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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Ich sitze an einer fürstlich gedeckten Tafel. Die Gastgeber haben sich wirklich ins Zeug gelegt. Der Tisch ist schön dekoriert. Es gibt allerlei süße und herzhafte Leckereien. Ein feiner Wein wartet darauf, verkostet zu werden. Alles ganz zauberhaft.
Das einzige Problem ist: ich will gar nichts essen. Aus gesundheitlichen Gründen tue ich das seit einiger Zeit grundsätzlich nach 18 Uhr nicht mehr. Nun ist es 20 Uhr. Ich hatte angenommen, so spät wird mir kein ausgewachsenes Abendessen mehr serviert. Die Gastgeber haben das offensichtlich anders gesehen. Hätten wir mal miteinander gesprochen.
Ich kenne das auch selber. Da mache ich mir Gedanken darüber, wie ich einer Person etwas Gutes tun kann. Meiner Frau, meinem Freund, der Nachbarin. Und nicht nur einmal ist es schon vorgekommen, dass ich mit meiner Annahme zumindest knapp daneben gelegen habe.
Jesus hat das anders gemacht. Er mutmaßt nicht, was er für Menschen tun kann. Er fragt nach. Zum Beispiel einen blinden Mann, der am Straßenrand sitzt. Dieser Mann bekommt mit, dass Jesus in der Nähe ist. Und er ruft nach Jesus. Nach kurzer Zeit wird Jesus aufmerksam. Der blinde Mann wird zu Jesus gebracht.
Tja, was könnte dieser Mann nur von Jesus wollen? Sehen will er natürlich. Jesus hat schon viele Menschen gesund gemacht. Also, dann mal los, Jesus. Aber Jesus entscheidet nicht für diesen Mann, was der zu wollen hat. Er fragt nach: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Was kann ich für dich tun?
Diese Haltung fasziniert mich. Jesus tut nie etwas gegen den Willen eines Menschen. Selbst das offensichtlich Gute nicht. Jesus zwingt sich niemandem auf. Bei ihm geht es nicht nach dem Motto: Ich weiß schon, was gut für dich ist.
Jesus lebt echte Augenhöhe mit seinem Gegenüber, indem er nachfragt. Mich macht das nachdenklich. Vielleicht sollte auch ich meinen Gedanken über andere Menschen ein gesundes Maß an Misstrauen entgegenbringen. Im Guten wie im Schlechten.
Der Ausschnitt, den ich von meinem Gegenüber kenne, ist eben genau das: nur ein Ausschnitt - gefärbt durch meine Brille. Um mein Gegenüber besser zu verstehen, macht es Sinn, Fragen zu stellen. Nicht einfach Dinge anzunehmen. Neugierig und offen für den anderen zu bleiben. „Was willst du eigentlich? Was brauchst du? Ich hätte da eine Idee, wäre das hilfreich für dich?“
Mehr fragen und weniger übereinander annehmen. Ich glaube, das hätte das Potenzial, uns näher zueinander zu bringen. Und vielleicht sind es ja sogar schon die Fragen, mit denen ich meinem Gegenüber etwas Gutes tue.
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Es regnet in Strömen. Ich will am liebsten auswandern. Zumindest für einen Tag. Irgendwohin, wo die Sonne scheint. Stattdessen bin ich auf dem Weg ins Büro. Mit dem Regenschirm versuche ich mich möglichst gut vor dem Regen zu schützen. Klappt so semi-gut. Was für eine Wasserschlacht.
Meine Kollegin hat gestern schon angekündigt, dass es den ganzen Tag regnen soll. Am liebsten will ich Beschwerde einreichen. Ich schreibe ihr eine entsprechende Nachricht. Sie schickt mir ein Sonnen-Emoji zurück.
Vor mir läuft ein Mädchen durch den Regen. Es hat keinen Regenschirm dabei. Das scheint ihr allerdings gar nichts auszumachen. Sie folgt mit ihrem Blick einem kleinen Bächlein, das sich im Rinnstein gebildet hat. Plötzlich hält das Mädchen inne. Ich bin neugierig. Was hat sie da entdeckt?
Jetzt sehe ich es auch. Im Wasser treibt ein Regenwurm. Das Mädchen nimmt sich ein Stöckchen. Ganz vorsichtig hebt sie den Regenwurm aus dem Wasser und bringt ihn zur Wiese ein paar Schritte weiter. Ich werde Zeuge einer ausgewachsenen Rettungsaktion.
Mich fasziniert, was ich sehe. Kurzzeitig betrachte auch ich die Welt durch Kinderaugen. Da laden Pfützen zum Springen ein. Regenbäche verheißen Abenteuer. Überall gibt es etwas zu entdecken. Und selbst klitzekleine Dinge wie ein Regenwurm verdienen Aufmerksamkeit und Zuwendung.
Es ist wie kurz die Pausetaste drücken. Sonst haste ich oft durch den Tag. Will bloß nicht unterbrochen werde. Augen zu und durch. Manchmal werde ich kurz aufmerksam, aber keine Zeit. Oder: Bringt doch nichts. Dem ist eh nicht zu helfen. Und für alles und jeden kann ich ja nun wirklich nicht da sein.
Natürlich ist da auch was dran. Ich kann nicht jedem helfen. Aber deshalb die Augen verschließen und gleichgültig an allem und jedem vorbeigehen?
Bevor ich weitergehe, spreche ich das Mädchen noch kurz an: „Hej Du, ich habe gesehen, wie du den Regenwurm gerettet hast.“ Das Mädchen schmunzelt. „Find ich richtig gut, dass du diesem kleinen Lebewesen geholfen hast. Danke.“
Ich glaube, dass auch Gott die Welt liebevoll im Blick hat. Und sie zum Guten bewegt. Mit uns zusammen. Es müssen nicht die großen Dinge sein. Manchmal ist es ein Regenwurm, der aus dem Wasser gerettet wird. Oder ein Kompliment, das ich jemandem mache.
Nach dieser Begegnung mit dem Mädchen gehe ich ein bisschen anders durch den Tag. Und ja, auch durch den Regen. Mit offenen Augen für die Menschen, denen ich begegne. Vielleicht sogar etwas mehr bereit, mich berühren und bewegen zu lassen.
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Von Dietrich Bonhoeffer stammt ein Text über den Optimismus, der mich nachdenklich macht und zugleich bestärkt. Er schreibt: „Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Er ist die Gesundheit des Lebens.“
Optimismus als Lebenskraft – das gefällt mir. Und das leuchtet mir auch ein, dass es den braucht, um mutig weiterzumachen und gesund zu bleiben. Gerade in Zeiten, die keine einfachen sind.
Was hilft mir, nicht alles schwarz zu sehen und den Kopf nicht in den Sand zu stecken? Woraus schöpfe ich Kraft, wo tanke ich auf? Wann geht es mir so richtig gut?
In einer Zeitung gibt es die Rubrik: „Was mein Leben reicher macht“. Woche für Woche schreiben darin Leserinnen und Leser einen Satz, ein kurzes Erlebnis.
Vielfältig und bunt ist, was da zusammenkommt. Vom blühenden Baum im Vorgarten, über die freundliche Begegnung mit dem Briefträger bis zur Genesung nach schwerer Krankheit.
Ich finde das eine prima Sache. Menschen teilen, was sie dankbar sein lässt und froh macht. Sie helfen, den Blick einmal von den bad news auf die good news zu lenken und dem Positiven einen Raum zu geben.
Eine Idee, die mich dazu inspiriert hat, mich hinzusetzen und einmal ohne Punkt und Komma eine ganze Seite vollzuschreiben mit dem, was mein Leben reicher macht und wofür ich dankbar bin. Und das ist eine ganze Menge:
Vogelgezwitscher, am See sitzen, mit meinem Sohn Nachtgespräche führen, Gedichte lesen, barfuß laufen, alte Freundschaften pflegen, glauben können, dass es einen Gott gibt, der mit mir unterwegs ist… und so vieles mehr.
Dass ich manches von dem, was ich glaube und versuche zu leben in den letzten 30 Jahren mit Ihnen, den Hörerinnen und Hörern teilen durfte, dafür bin ich dankbar. Heute verabschiede ich mich mit meiner letzten Sendung von Ihnen und wünsche Ihnen von Herzen: Leben sie wohl und behüt´ Sie Gott.
(Dietrich Bonnhoeffer, Eschbacher Textkarte 4759 „Lebenskraft“)
„Was mein Leben reicher macht“ – in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“
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„Die Grenze ist der eigentliche Ort der Erfahrung“. Über diesen Satz bin ich gestolpert und ganz unterschiedliche Bilder sind in mir aufgestiegen. Erinnerungen an ganz reale Grenzübergänge mit Ausweis vorzeigen und Kontrollen, die immer auch etwas Mulmiges an sich hatten. Orte, wo auf der anderen Seite eine andere, fremde Sprache gesprochen wird und mir bewusst ist, dass ich vertrautes Terrain verlasse.
Nicht nur zwischen zwei Ländern gibt es eine Grenze und Grenzübergänge. Auch im Leben mache ich immer wieder die Erfahrung von Grenzen und Übergängen.
An solchen Grenzen muss ich mich entscheiden, ob ich nach vorne oder zurückgehen will, denn die Grenze ist kein Ort, an dem man ständig leben kann. Deshalb stellt sich die Frage: Wage ich den Schritt, bin ich bereit, Neuland zu begehen und Altvertrautes zu verlassen? Den Beruf zu wechseln oder noch einmal an einem anderen Ort neu anzufangen? Glaub ich, dass auch dort der Boden mich trägt und es Wege gibt, die es wert sind, von mir gegangen zu werden? Glaub ich, dass da Einer ist, der mit mir geht, egal wohin?
Für mich ist diese Vorstellung von einem Gott, der mit seinem Volk und auch mit mir heute unterwegs sein will, hilfreich und tröstlich zugleich. Ein Gott, der nicht an einen Ort gebunden ist, der Grenzen sprengt, auch die, meiner eigenen Vorstellungskraft von ihm. Der immer größer und anders ist, als ich zu denken vermag. Dieser Gott macht mir Mut, mich hinauszuwagen.
Nicht nur in die weite Welt, sondern auch über die Grenzen meiner selbst. Das heißt, dass ich wage, nicht an meinem Bild von mir festzuhalten, dass ich mir zugestehe, mich auch im fortgeschrittenen Alter weiterzuentwickeln.
Ich habe mich zum Beispiel für eine Fortbildung in meditativen Leibübungen angemeldet, die zum Teil auf einer digitalen Lernplattform stattfindet. Anfangs war ich skeptisch, ob ich das hinbekomme, da ich es nicht so mit der Technik habe. Inzwischen freu ich mich, dass ich mich da eingefuchst habe und genieße es, mit diesen einfachen Übungen mehr zur Ruhe, mir selbst und Gott zu kommen. Und ich habe mir vorgenommen, das, was ich dabei erlernt habe, für andere erlebbar zu machen – ohne ständig zu fragen, bin ich schon gut genug dafür?
Dabei vertraue ich diesem Gott, der mit mir über Grenzen geht und bei Grenzerfahrungen an meiner Seite ist. Auch, wenn es immer ein Wagnis bleibt.
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Ich schaue gerne in die Gesichter von alten und hochaltrigen Menschen. Und frage mich, was sie wohl alles erlebt und erlitten haben. Wovon ihre Sorgen- und Lachfalten erzählen könnten. Wenn dann auch noch aus dem Gesicht einer über Neunzigjährigen so wache Augen blitzen, dann denke ich: so möchte ich auch alt und älter werden.
Beim Blick in den Spiegel morgens ist das allerdings nicht immer nur erfreulich mit dem Älterwerden und den Falten, die mehr und mehr werden. Gleichzeitig möchte ich sie nicht missen, auch wenn mir ein Gesichtschirurg vor einigen Jahren gesagt hat: „Da ließe sich einiges richten bei Ihnen.“ Damals war ich zunächst perplex…dann hab´ ich schallend gelacht und ihm erklärt: „Nichts da - die Falten und Fältchen sind alle ehrlich erheult und erlacht. Die gehören zu mir und meinem Leben.“ Das, was sich dahinter verbirgt, kann mir keiner nehmen – geschweige denn glattbügeln. Denn natürlich hat es auch Brüche in meinem Leben gegeben. Die will ich nicht schönreden. Manche davon hätte ich mir gern erspart, keine Frage.
Dass ich sie heute liebevoller anschauen kann liegt auch an einem Merksatz aus der Archäologie. Der lautet: „Halte die Bruchstellen heilig!“ Wenn Archäologen ein Fragment einer Statue oder eines Gefäßes finden, schleifen sie die Bruchstellen nicht glatt, damit es schöner aussieht. Schließlich könnte irgendwann das fehlende passende Stück gefunden und dann wie ein Puzzle-Teil ergänzt werden.
So stell ich mir das auch mit den Bruchstellen in meinem Leben vor. Manches kann ich nicht kitten und will es nicht zukleistern. Ich vertrau darauf, dass Gott irgendwann diese Bruchstellen heil macht, dass er ergänzt, was fehlt oder verlorenging, damit ich heil und ganz werde.
Und bis dahin halte ich ihm meine Bruchstellen und Falten hin, die ganze Geschichte, die in meinem Gesicht steht und mit dem ich freundlich auf die Menschen um mich schaue.
Ganz so wie es folgender Text beschreibt:
„Mein Gesicht soll eine Landschaft werden
mit Berg und Tal,
in der Menschen sich verlieren
und wiederfinden können.
Mit Furchen,
in denen der Schabernack lauert
und Winkeln voll Güte und Trost,
mit Ebenen, um sich auszuruhen,
und Gruben, in denen man sich geborgen fühlt.
Und jeder soll sagen:
das ist eine gute Landschaft,
das ist die Landschaft,
die ein Mensch ist.“
Quelle: Aktion Leben Österreich/Gemeinsam für das Leben – ohne Wenn und Aber
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„Jeder hat eine Tür der Veränderung in sich, die aber nur von innen geöffnet werden kann.“
Dieser Satz stammt von der amerikanischen Familientherapeutin Virginia Satir.
Ich verstehe ihn so, dass manchmal erst in mir drin etwas passieren, etwas reifen muss, bevor ich eine Entscheidung treffen kann, die etwas in meinem Leben verändert.
Mir ist dazu eingefallen, was mir unlängst eine liebe Bekannte erzählt hat. Sie hatte vor Jahren einen heftigen Streit mit einer Freundin und den Kontakt zu ihr abgebrochen. Doch dann ist sie auf ein Bild in einem Kalender gestoßen. Darauf ist eine alte Holztür mit einem Loch zu sehen, gerade so groß, dass man mit einer Hand durchgreifen kann. Diese Tür gibt es tatsächlich; sie steht in der St. Patricks Kathedral in Dublin. Sie heißt „Tür der Versöhnung“ und erinnert an folgende Geschichte: 1492 waren zwei adlige Familien miteinander heftig in Streit geraten. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und aus Furcht ist eine der beiden Parteien in die Kathedrale geflüchtet und hat sich in einem Nebenraum hinter dieser Tür verschanzt. Die Widersacher haben diese Tür belagert und die drinnen aufgefordert, rauszukommen, um miteinander zu reden. Das haben die sich nicht getraut. Als gar nichts vorangehen wollte, hat der Adlige, der draußen war, mit der Streitaxt ein Loch in die Tür schlagen lassen. Durch dieses Loch haben sie dann miteinander gesprochen. Und dann hat einer sich ein Herz gefasst: Er hat seine ganze Hand und den Arm durch das Loch gestreckt – völlig wehrlos dem Widersacher gegenüber. Vermutlich blieb allen in dem Moment das Herz stehen. Was jetzt wohl geschehen würde?
Vermutlich ahnen Sie, was passiert ist, wenn diese Tür als „Tür der Versöhnung in die Geschichte eingegangen ist. Ja, die beiden haben sich tatsächlich die Hand gereicht und sich versöhnt.
Und meine Bekannte? Die hat doch tatsächlich, inspiriert von dieser Geschichte, die Tür in klein nachgebaut. Hinter das Loch hat sie sich selbst gemalt, mit ausgestreckter Hand. Und dies hat sie ihrer Freundin zu Weihnachten geschickt.
Sie ist über ihren Schatten gesprungen, hat ihre innere, lange verbarrikadierte Tür geöffnet… Von der Reaktion der Freundin war sie sehr berührt. Die hat sie nach vielen Jahren der Funkstille zwischen den beiden, zu ihrem Geburtstag eingeladen.
Die Geschichte und das Bild stammen aus: „Der Andere Advent 2024/25
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„We stick together, when we eat together“ – wenn man zusammen isst, dann hält man zusammen.
Dieser Satz stammt aus dem Film „The old oak“. Worum geht es?
The old oak, die alte Eiche, ist ein Pub in einer ehemaligen Bergarbeiterstadt in Nordengland, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Die Zeche ist geschlossen, viele Menschen sind arbeitslos und halten sich mehr schlecht als recht über Wasser. In dieser Kleinstadt kommt ein Bus mit syrischen Flüchtlingen an. Die Begeisterung darüber hält sich in Grenzen. Doch der Wirt des Pubs hat ein großes Herz und ein Nebenzimmer, das nicht mehr genutzt wird. In diesem Zimmer entdeckt Yara, eine junge Syrerin, diesen Spruch an der Wand: We stick together, when we eat together. Der stammt von der Mutter des Wirts. Diese hat in Zeiten einer schweren Wirtschaftskrise, als alles den Bach runter ging, in diesem Raum so etwas wie eine Suppenküche für alle eingerichtet. Hier traf man sich Tag für Tag, war zusammen, teilte, was man hatte und ließ sich nicht entmutigen. Yara erinnert sich, dass sie das zu Hause in Syrien mit all den Nachbarn gerade so gemacht haben, als die Regierung versucht hat, sie auszuhungern.
Yara und der Wirt beschließen, diesen Raum zu entrümpeln und die alte Suppenküche wieder aufleben zu lassen. Einheimische und Zugereiste packen mit an, kochen und essen gemeinsam und finden zueinander.
Mich hat dieser Film sehr berührt. Vielleicht weil er zeigt, wie aus Fremden Freunde werden, wie zusammen Essen verbinden kann. Ich denke daran, wie das bei uns auch an vielen Orten geschieht. Bei den Vesperkirchen oder wie hier bei uns in Wangen beim Suppentöpfle. Einmal in der Woche treffen sich unterschiedlichste Menschen und Altersgruppen zum Eintopfessen. Keiner isst alleine und die Freude aneinander ist spürbar. Essen verbindet – auch zu Hause am Esstisch; denn da wird nicht nur gegessen, sondern meist auch besprochen, was gerade so los ist und ansteht.
Auch von Jesus wird erzählt, dass er gerne mit Menschen um einen Tisch saß und seine Jüngerinnen und Jünger aufgefordert hat, miteinander Mahl zu halten und sich dabei an ihn zu erinnern. Die ersten Christen haben sich dazu einmal in der Woche in ihren Häusern getroffen. Es waren Sättigungsmähler, vor allem für die Armen, und gleichzeitig wurde nicht nur Essen, sondern vor allem auch Leben geteilt. Daraus ist Gemeinschaft entstanden, Menschen, die sich umeinander gekümmert haben … ganz im Sinne von „we stick together, when we eat together“.
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„Woran kann man erkennen, dass die menschliche Zivilisation begonnen hat? Und, welcher Gegenstand dient dafür als Beweis“? Diese Fragen haben Studentinnen und Studenten in Amerika ihrer Professorin gestellt.
Die Anthropologin Margret Mead hat ihnen nach kurzem Überlegen geantwortet: „Ein verheilter Oberschenkelknochen“.
Die jungen Menschen waren über diese Antwort vermutlich ebenso erstaunt wie ich. Ein Kochgefäß oder eine Waffe zum Jagen, wäre für mich naheliegend gewesen.
Was aber hat ein verheilter Oberschenkelknochen mit dem Beginn der Zivilisation zu tun? So einen Knochen, mehrere Tausend Jahren alt, haben Archäologen gefunden. Und sie haben festgestellt: Dieser Oberschenkelknochen muss irgendwann durch einen Sturz oder was auch immer gebrochen sein und ist wieder verheilt.
Margret Mead begründet ihre These folgendermaßen: Um so einen Bruch überleben zu können, muss jemand dagewesen sein, der sich gekümmert hat. Ein anderer Mensch, der den Bruch geschient hat und den Verletzten mit Essen und Trinken versorgt hat. Der einfach dageblieben ist, damit er in Ruhe gesund werden konnte. Jedes Tier in derselben Situation, wäre unter seinesgleichen vermutlich jämmerlich gestorben.
Diese Erklärung finde ich einleuchtend und anrührend zugleich. Denn, was damals galt, gilt auch für heute. Damit die Menschheit das Prädikat zivilisiert verdient und menschenwürdig überleben kann, braucht es mehr als „schneller, höher, weiter“, High Tech und KI. Was es mehr denn je braucht sind Menschen, die sich umeinander kümmern. Die einander nicht gleichgültig sind – gerade in einer Zeit, in der viele einsam sind
Dazu passt, worüber der österreichische Autor, Chansonnier und Schauspieler André Heller vor ein paar Jahren nachgedacht hat. In einer engagierten Rede hat er eine neue „Weltmuttersprache“ gefordert. Eine Sprache, die im Grunde jeder Mensch sprechen oder einüben kann. Und diese Weltmuttersprache sei und müsse Mitgefühl sein. Das berührt mich und spricht mich sehr an. Denn dabei geht es nicht um Gefühlsduselei. Mitgefühl meint mehr. Echtes Mitgefühl ermöglicht mir, in jedem Menschen mich selbst zu erkennen und mit ihm verbunden zu sein. Liebevoll auf ihn oder sie zu schauen – und da wo es nottut, zu helfen.
Geschichte vom verheilten Oberschenkelknochen stammt aus: Annabelle Hirsch, „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“, 2022 Kein&Aber AG, Zürich-Berlin, gefunden in „Der Andere Advent, 2024/2025
Mahn-Rede von André Heller war zum 80. Jahrestag des „Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland 2018 in Wien.
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Ein, zweimal während meiner Zeit als Gemeindepfarrerin haben mir Menschen anvertraut, dass sie sich etwas selbst nicht verzeihen konnten. Sie hatten jemandem weh getan. Jemandem, der ihnen wichtig war. Manchmal reicht eben schon ein falsches Wort. Oder Unaufmerksamkeit: wenn man dem anderen nicht richtig zugehört hat oder abgelenkt war, mit sich selbst beschäftigt… Manchmal reicht das, und man hat einen lieben Mitmenschen fürchterlich verletzt und gekränkt – und manchmal sind die Verletzungen nicht mehr zu heilen.
Ein, zweimal haben mir Menschen davon erzählt, wie sie sich eine Tat oder ein Wort in ihrem Leben nicht verzeihen konnten. Und mir steht noch deutlich vor Augen, wie schwer das Gefühl von Schuld auf ihrer Seele gelegen hat. Sie waren einfach nicht frei. Da war ein Schatten auf ihrer Seele. Und dieses Gefühl kenne ich selbst ja auch…
Mir selbst zu verzeihen, das ist viel schwerer als gedacht. Und der Versuch hat auch einen schalen Beigeschmack, finde ich. Denn es IST ja etwas passiert. Jemand hat Schaden genommen – meinetwegen. Umgekehrt genauso: Wenn ich es bin, die verletzt worden ist durch die Schuld eines anderen – dann kann ich das auch nicht ungeschehen machen. Es gibt Dinge, die kann ich einfach nicht verzeihen, selbst, wenn ich es will.
Schwamm drüber, vergessen wir’s … Mir selbst vergeben – anderen vergeben… Manchmal ist das einfach nicht möglich. Aber wohin dann mit der Schuld?
Ich spüre die Schatten auf meiner Seele – und mehr und mehr fühlen sich meine Gedanken an, wie ein Gebet: Wohin mit der Schuld? Zu Dir, Herr, Jesus? Zum Kreuz? Dahin werde ich mich jetzt auf den Weg machen. Ich bitte Dich, Herr: Nimm den Schatten von meiner Seele. Vergib mir meine Schuld, und gib mir die Kraft, damit auch ich anderen ihre Schuld vergeben kann.
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Nun ist der neue Papst doch eine Überraschung. Keiner von denen, die in den letzten Tagen so hoch gehandelt wurden. Robert Francis Prevost ist der erste US-Amerikaner auf dem Stuhl Petri. Er nennt sich Leo XIV. und stellt sich damit in die Tradition eines Namensvorgängers aus dem 19. Jahrhundert. Papst Leo XIII. ist in die Geschichte eingegangen, weil er sich sehr ausführlich mit sozialen Themen beschäftigt hat.
Ob das als erstes kleines Programm des neuen Pontifikats verstanden werden darf? Mir würde das gefallen; nicht zuletzt, weil es an Papst Franziskus anknüpft, der sich besonders für die Armen eingesetzt hatte. Prevost war lange Zeit Bischof in Peru, kennt also nicht nur den Vatikan und seine Gesetze, wo er zuletzt gearbeitet hat. Er weiß, was die ganz „normalen“ Menschen brauchen.
Für mich war der erste Auftritt des Neuen auf dem Petersplatz gestern noch in weiterer Hinsicht überraschend. Was für ein junges Gesicht sich da zeigte und mit welch fester Stimme er zur ganzen Welt sprach. Nicht nur zu den Katholiken. Friede sei mit Euch! Den Gruß des auferstandenen Christus an seine Jünger hat er allen zugerufen. Und ich erlaube mir auch das programmatisch zu sehen. Weil unsere Welt nichts mehr braucht als das: Frieden.
Viel mehr kann man über den neuen Papst einen Tag nach seiner Wahl kaum sagen. Aber ich kann sagen, was ich hoffe und wo ich wünsche, dass er Akzente setzt.
- Ich hoffe sehr, dass Papst Leo ganz nahe an den Menschen dran ist und ein offenes Ohr für sie hat. Und ein Löwen-Herz. Für ihre Nöte und Sorgen, wie auch immer sie aussehen mögen.
- Ich hoffe, dass er sich aktiv für den Frieden in unserer Welt einsetzt, in der Ukraine und im Gaza; dass er die Kriegsgegner nach Rom einlädt, sie an einen Tisch bringt und ihnen ins Gewissen redet.
- Ich hoffe, dass er alte Gräben überwindet und neue Brücken baut. In der christlichen Ökumene, die für uns Deutsche so wichtig ist. Aber auch mit dem Islam, weil es eine Katstrophe ist, wenn Menschen wegen Gott zu Feinden werden.
- Und schließlich und vor allem hoffe ich, dass er sich auch in unerwarteten Momenten auf Jesus beruft. Damit nicht vergessen wird, was für unseren Herrn und Meister wichtig war. Nur die Wahrheit macht frei. Und die Liebe ist unsere größte Gabe.
Gott segne dich, Papst Leo!
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