
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41676Ich und ein kleines Team, wir planen ein neues Projekt: eine interaktive Zoom-Andacht, bei der man am Computer-Bildschirm dabei sein kann. Alle sind motiviert, kreativ, die Technik steht – es könnte richtig gut werden. Doch als wir einen Termin zur Vorbereitung suchen, gibt es ein Problem: Ein Kollege sagt ab. Nicht, weil er einen anderen Termin hat, sondern weil seine Woche schon zu voll ist. Er braucht Zeit für sich. Ich will das verstehen, wirklich. Aber innerlich regt sich Widerstand: Wir könnten so viel schaffen: so richtig etwas auf die Beine stellen. Aber jetzt werden wir ausgebremst. Kann der Kollege nicht einmal die eigenen Bedürfnisse zurückstellen?
Einen ähnlichen inneren Dialog stell ich mir bei Martha vor. Sie und ihre Schwester Maria haben Jesus zu Gast und Martha legt sich mächtig ins Zeug, damit es ihrem Gast an nichts fehlt. Das wird in einer Geschichte im Lukasevangelium erzählt, über die heute in vielen evangelischen Kirchen gepredigt wird. Marta ist also am schuften und ackern, und Maria, ihre Schwester, die setzt sich einfach zu Jesus und hört ihm zu. Irgendwann platzt es aus Martha heraus: Jesus – findest du es eigentlich ok, dass ich hier alleine arbeite, während Maria nichts tut? Die Antwort, die Jesus gibt, provoziert mich - und hat Martha damals bestimmt auch überrascht: Martha, du machst dir Sorgen um so vieles. Aber nur eins ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt. Das wird ihr niemand wegnehmen.
Nur eins ist notwendig – anscheinend meint Jesus, dass es gerade das Wichtigste ist ihm zu hören. Ich möchte protestieren. Sagen, dass man doch zumindest anerkennen muss, mit wie viel Mühe sich Marta um Jesus kümmert. Aber Jesus Antwort - wie man sie auch dreht und wendet - die will nicht in unsere Zeit passen. Es zählt nicht die Leistung. Jesus braucht gerade keine Macher. Manchmal ist das Wichtigste, was einem niemand nehmen kann: Auf Gottes Wort zu hören. Nichts zu tun. Zeit für das zu haben, was die Seele reich macht. Nicht die High-Performer braucht Jesus hier, nicht die, die arbeiten, bis sie umfallen. Sondern die Zuhörerinnen und Zuhörer. Nur so kann Gottes Wort sich entfalten. Nur so ist Raum, dass Worte gehört werden. Dafür nimmt sich mein Kollege Zeit, auch wenn er uns andere damit erst einmal ausbremst. Zeit für sich und seine Seele, um das Zuhören nicht zu verlernen. Hören. Auf die eigene Stimme, die Worte anderer, Worte von Gott. Und auch wenn mir das in der Situation schwerfällt: Das ist ziemlich sicher wichtiger als jedes Projekt oder jede Performance.
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