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Ich schiebe meinen Einkaufswagen durch den Supermarkt. Es ist nicht besonders viel los heute. Im Gang etwas weiter sitzt eine Frau auf ihrem Rollator, vorne im Rollatorkorb einige Einkäufe. Ich höre wie sie einem Mann mit karierter Kappe zuruft: Salz brauchen wir, das mit Jod! Der geht gerade suchend an einem Regal entlang: „Was sagst du?“ „Sa-halz, Jodsalz, hier vorne, hier steht’s!“ Der Mann ist schon fast um die Ecke: „Steaks? Ah, da muss ich gleich nochmal zurück zur Fleischtheke.“ Eine Frau im grünen Mantel grinst, bückt sich nach dem Salz in der gelben Verpackung und gibt es der Frau auf dem Rollator. Beide lächeln. Der Mann kommt von hinten zurück, hat ein Päckchen in der Hand und sagt: Ich habe Schokoladenpudding geholt, den mache ich uns heute Abend.“
Ich glaube, er merkt gar nicht, wie seine Frau lächelt. Er geht schon weiter mit dem Einkaufszettel in der Hand.
Es gibt ja diese Orte in unserem Alltag, da treffen wir Menschen, die zufällig im gleichen Ort und zur gleichen Zeit leben. Oder mindestens dort einkaufen, wo ich einkaufe. Manche trifft man häufiger, etwa diejenigen, die an der Kasse sitzen. Manche nur einmal.
Manchmal reden wir von „Zeitgenossen“, aber doch vor allem dann, wenn es um wichtige Persönlichkeiten geht. Wenn wir es so sagen, wie die Geschichtsbücher: „Der und der war ein Zeitgenosse von Goethe“.
Zeitgenossinnen und -genossen. Diese beiden im Supermarkt: die Frau mit Rollator, ihr Mann mit der karierten Kappe. Und ich. Ich weiß gar nichts über sie, nur dass sie ein bisschen schlecht gehen kann und er ein bisschen schlecht hört.
Kluge Menschen haben solche schönen Sätze in die Bibel aufgeschrieben wie: „Lasst uns aufeinander achten“ (Hebräer 10,24). Nicht bedauern, dass sie nicht mehr gehen kann. Oder dass er bisschen tattrig geworden ist. Nicht auf das sehen, was jemand nicht mehr kann. Sondern Acht haben, Achtung haben vor der Art und Weise, wie jemand seinen oder ihren Alltag meistert. Und vor allem: Wahrnehmen, was jemand liebt.
Lasst uns aufeinander achten und bei Menschen, denen wir zufällig begegnen, ihre Geschichte ahnen. Und einfach vermuten, dass sie gern Schokoladenpudding essen. Das ist nicht das schlechteste, was man über einen Menschen annehmen kann.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43248„Und was haben Sie heute vor 48 Jahren gemacht?“ Eine Frau fragt mich das. Sie steht neben mir im Blumenladen. Ich lächle, schaue weiter nach den Blumen. „Ich bin vor 48 Jahren geboren worden.“, redet sie weiter und streicht mit den Fingern über leuchtend orangefarbene Lampionblumen, die in einer großen Vase stehen. Es braucht einen Moment bis ich kapiere, dass sie also heute Geburtstag hat. Dann gratuliere ich ihr schnell und finde die Situation ein bisschen merkwürdig.
„Was haben Sie heute vor 48 Jahren gemacht?“ Ich muss jetzt echt lachen, weil sie so beharrlich ist. „Ok, ich erinnere mich nicht mehr daran, aber man sagt, ich sei ein ganz zufriedenes Kind gewesen.“ Das war eine eher ausweichende Antwort, aber mehr schaffe ich in einem knallvollen Blumenladen einfach nicht.
Die Frau spricht unbeirrt weiter: „Ist doch manchmal verrückt, was man alles noch nicht weiß, wenn das Leben anfängt. Dass ich mal nach Deutschland auswandern würde. Ich komme aus dem Iran. Dass ich ein Kind adoptiere. Und eins verliere. Dass ich einen Beruf lerne, den ich hasse. Und dass ich 48 werde in einer Stadt, die ich bis letztes Jahr nicht gekannt habe.“. Wir stehen nebeneinander im Blumenladen, ich frage nichts nach, nicht zum Job, den sie hasst, nicht zu den Kindern. Nichts zum Schmerz. Am Ende kaufe ich Lampionblumen.
Vor 48 Jahren - längst haben sich Bilder von damals in meine Gedanken geschlichen: Unser riesiger orangefarbener Sessel, der im Flur stand als ich klein war. Und der Geruch in der Küche, wenn’s Nudelsuppe gab. Verrückt, was man alles noch nicht weiß, wenn das Leben beginnt.
Ich gebe zu, dass es mir in diesem vollen Blumenladen etwas unangenehm war, die Geschichte der Frau in Stichworten zu hören. Aber auch berührend. Kein Mensch ist ohne Geschichte, ohne das, was ihn oder sie geprägt hat, was ihn jetzt gerade glücklich macht und was ihr jetzt gerade Kummer macht.
Vielleicht ist das der Grund, warum es die Vorstellung gibt, dass bei Gott alle Geschichten in einem Buch aufgehoben sind. Kein goldenes Buch. Sondern wertvoll, weil orangefarbene Sessel genauso drin vorkommen wie Berufe und Begabungen, Kinder, die geboren werden. Und alles Verlorene auch.
Und, was haben Sie vor 48 Jahren gemacht?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43247Ich sitze im Wartezimmer beim Zahnarzt. Mir gegenüber hängt eine große Weltkarte an der Wand. Ein Vater und sein Sohn sind auch im Wartezimmer. Der Junge rutscht mit der Hand ein Spielzeugauto über seinen Oberschenkel, immer hin und her und brummt dabei leise. Plötzlich sagt er: „Papa, ich möchte mal in ein Land fahren, in dem es Giraffen gibt. Und wo möchtest du gern mal hin?“
Der Mann überlegt: „Oh, Giraffen! Giraffen wären toll. Ich möchte gern mal mit einem Boot auf einem Meer fahren, in dem es Delphine gibt.“ „Ja-aaa!“, sagt der Junge. „Können wir mal zu so einem Meer fahren? Gleich morgen!“ „Ok“, sagt der Vater, „vielleicht besser übermorgen, da ist Samstag, da gehst du nicht in den Kindergarten und wir haben Zeit.“
Das Träumen gehört zur Würde eines Menschen, habe ich neulich jemanden sagen hören. Und damit sind nicht unsere Träume im Schlaf gemeint. Jeder Mensch hat ein Recht auf Träume. Auch auf solche, die vielleicht nie wahr werden. Vielleicht auf die am allermeisten. Und wir Menschen sind verbunden darin, dass wir träumen.
Ich denke, dass es auf dieser Welt eine ganze Reihe Menschen gibt, die sich verbieten zu träumen. Weil zerplatzte Träume mehr wehtun als zerplatzte Pläne. Und ich sehe Menschen, die so tief im Elend sitzen, dass Träumen das allerletzte ist, was ihnen einfällt. Gleichzeitig sind die größten Visionen, etwa für das Zusammenleben von Menschen, in Zeiten entstanden als genau dieses Zusammenleben schwer war. Sie haben Kraft, die Träume.
Der Vater im Wartezimmer hätte seinem Sohn viele Erwachsenen-Sätze sagen können. Sätze wie: „Ja, das machen wir mal. Irgendwann.“ Oder: „Können wir uns leider nicht leisten.“ Und natürlich ist es wichtig, Kindern auch realistisch und ehrlich zu antworten. Aber das hier war ein Träume-Teilen-Gespräch. Ich hatte das Gefühl, dass der Junge am Ende ganz genau wusste, dass sie nicht am Samstag losfahren, um Delphine zu sehen. Aber sie haben einen Traum geteilt.
Träume teilen hat mit Augenhöhe zu tun. Und mit Würde.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43246Anna 100 wird Jahre alt! Deswegen besuche ich sie. Während ich hinradle, überlege ich, was in den letzten 100 Jahren in unserer Welt alles passiert ist: Die Wirtschaftskrise in den 1920ern, der 2. Weltkrieg, der Mauerbau und die Teilung Deutschlands und und und. So viele Krisen in einer Lebensspanne!
Als ich vor Annas Haus ankomme, frage mich: In welcher Verfassung werde ich die Jubilarin antreffen? Wie sie wohl auf ihr Leben zurückschaut?
Ich klingele. Anna öffnet und führt mich in ihr Wohnzimmer. Ich gratuliere ihr und frage, wie es ihr geht. Aus vollem Herzen antwortet sie: „Ach, wissen Sie, ich habe solche Bewahrung erlebt! Ich habe einen Schutzengel, glaube ich. Was ich da mit 15 Jahren erlebt habe… Damals ist meine Großmutter zu Besuch gekommen, mit dem Zug. Mit dem Pferdewagen habe ich sie abgeholt, gemeinsam mit meiner Schwester. Auf dem Rückweg sind wir in einen Gewittersturm geraten. Plötzlich ist ein Blitz eingeschlagen, direkt neben uns. Unser Pferd ist so sehr erschrocken, dass es losgerast ist. Dabei ist unser Wagen einfach umgekippt. Meine Großmutter und meine Schwester sind in einen tiefen Graben gestürzt. Ich hatte solche Angst! Aber glauben Sie’s? Alle drei, meine Schwester, meine Großmutter und ich, wir alle sind mit dem Leben davongekommen. Seitdem weiß ich: Ich habe einen Schutzengel, der auf mich aufpasst.“
Die Jubilarin erzählt noch mehr aus ihrem Leben: von der Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs quer durch Deutschland und von vielen anderen Herausforderungen seitdem. Und alles erwähnt sie ohne Bitterkeit. Ohne rosa-rote Brille erzählt sie auch von Dingen, die sich für sie zum Guten gewendet haben.
Später, als ich nach Hause radle, fällt mir ein, was die Psychologin Lori Gottlieb über unsere Lebensgeschichten sagt: „Wir nehmen an, dass unsere Umstände unsere Geschichte formen. Aber … die Art, wie wir unser Leben erzählen, das formt, was aus unserem Leben wird.“[1]
Mein Leben ist ganz anders als Annas, aber ich nehme mir vor: Im Rückblick will ich auch erzählen von Bewahrung und Segen.
[1] Lori Gottlieb, How changing your story can change your life; TED 2019. Quelle: https://www.ted.com/talks/lori_gottlieb_how_changing_your_story_can_change_your_life
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43272Neulich habe ich ein Hörbuch gehört von dem irischen Autor Colum McCann, der Roman heißt „Twist“[1]. Darin geht es um Kommunikation, um Verbindung – und auch um Brüche und um Kaputtes. In einem Interview[2] erzählt McCann von der Entstehung seines Buches. Er erzählt, dass ungefähr 450 Kabel in der Tiefsee auf dem Meeresgrund liegen. Diese Kabel umspannen unseren Erdball. Alles, die ganze internationale Kommunikation über das Internet wird über diese wenigen Kabel übertragen – jede E-Mail, jede WhatsApp, jede Video-Konferenz läuft da hindurch. Und zwar in Form von Lichtimpulsen, da unten im Dunkeln der Ozeane. Das Licht pulsiert durch Glasfasern, so zart wie eine Wimper, in einer Röhre, so dick wie ein Gartenschlauch.
Diese Kabel können reißen. Ein Reparaturschiff sticht dann in See, um das kaputte Kabel zu finden und zu reparieren. Es ist wie die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen, dieses gerissene Kabel dann zu finden.
Ich finde, der Roman „Twist“ ist ein großartiges Buch. Es ist eine spannende Geschichte, aber nicht nur das: Der Roman hat mich zum Nachdenken gebracht darüber, wie lebenswichtig Beziehungen für uns Menschen sind – und wie störanfällig. So wie diese Kabel die Welt verbinden, so sind wir Menschen miteinander verbunden. Aber die Kabel erinnern mich auch daran, dass eine Verbindung zwischen Menschen abbrechen kann. Und so schwer es ist, an diese Kabel im Ozean ranzukommen, so schwer kann es auch manchmal sein, eine gerissene Beziehung wiederherzustellen.
Ich will nicht zu viel verraten darüber, wie das Buch endet. Aber, dass es selbst auf dem tiefsten Meeresgrund die Möglichkeit gibt, ein kaputtes Kabel zu reparieren, das gibt mir Hoffnung: Ein Riss in einer Verbindung muss nicht das Ende der Geschichte sein. Wenn mir diese Verbindung fehlt, dann kann ich vorsichtig versuchen, den Faden wieder aufzunehmen. Ich könnte eine Karte oder eine WhatsApp schreiben – oder eine E-Mail. Manchmal reicht ja auch nur die Zeile: Hallo, ich denke gerade an dich. Viele Grüße!
[1] Colum McCann, Twist, Rowohlt Verlag 2025.
[2] https://open.spotify.com/episode/6bpyC4odniQxfaAZbFRROU?si=805ba910da2f4650
„Als Christ würde ich mich nicht bezeichnen, dafür habe ich zu viele Fragen.“ Diesen Satz bekomme ich als Pfarrerin in so manchem Gespräch zu hören. Denn für manche Menschen bedeutet Christ sein vor allem, Antworten zu haben, und sich dabei sicher zu sein.
Nichts gegen Gewissheiten. Aber ich weiß auch, dass eine gute Frage Gold wert ist. Sie kann Knoten im Kopf lösen, eine neue Perspektive bringen und mir helfen zu erkennen, welchen Schritt ich als nächstes gehen will. Als ich mal in einer für mich unüberschaubaren Situation festgesteckt habe, da hat mir eine Frage rausgeholfen: „Was würdest Du einer guten Freundin raten in dieser Situation?“ Da wusste ich sofort, was für mich jetzt dran ist.
Kurt Marti, Pfarrer und Schriftsteller aus der Schweiz, hat sich Gedanken gemacht über Gott und darüber, ob es richtig ist, dass Gott immer gleich die Antwort ist. „Frage“ nennt er sein Gedicht:
Gott, so denkt man oft,
so verkünden Eiferer lauthals,
sei Antwort.
Spröder sagt die Bibel,
dass er Wort sei.
Und wer weiß,
vielleicht ist er meistens Frage:
die Frage, die niemand sonst stellt.[1]
Jesus war ein großer Freund von Fragen. Er wollte, dass Menschen ihm Fragen stellen. Denn er wusste, dass Fragen die Menschen ins Gespräch bringen. Viel besser als Antworten. Fragen über Gott und die Welt. Und er hat selbst so viele Fragen gestellt. Mich hat überrascht, wie viele Fragen von Jesus in der Bibel überliefert sind. Über 200 Fragen! „Was sucht ihr?“ fragt Jesus zwei Menschen, die ihm begegnen. „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ fragt er einen blinden Mann, der um Hilfe gerufen hat. „Für wen haltet ihr mich?“ fragt er später seine Freunde.
Für mich bedeutet Christ sein nicht vor allem, fertige Antworten zu haben. Sondern in einer lebendigen Gemeinschaft unterwegs zu sein mit Jesus und mit anderen Menschen. Und bei jeder lebendigen Beziehung gehören Fragen einfach dazu.
[1] „Frage“ von Kurt Marti; abgedruckt in: Rainer Oberthür, Jesus. Die Geschichte eines Menschen, der fragt, Kösel Verlag 2021.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43244Geschnitzte Kürbisse und Zombiemasken, Gespensterumhänge und „Süßes oder Saures“ sind umstritten. Die einen lieben den Rummel, der heute Abend los ist – und die anderen lassen die Rollläden runter und ignorieren die Türklingel. Halloween wird oft auf keltische Wurzeln zurückgeführt. Auf das Fest Samhain: Hier wird der Übergang von der Erntezeit zum Winter ausgelassen gefeiert. Und ist mit einer gehörigen Prise Grusel versetzt. Denn in der Nacht auf den 1. November, das glaubten zumindest die Kelten, wird die Grenze zwischen Lebenden und Toten aufgehoben. Die Verstorbenen kehren nach Hause zurück. Und in ihrem Gefolge Geister und Gruselwesen.
Halloween hat allerdings auch zutiefst christliche Wurzeln. Das zeigt schon der Name: »All Hallows eve«, der Abend vor Allerheiligen. An dem denken Christinnen und Christen an die Heiligen: Menschen, die ihren Glauben in besonderer Weise gelebt haben. Lichtgestalten des Glaubens.
Was mich an dem Abend berührt: Es ist das erste Lichterfest im ausgehenden Jahr. Die Abende werden dunkler, die Nächte länger. Der Sommer ist schon längst vorbei. Und da machen Menschen Licht. Zünden Kerzen an, stellen leuchtende Kürbisse auf, hängen Lichter ins Fenster. Machen deutlich: Wir lassen uns vom Dunkel nicht unterkriegen. Von all dem, was das Leben finster macht. Dem setzen wir Licht entgegen. Und ich erlebe, wie sehr auch ich das brauche. Es gibt genügend Gründe, die Welt für finster zu halten. Halloween sagt: Nein, das Licht ist stärker. Vertreibt alles, was dunkel macht.
Ich finde: Eine starke Hoffnung in diesen Zeiten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43215In Vorbereitung auf diese Sendung bin ich auf ein Ereignis gestoßen. Wahrscheinlich, weil derzeit so viel über Deutsche und ausländische Mitbürger, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte diskutiert wird. Das Ereignis: Heute, vor 64 Jahren, am 30. Oktober 1961, wurde ein Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen. Hundertausende türkische Menschen kommen ab da nach Deutschland. Der Grund?
Nach dem Ende des II. Weltkriegs erlebt Deutschland einen ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung. Dank der alliierten Sieger. Statt unser Land völlig zu zerstören, stimmen sie einem Wiederaufbau zu. Das sogenannte Wirtschaftswunder nimmt seinen Lauf. Doch das Problem: Deutschland hat gar nicht genug Arbeitskräfte für den Boom. Ab 1955 werden deshalb Anwerbeabkommen geschlossen. Auch mit der Türkei. Angeworben werden Arbeitskräfte. Erst sollen die nur für zwei Jahre kommen. Doch vor allem die Arbeitgeber sind an den eingearbeiteten Arbeitskräften interessiert. So kommt es, dass auch Familienangehörige nachkommen.
Fast von Anfang an bemühen sich auch die christlichen Kirchen um diese Menschen. Bieten Beratungen und Hilfen zur Integration an. Sie greifen eine Erfahrung auf, die auch in der Bibel zentral ist: Dass Menschen in ein anderes Land kommen, fremd sind, sich zurechtfinden müssen. Und die Bibel fordert für diese Situation: „Wenn ein Fremdling bei dir wohnen wird, soll er bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (Lev 19,33-34)
Für viele Menschen, die damals kamen, ist das Wirklichkeit geworden. Sie leben wie Einheimische hier. Und mehr noch: Oft lässt sich gar nicht mehr unterscheiden, wer von hier oder von wo anders ist.
Ich finde das immer noch einen ganz wichtigen Satz, gerade in der aufgeheizten Debatte heute. Dass auch ein Fremder ein Recht darauf hat, geachtet, geliebt, anerkannt zu werden. Ganz egal, wo er herkommt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43214Ich stehe an der Supermarktkasse in der Schlange. Das Band bewegt sich langsam, meine Einkaufstüten liegen bereit. Plötzlich piept mein Handy. Es ist die App „Be Real“. „Sei echt!“ Ich öffne sie. Schnell mache ich ein Foto von mir und dann von dem, was gerade vor mir passiert – dem Warenband mit den Lebensmitteln. Kein Inszenieren, kein Vortäuschen. Einfach genau dieser Moment, so wie er gerade ist. Dieses Bild teile ich mit Freunden. Genau diesen echten Augenblick. Kein perfektes Selfie, keine besonders gestellte Pose. So zeigt sich das Leben spontan, ehrlich und manchmal auch ganz unspektakulär.
Sei authentisch! Für mich ist diese Aufforderung mehr als nur eine App. Als meine Tochter Vici eine Zeit lang in den USA gelebt hat, hat mich diese Ehrlichkeit besonders berührt. Die große Zeitverschiebung hat es schwergemacht, im Alltag verbunden zu bleiben. Mit der App habe ich immer wieder kleine Einblicke in ihr Leben bekommen – ganz echt und direkt. Das hat Nähe geschaffen, auch wenn wir weit auseinander waren. Mit dieser App hatte ich das Gefühl, eine echte Begegnung auch digital erleben zu können. Nicht mit perfekt inszenierten Bildern, sondern mit Momenten, die möglichst nicht inszeniert und nicht gefakt sind. Dieses Bemühen, echt und ehrlich zu sein, hat mir gut gefallen.
Die Sehnsucht nach Echtheit hat für mich einen tieferen Ursprung. Jesus hat sie wohl auch verspürt. Wenn er einem Menschen begegnet ist, hat er jeden einzeln gefragt: „Was willst du, dass ich für dich tue?“ Er hat sich für das Leben der Menschen interessiert. Das wirkliche Leben, das ungeschönte. Jesus war ehrlich und direkt und ganz auf Augenhöhe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43126„Umarme dich Selbst“ – diese Aufforderung geht zur Zeit viral in den Sozialen Netzwerken. Im wirklichen Leben kann ich das nur in meinen Gedanken, aber die Künstliche Intelligenz macht es möglich: Da kann ich etwa ein Kinderfoto mit einem aktuellen Foto von mir kombinieren und von einer KI ein Bild machen lassen, auf dem ich als Erwachsener mich selbst als Kind umarme. Für mich war dieser Anblick ungewohnt! Sowas hatte ich vorher noch nie gesehen. Als ich das Foto länger betrachtet habe, fand ich es dann aber auch sympathisch.
Christinnen und Christen wurden lange Zeit viel eher dazu angehalten, sich selbst zu vergessen, sich vielmehr um die Bedürfnisse und Erwartungen Anderer zu kümmern. Als Seelsorger wird mir das in vielen persönlichen Gesprächen anvertraut. Jesus hat ja immer wieder betont: du sollst deinen Nächsten lieben – wie dich selbst! Den zweiten Teil des für ihn wichtigsten Gebotes haben früher viele vergessen.
Dabei ist es die Voraussetzung. Erst wenn ich mich selbst so annehme, wie ich bin, kann ich auch andere annehmen. Das Wichtigste, damit mir das gelingt, ist dankbar zu sein. Der frühere Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, hat kurz vor seinem Tod gesagt: „Danken heißt: Zufrieden sein mit dem, was ist. Und mit dem, was kommt. (…) Wer sich selbst nicht riechen kann, der stinkt auch anderen.“
Wenn ich auf das von der KI erstellte Foto schaue, denke ich mir immer mehr: du brauchst kein Foto, um dich so anzunehmen, wie du bist. Du brauchst nur eines zu üben, und das immer wieder, auch wenn es manchmal schwerfällt: dankbar zu sein!
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