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17NOV2024
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Alvaro Soler (c) Jakob Furis

Der Musiker Álvaro Soler hat Millionen Fans rund um den Globus. Ein Weltbürger sein - das lebt er und das ist auch Teil seiner eigenen Biografie. Denn seine Vorfahren kommen aus Spanien, Belgien und Deutschland. Álvaro wuchs zunächst in Barcelona auf, als Kind zog er mit der Familie nach Japan, später wieder zurück nach Spanien und seinen musikalischen Durchbruch feierte er 2015 in Berlin mit dem Lied: „El mismo sol“, auf deutsch: „Unter derselben Sonne“. In Zeiten von wieder erstarkendem Nationalismus verkörpert Álvaro Soler eine Solidarität aller Menschen auf diesem Planeten:

„El mismo sol“ ist ja das, wofür ich stehe- dieses Internationale. Alle Leute zusammenbringen ist halt das, was mich am meisten definiert, glaub ich. Weil ich hab in verschiedenen Kulturen gelebt - und ich hab nie wirklich unterschieden zwischen „du kommst von hier und du kommst von da“ … also ich hab unterschieden, aber im positiven Sinn, es war so eher:,,Cool du kommst ja aus Korea, du kommst aus Japan, mega, wie sagt man das und das auf Japanisch?

Heute spricht der 33-jährige sechs Sprachen fließend und sagt: Wir müssen uns für die Menschen unter dieser selben Sonne wieder mehr interessieren, sie sind unsere Geschwister und es muss uns beschäftigen, wie und unter welchen Umständen sie leben:

Wenn ich ein Wort habe für mein Leben, dann ist wirklich Neugier das Wort, also die gute Neugier, weil das ist der Motor für alles, was ich gemacht hab in meinem Leben

Neugierig ist Álvaro Soler auch, wenn es um Sinnfragen geht – etwa: Wozu bin ich auf dieser Welt?

Das ist eine sehr interessante Frage und eine sehr große Frage: es gibt ja so viele sehr begabte Musiker, die viel besser Musik spielen als ich, auf jeden Fall, aber ich hab irgendwann gedacht: ich bin einfach auf dieser Welt, um den Leuten was mitzugeben, was einfach positiv ist und ich glaube das ist meine Arbeit auf dieser Welt. Wirklich meine Berufung ist den Leuten gute Laune zu geben, in dieser Zeit, wo wir hier sind.

Mir gefällt diese Definition von Berufung. Dass er das kann, das sieht er als ein Geschenk. Und dass es funktioniert, erlebe ich in den vielen strahlenden Gesichtern auf seinem Konzert in Leverkusen, wo ich den Künstler treffe. Für Álvaro Soler ist Lebensfreude aber mehr als billiger Spaß:

Das klingt natürlich sehr banal, wenn man sagt: „Party und so“. Es ist aber nicht Party – es geht einfach darum von diesen Problemen ein bisschen Perspektive zu bekommen, von deinen eigenen Routinen rauszukommen. Auch in den Konzerten finde ich, dass mein Job ist: wenn Leute zu den Konzerten kommen, dass die nach Hause gehen und denken: Krass, ich bin jetzt kurz für zwei Stunden weg gewesen und jetzt geht es mir besser – und das ist meine Berufung, dass ich sowas bekommen habe, weil es pusht mich selber auch, ich bin ja nicht immer positiv gelaunt, es gibt ja auch Momente, wo ich denke: Das ist so schwer oder das krieg ich nicht hin. Und es ist für mich eine super Aufgabe diese Verantwortung zu haben.

Verantwortung empfindet er auch für die Zukunft unseres Planeten und macht sich ehrlich:

Ich muss auch ganz ehrlich sagen – ich bin nicht der Nachhaltigste auf der ganzen Welt. Allein das Fliegen in Länder, weil ich Konzerte habe oder so. Wir nehmen ja schon einen Tourbus sooft wie wir können, und versuchen ja schon alles zu reduzieren, aber bestimmt kann ich viel mehr machen. Aber da bin ich nicht der Einzige. Ich glaub: Jeder von uns kann vielmehr machen, und ich glaube, man muss sich nur hinsetzen und planen und sagen: jetzt ändere ich was in mir.

Und weil er vor seiner Karriere Industriedesign studiert hat, weiß er, dass auch die Wirtschaft noch viel nachhaltiger werden muss. Wie dramatisch die Auswirkungen des Klimawandels sind, erfährt Álvaro Soler gerade, wenn er in seine spanische Heimat -etwa nach Valencia - schaut. Auf seinem Konzert sammelt er Spenden. Ich muss dabei sofort an die Flut im Ahrtal 2021 denken. Und wie wichtig jede Hilfe in so einer Situation ist.

Ich treffe den international erfolgreichen Musiker Álvaro Soler. Er hat schon mit Künstlern wie Jennifer Lopez Songs produziert – sein neuestes Lied „Cero“ ist hingegen eine ganz besondere Zusammenarbeit, die ihren Ursprung auf einer Reise mit der Hilfsorganisation „World vision“ in Kenia hat. Dort hat er sich verschiedene Projekte angeschaut hat, um auf Hunger und Not der Menschen aufmerksam zu machen:

Wir waren in Marsabit, das ist zehn Stunden von Nairobi mit dem Auto, das braucht zwei Tage bis du da bist. Das sind Schäferfamilien, die wohnen so bisschen Nomaden mäßig.

Und dort begrüßt ihn der „Namayana womens choir“.  Frauen, die als Gospelchor auf ihrer Heimatsprache Rendile singen. Alvaros Kollege fängt die Situation ein und diese Melodie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Jetzt hat er aus den Aufnahmen einen neuen Song gebastelt:

Es ist eigentlich ein christian song und sie singen das normalerweise in so Gospelgemeinden  – das ist einfach ein Dankbarkeitsgesang und das finde ich total schön, das passt mega zu dem Soing. Sie haben mir noch mal gesagt, was das alles heisst, was sie sagen. Also sie sagen: „ Oh Lord, it is by your might, that we are here “

Übersetzt: „Gott, es ist deiner Macht zu verdanken, dass wir hier sind.“ Es geht um Demut und das Geschenk des Lebens. Und wie hält es Álvaro ganz persönlich mit dem Glauben. Ist er ein religiöser Mensch?

Ich bin ja katholisch aufgewachsen in Spanien und ich bin getauft, aber irgendwann hab ich sozusagen meinen eigenen Weg und Bezug dazu gefunden. Und bei mir ist es so: ich hab dann irgendwann auch durch Meditation meinen eigenen Frieden dann gefunden.

Und ihm geben die 10 Gebote Orientierung. Ich nehme den Künstler als Menschen war, der offen ist für Spirituelles. Der in seinen Liedern immer wieder von der Seele singt. Glaubt er an eine größere Kraft? Hat er einen Draht nach oben?

Ja, es gibt eine größere Kraft, auf jeden Fall-100 Prozent! Also guck mal: Wenn man Musik macht, Kreativität, ich finde: Musik und alles was kreativ ist, ist verbunden mit einer größeren Kraft –und manchmal ist man einfach nur das Medium dafür, wenn man es schafft sich so zu öffnen, dass es klappt, dass dieser Fluss passiert, dann ist es das Schönste, was es gibt auf der Welt. Deshalb bin ich sehr oft sehr, sehr dankbar für all das ,was passiert ist in meiner Karriere.

Ich frage ihn nach seiner Lieblingszeile in seinem neuen Song und in seiner Antwort spiegeln sich dann auch wieder Momente aus seiner Keniareise. Da hat er erfahren, dass absolut nichts selbstverständlich ist:

„Será que nos hemos olvida'o - Que aquí todo es un regalo- haben wir vielleicht vergessen, dass hier alles ein Geschenk ist. Und jeder Tag, an dem wir aufwachen ein Geschenk ist und alles andere was passiert, ist ein Extra.

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10NOV2024
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Margret Köpfer vor einem Bild der Mutter mit Bibel von Hans Thoma Copyright: Sylvia Vetter

Martina Steinbrecher trifft Margret Köpfer, Leiterin des Hans-Thoma-Museums in Bernau

Die Leiterin des Hans-Thoma-Museums in Bernau im Schwarzwald hat in diesen Tagen alle Hände voll zu tun. Grund dafür sind gleich zwei Jubiläen: Das Museum feiert sein 75-jähriges Bestehen.  Und dann jährt sich in diesen Tagen der 100. Todestag des „Lieblingsmalers der Deutschen.“ Auf den Tag genau heute vor 100 Jahren ist er in Karlsruhe mit Glanz und Gloria beerdigt worden. Der Weg zu so viel Ruhm war allerdings lang und beschwerlich:

Hans Thoma stammt aus ärmlichen Verhältnissen und fürs 19. Jahrhundert auch sehr schwierigen Familienverhältnissen. Denn erst starb sein älterer Bruder, der Hilarius, dann starb sein Vater, und so war er das einzige männliche Mitglied der Familie, von dem natürlich auch irgendwie erwartet wurde, dass er in Zukunft die Familie ernährt. Die Familie bestand dann noch aus seiner Mutter Rosa und seiner Schwester Agathe. Und die Mutter Rosa hat also sehr viel darangesetzt, dass der Bub was G‘scheits wird.

Mutter und Schwester: Die beiden Frauen, die ihn ihr Leben lang begleitet und geprägt haben, hat Hans Thoma immer wieder portraitiert. Das vielleicht bekannteste Ölgemälde der beiden stammt aus dem Jahr 1866 und zeigt die 62-jährige Rosa und die 18-jährige Agathe, wie sie zusammen in einer Bibel lesen. Zum Jubiläum ist das Bild in der aktuellen Ausstellung zu bewundern. 

Oder dann haben wir Mutter in der Bibel lesend. Das hängt im Schwarzwaldraum, da liest sie natürlich auch in der Bibel und hat ihre Brille auf. Diese Brille, irgendwie so dieses Symbol des Gebildetseins. Dann die Bibel, das Zeichen der Frömmigkeit. Das taucht schon immer wieder bei ihm auf.

Auch wenn die Familie Thoma katholisch ist und Hans erst durch die Heirat mit der Künstlerin Cella Berteneder evangelisch wird, zeigen die Bilder der lesenden Frauen ein zutiefst protestantisches Programm. Denn es war ein wichtiges Anliegen der Reformatoren, auch Menschen aus einfachen Verhältnissen Zugang zu Bildung zu verschaffen, und zwar Männern wie Frauen, nicht zuletzt, um die Bibel in ihrer Muttersprache lesen zu können. Dass das Bibelstudium im Hause Thoma ein alltägliches Ritual war, sieht man an der abgebildeten Bibel: Sie zeigt starke Gebrauchsspuren. Aber auch die Haltung von Mutter und Schwester lässt keinen Zweifel: Diese Frauen leben nicht vom Brot allein, sondern - gemäß einem Bibelvers - von jedem Wort, das ihnen aus Gottes Mund entgegenkommt. Ein Bild der Mutter mit Bibel ist zurzeit auch das Lieblingsbild von Margret Köpfer:

Das hängt so genial jetzt in der neuen Ausstellung. Wir haben praktisch die Fenster verdunkelt. Und da ist das Geburtshaus von Hans Thoma drauf, und zwischen den beiden Fenstern ist ein Stück Wand. Und da ist genau das Hauseck vom Geburtshaus. Und genau da hängt jetzt die Mutter, und es ist für mich so Inside-outside. Ja, ich sehe von außen das Geburtshaus, und ich sehe die Mutter von innen, die genau in diesem Eck des Hauses vorm Fenster sitzt und die Bibel liest. Ja, das find ich einfach irgendwie kongenial.

Man merkt es ihr an: Die gebürtige Bernauerin Margret Köpfer ist begeistert von ihrem kleinen Museum und seinen vielfältigen Möglichkeiten, den Maler und sein Werk bekannt zu machen. Bevor Hans Thoma im Alter von knapp 60 Jahren Direktor der Karlsruher Kunsthalle wird, Abgeordneter in der badischen Landeskammer und schließlich 1924 als hochbetagter A-Promi zu Grabe getragen wird, hat er als Künstler jahrzehntelang mit vielen Vorurteilen zu kämpfen:

Er war bei seinen Kollegen als „Hühnermaler“ verschrien, weil er so an seinen ländlichen, bäuerlichen Motiven festhielt. Und wir haben wunderschöne Hühner von ihm, also da weiß man dann überhaupt nicht, warum das ein Schimpfwort sein soll, weil er hat sie wirklich saugut drauf.

Mutter und Schwester unterstützen die Karriere des brotlosen Hühnermalers, und jahrelang lebt die Familie vom Erlös der Blumenbilder seiner Ehefrau Cella, die sich viel besser verkaufen lassen. Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts stellt sich auch für Hans Thoma der Erfolg ein. Dann aber durchschlagend. Er wird zum Lieblingsmaler der Deutschen.

Das hat auch ein bisschen was mit der Zeit zu tun, weil eben die Industrialisierung in vollem Gange war. Und da hat sich der Mensch halt irgendwie so nach dieser Natur gesehnt, so wie Hans Thoma halt auch. Und für ihn war halt das Idealbild der Natur eigentlich oft einfach die Bernauer Landschaft.

Diese heimische Landschaft findet sich übrigens auch auf Bildern mit Szenen aus der Bibel. Als im Jahr 1912 endlich die beiden Altarbilder geliefert werden, die Hans Thoma seiner Heimatgemeinde für die Kirche St. Johannes schon lange versprochen hat, sind die Bernauer freudig überrascht. Denn auf dem einen sieht man …

… Maria über dem Bernauer Tal, das zeigt ja auch wieder irgendwie seine Heimatverbundenheit, wie die da über dem Ortsteil Innerlehen schwebt. Und es ist was zwischen Heiligenbild und Landschaftsbild. Und na ja, Johannes, der Täufer, das ist halt Rheinebene. Und er hat es bestimmt irgendwie ein bisschen angleichen wollen an die biblische Landschaft, aber eindeutig Rheinebene.  

Hans Thoma hat wohl verstanden, was Mutter Rosa ihm aus der Bibel zu vermitteln suchte, und er hat mit seinen künstlerischen Mitteln umgesetzt, was die biblische Botschaft zu allen Zeiten will: Mitten im Leben der Menschen ihre Wirkung entfalten. 

 

Überblick Hans-Thoma-Kunstmuseum in Bernau im Schwarzwald.

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03NOV2024
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Günter Caszny copyright: Manuela Pfann

… und mit Günter Czasny. Ich treffe mich mit ihm, weil er ein Experte für Friedhöfe ist und weil er eine ungewöhnliche Vision hat. Gemeinsam mit der Initiative „Raum für Trauer“ möchte er Friedhöfe zu Begegnungsorten machen. Das macht mich neugierig – und irritiert mich. Weil ich mir das nicht vorstellen kann. Egal wer aus meiner Familie oder meinem Bekanntenkreis gestorben ist - nach einer Beerdigung bin ich nur selten zurückgekommen an den Ort der Beisetzung. Und da bin ich nicht die Einzige. In einer Studie[1] sagen zwei von drei Befragten: Das Grab oder den Friedhof brauche ich nicht zum Trauern. Für mich stellt sich daher die Frage: Brauchen wir künftig gar keine Friedhöfe mehr?

Meine Sicht ist da ein bisschen anders, weil ich natürlich auf vielen Friedhöfen sehe, was dort geschieht, wie sich Menschen auf Friedhöfen verhalten, wie viele Menschen eben doch auf den Friedhof gehen, die vorhin sagten ist gar nicht wichtig. Ganz so ohne ist der Friedhof vielleicht doch nicht.

Günter Czasny ist seit vielen Jahrzehnten auf Friedhöfen unterwegs; er arbeitet in einer Kunstgießerei und gestaltet Skulpturen für Friedhöfe und Schmuck für Gräber, zum Beispiel Kreuze oder Figuren. Und er beobachtet die Veränderungen auf den Friedhöfen: Es gibt inzwischen viel mehr Urnengräber und anonyme Bestattungen. Die Angehörigen wollen oder können sich nicht mehr um die Grabpflege kümmern, sagt er. Oft hinterlassen auch die Verstorbenen selbst die Botschaft: Macht Euch keine Arbeit mit meinem Grab, ich will niemandem zur Last fallen. Doch an genau diesem Punkt gibt es ein Problem:

Das, was Menschen an diesen Beisetzungsorten tun, das Ablegen von Blumen, Kerzen hinstellen, Engelchen, all diese Dinge hat nichts mit Grabpflege zu tun. Grabpflege ist was anderes. Das sind Trauerhandlungen.

Aber die sind auf den traditionellen Friedhöfen oft nicht vorgesehen; zum Beispiel bei Urnengräbern oder wenn ein Baum als Bestattungsort gewählt wurde. Wird dann ein Brief oder ein Stofftier hinterlassen, räumt die Friedhofsverwaltung das in der Regel wieder weg. Aber genau das ist aus Sicht der Trauerforschung so wichtig, sagt Czasny. Die Verbindung mit dem Verstorbenen zu pflegen.

Eine gelebte Beziehung, die ist selbst durch den Tod nicht beendet. Die bleibt, die schwingt in uns nach. Und gerade durch Verlustschmerz pulsiert die, die blubbert unglaublich in uns. Das tut weh und sie wird immer in uns bleiben. Und Beziehung lebt von Kommunikation. Nur wer kommuniziert hat Beziehung. Aber wenn wir es dann verbieten, dann nehmen wir was ganz Wesentliches an diesen Orten weg. Somit sind das auch keine gut funktionierenden Trauerorte.

Deshalb müsse man die Perspektive ändern. Das hat sich die Initiative „Raum für Trauer“ um Günter Czasny zur Aufgabe gemacht. Soziologen arbeiten da beispielsweise mit, Landschaftsarchitekten, Trauerforscher, Steinmetze und Bestatter. Den Friedhof also nicht mehr als Ort der Toten verstehen, …

… sondern zu sehen, was passiert eigentlich mit denen, die die Friedhöfe besuchen. Dass das ja eigentlich die Zielgruppe ist und sich darauf zu konzentrieren. Was brauchen diese Menschen, wie ist deren tatsächliches Bedürfnis?

Die Antwort, die die Initiative auf diese Fragen gefunden hat – die fasziniert mich. Man kann sie anschauen. Auf einem Modellfriedhof in Süßen bei Göppingen. „Campus Vivorum“ heißt er – übersetzt: „Feld für die Lebenden“. Wie es da aussieht - davon erzähle ich nach der Musik.

Teil 2

Günter Czasny ist Experte für Friedhöfe und ausgebildeter Trauerbegleiter. Und er ist der Initiator des „Campus Vivorum“, das ist ein Modellfriedhof in Süßen bei Göppingen. Überall zwischen den Gräbern gibt es da kleine Sitzgelegenheiten, ein wunderschöner Sinnesgarten zum Durchspazieren ist angelegt. Es gibt einen nach oben offenen Raum aus braun-rotem Stein mit einer großen Tafel, um was aufzuschreiben. Und mitten auf dem Campus steht ein großer Steintisch mit Wasserlauf und Bänken. Muss ein Friedhof in Zukunft so aussehen, damit Menschen gut trauern können?

Wie muss er wirken? Würde ich gern ergänzen. Er sollte die Menschen so empfangen, dass sie spüren: Die, die diesen Friedhof gestaltet haben und verantworten, haben sich Gedanken gemacht über mich und vor allem über meine Trauersituation. Mir geht es nicht gut. Dass ich da vielleicht auch mal eine Kerze aufstellen darf oder mal was ablegen darf, obwohl ich gar kein Grab habe. Oder da ist gar niemand gestorben. Ich habe tiefste Trauer, weil eine Beziehung zu Bruch gegangen ist. Arbeitsstelle, Gesundheit verloren, egal. Eins von diesen Dingen. Und dann wird der Friedhof für mich menschenzugewandt. Und ich glaube, das sind dann die Friedhöfe, die in der Zukunft bedeutsam werden.

Jetzt verstehe ich besser, weshalb Günter Czasny vom Friedhof als „Begegnungsort“ spricht. Wir leben in einer Zeit, in der er es viele Krisen und viele Verluste gibt. Das betrifft jeden von uns. Da braucht es einen Ort, wo Verlust Platz hat und wo ich mich darüber austauschen kann, wenn mir danach ist; wo ich nicht allein bin - da muss nicht erst einer sterben. Und einen Friedhof gibt es ja in jedem Dorf.

Dann wird er ein Begegnungsort sein, wo man sich gerne trifft, aber nicht gleich mit der Gießkanne losmarschieren muss, sondern vielleicht mal einen kleinen Picknickkorb dabei hat. Und da ist ein kleines Fläschchen Prosecco drin und man trifft sich und hat kein schlechtes Gefühl dabei.

Wenn es nach Günter Czasny geht, soll es für Kinder einen kleinen Spielplatz geben. Da schlucke ich aber doch nochmal. Ein Friedhof war in meiner Kindheitserinnerung immer verbunden mit: anständig benehmen, nicht zwischen den Gräbern rumspringen und auf keinen Fall laut sein.

Wir müssen ihn so ein bisschen aus dieser Verbotszone herausentwickeln, wir fremdeln ja ein bisschen. Und das Fremdeln geht nur weg, wenn man wieder Vertrauen entwickelt. Und dann braucht es einfach Beispiele. Und dieses Experimentierfeld soll ja nur ein Beispiel sein.

Allerdings eines, das auf sehr großes Interesse stößt. Den Modellfriedhof in Süßen gibt es jetzt sei gut einem Jahr. Seither kann Czasny sich vor Anfragen kaum retten. Bürgermeister kommen, Leute von der Kirche, Friedhofsverwalter, Stadtplaner. Es scheint, als ob die Zeit für diese Idee tatsächlich reif ist; den Friedhof zu einem Begegnungsort zu machen.

Am Ende unseres Gesprächs fasst Günter Czasny diese Vision noch ein bisschen weiter. Sie klingt ein bisschen verrückt, aber gleichzeitig auch verheißungsvoll. Die Trauerpsychologie spricht vom Friedhof als möglichem Therapieort.

Wir haben in Deutschland 32.000 Friedhöfe und wenn wir uns die dann als Therapieorte vorstellen und die ordentlich funktionieren und dem Bürger guttun und die Bürger sagen ja, ich finde das schön mit unserem Friedhof, der tut mir gut, ich habe ihn ein bisschen liebgewonnen. Vielleicht brauchen wir dann 30 Jahre, bis es so weit ist. Aber wenn ich mich dort hindenke, ist es ein gutes Gefühl.

 

 

 

 

 

https://raum-fuer-trauer.de/campus-vivorum/

 

[1] Raum für Trauer – Erkenntnisse und Herausforderungen, Hg. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40977
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01NOV2024
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Annegret Lingenberg Foto: Gerhard Krämer

Wolf-Dieter Steinmann trifft Annegret Lingenberg, Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. Die erste Pfarrerin in Baden „im Ehrenamt“ ist auch Oblatin einer evangelischen Kommunität. Sie lebt als evangelische Frau nach der Regel des „Heiligen“ Benedikt. „Bete und arbeite“ überzeugt sie. Warum? Weil es zu ihr passt. Eine evangelische Heilige habe ich nicht getroffen. Aber sie ist überzeugt, dass wir mit dem Heiligem in Berührung kommen. Beim Beten und Arbeiten, also im Leben. Nicht erst danach. Annegret Lingenberg, inzwischen über 80, hat einen spannenden Lebensweg. Mit fast 60 ist sie noch Pfarrerin geworden, im Ehrenamt. Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. Heilig ist für sie: Gott kommt ins Spiel.

Gott kann mir überall begegnen, also wenn ich zum Beispiel hier ein Begleitgespräch habe oder ein Seelsorgegespräch, das kann zum heiligen Ort werden, wenn hier spürbar Gott dabei ist. Und das ist geschieht nicht selten. Ja, ich würde sagen, es kann jeder Ort heilig werden.

 Und Menschen, die dort sind. Wobei, in der Bibel erschrecken die meisten, wenn sie vom Heiligen berührt werden. Weil das ins Leben greift.

Es wäre nicht normal, das zu wollen. Insofern bin ich auch sehr zurückhaltend, etwa zu behaupten, ‚ich will heilig werden‘. Wenn Gott mich anrührt, dann hmm; ich nehme es an und gehe damit um, aber ich strebe nicht danach.

Gott kann berühren: Mich, Sie, viele. Wichtig ist Annegret Lingenberg, dass man bei „heilig“ nicht zuerst an Moral denkt. Sie spürt das Heilige oft in einer evangelischen Kommunität in Franken. Sie lebt dort nicht fest, sondern ist Oblatin; heißt:

Ein Mensch, der sich Gott darbringt, und zwar ganz konkret, indem er sich bindet an eine benediktinische Kommunität, um zusammen mit den Schwestern, den Brüdern dieser Kommunität, diesen Weg zu gehen. In dieser Weggemeinschaft für Gott verfügbar zu sein.

Mindestens zwei Dinge an der Regel des Benedikt haben sie überzeugt. Es geht wirklich um das Miteinander mit Christus, als getaufter Christ. Und das unglaublich realistische und menschliche Maß: Es gab ja vorher auch schon Klosterregeln, die viel fordernder und viel rigider waren. Er setzt einfach voraus, was ein Mensch normalerweise leisten kann und was nicht, und verlangt nicht irgendwelche asketischen Purzelbäume.

„Bete und arbeite.” Das Gute ist, diese Regel hält beides im Gleichgewicht. Arbeit ist nie wichtiger als das Gebet. Nur arbeiten ist nicht Sinn des Lebens. Man braucht Quellen zum Leben und Zeiten, in denen man zu ihnen kommt. Tief prägend hat sie das erlebt vor Jahren, bei einer Schweigewoche in der Kommunität.

Ne Gemeindesituation, die mich sehr beschäftigt hat. Zum anderen eine Krebserkrankung. Das hab ich dann in so ner Schweigewoche durchgearbeitet und durchlebt. Und dann wieder rausgefunden, mit einem Ja zum Weitergehen. Es gibt durchaus mystische Momente, die man da erleben kann.

Ihre “Lieblingsheilige” ist Teresa von Avila. Die ist erst heilig geworden, nachdem sie aufgehört hatte, es sein zu wollen.

Die liebe ich heiß und innig. Sie war eine sehr kluge Frau, mystisch veranlagt und sie hatte viel Humor und sie hatte eine unglaublich gute Art, mit Menschen umzugehen.

Annegret Lingenberg fände schön, wenn sie das auch so könnte. Sie probiert es.
Annegret Lingenberg strahlt unaufdringliche Freundlichkeit aus. In ihrer Diele begrüßt mich ein Ikonengemälde, Thema: Gastfreundschaft. Geprägt ist sie von der Ordensregel des heiligen Benedikt: “bete und arbeite” und eng verbunden mit einer evangelischen Kommunität in Franken. Dort kann sie Heiliges spüren.

Weil sie eine sehr schöne Liturgie feiern und weil man in den Gottesdiensten wirklich etwas spürt von der Heiligkeit Gottes, um den es geht. Und ich glaube, es kommt von selber, dass auch in den Gottesdiensten, die ich feiere, ein bisschen durchscheint von der Heiligkeit Gottes und von meiner Ehrfurcht vor dem, was ich da mache.

Die zweite Säule, “arbeiten”, das ist für sie bis heute, mit über 80: Seelsorge. Menschen begleiten auch in Tiefen. Leben geistlich verstehen. Gott darin entdecken und gute Wege finden. Sie hat oft erfahren: Arbeiten und beten brauchen einander.

Die Psalmen umfassen ja so unendlich viel. Der ganze Hass, die ganze Gewalt und alles, was uns heute im Augenblick so aufregt, kommt ja alles schon, in den Psalmen vor. Indem ich Psalmen bete, bin ich mittendrin in dieser Welt, die ich vor Gott bringe.

Ja, es ist gut, dass man das Heilige ersehnen kann, erbeten. Und arbeiten? Mir ist auf einmal Oskar Schindler eingefallen, der in seiner Fabrik über 1000 jüdische Menschen vor den Nazis gerettet hat. Schindler: Lebemann, Spion, kein klarer Charakter. Bis zu dem Tag, als er gesehen hat, was die Nazis verbrechen. Ab da haben die Schindlers alles drangesetzt, jüdische Menschen zu retten. Sind sie so was wie weltliche Heilige?

Ich würde jetzt nicht sagen, also ja, ja, natürlich auch ein Heiliger, aber ich denke, Gott hat ihn auch als Werkzeug benutzt. Und er nicht mehr an Eigenes dachte, sondern wirklich an diese Unmenschlichkeit. Und vielleicht ist es ne Gottesberührung gewesen, dass er erkannt hat.
Sind Gottes Geschöpfe, mit denen kann man so nicht umgehen. Und wenn man es tut, ist es ganz furchtbar und man muss was dagegen tun.

Ich finde Oskar Schindler inspirierend. Er war nicht der Typ „moralisch gut”. Aber er hat sich aufrütteln lassen. Vielleicht sollten wir auch heute andere nicht zu schnell „moralisch“ festlegen.

Es ist für mich eben nicht das ethische Handeln Grund der Heiligkeit, sondern in der umgekehrten Reihenfolge: Angerührtsein von Gott wird sich äußern. Dann packt man an oder man geht und hilft. Und das ergibt sich oft mehr von selber. Ich glaube, manche Menschen, die uns so vorkommen, als seien sie wirklich kleine Heilige, die würden sehr erstaunt gucken, wenn man ihnen sagen würde, also ich finde, dass du heilig bist. Wahrscheinlich würden sie sagen: ‘Öh’.

 Wenn man heilig angerührt wird, kommt es wohl darauf an, dass die Emotion nicht verweht, sondern Hand, Kopf und Fuß kriegt. Dass man nicht hasst oder resigniert. Annegret Lingenberg hat noch ein überraschendes Wort dafür.

Angerührt werden von Gott kann man sich vielleicht so vorstellen, als würde man angesteckt. Er berührt mich und steckt mich an mit seiner Heiligkeit.

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27OKT2024
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Tommy Bright copyright: Privatfoto

Caroline Haro-Gnändinger trifft: Michael Albrecht aus dem Rems-Murr-Kreis.

 Er hat sich einen Künstlernamen zugelegt: Tommy. Und als Tommy ist er Zauberer. Dabei geht’s ihm um Sinnestäuschungen, aber auch um Sinnfragen und die stellt er aus seinem christlichen Glauben heraus. Das macht mich neugierig. Denn mich faszinieren Zaubertricks - und ich bin gläubige Christin. Tommy erzählt, wie er bei einem Jugendtreff vom CVJM, dem Christlichen Verein Junger Menschen, mit dem Zaubern angefangen hat:

Da war ich noch Jugendreferent und wir hatten ein offenes Jugendcafé, in dem tatsächlich, glaube ich, ein Jugendlicher war, der nicht vorbestraft war. Es waren wirklich schwere Jungs, die da waren. Aber wenn man da so einen kleinen Münztrick oder irgendwas mit Karten gemacht hat, dann standen die alle außen rum und wollten das noch mal sehen. Also da habe ich gemerkt, Zauberkunst zieht einfach unheimlich Aufmerksamkeit.

So erlebe ich es auch, als ich ihn besuche - bei einer Show für Ehrenamtliche in einem Kirchengemeindehaus. Er verwandelt ein Messer in eine Gabel oder befreit sich von Handschellen. Zwischendrin erzählt er dem Publikum auch davon, was er mit Gott verbindet. Dass der Glaube an Gott ihm ein Gefühl von Freiheit gibt.

Eigentlich geht es mir darum, dass die Leute lachen und staunen und vor allem staunen über die Botschaft, die ich ihnen erzähle. Also die ist ja nicht von mir, sondern aus der Bibel, weil ich finde, diese Botschaft ist es wert, dass man sie erzählt und dass auch Leute drüber staunen und auch fröhlich sind dabei. Wenn die Leute lachen können und hinterher sagen, das bleibt mir im Kopf, dann finde ich es gelungen.

In seiner Show zeigt er einen kleinen Spiegel – den scheint er mit Nägeln zu durchstechen, aber am Ende ist der Spiegel ganz.

Ich habe einen Spiegel dabei, in den ich auch reinschaue, den ich den Leuten vor‘s Gesicht halte und sage: Was siehst du? Die ganzen Verletzungen, alles, was du schon erlebt hast und so. Was siehst du eigentlich, wenn du in den Spiegel guckst? Und dann die Frage: Was sieht Gott, wenn er dich anschaut?

Tommy glaubt: Gott sieht mit Liebe auf jeden. Mich berührt das deshalb, weil er mir erzählt, dass es für ihn zuerst nicht so eindeutig war. Mit Gott konnte er als Jugendlicher wenig anfangen, hatte große Versagensängste und seine Kindheit war schwierig. Über seine Schwester kommt er damals zu einer Jugendgruppe einer Kirchengemeinde:

Dann bin ich in diesem Jugendkreis gelandet. Und habe plötzlich dort Leute kennengelernt, die mich angenommen haben, wie ich bin, die mir ein Zuhause gegeben haben, das ich vorher nirgends hatte, weder in der Schule noch wirklich zu Hause. Und ich habe relativ schnell so ein Gefühl davon bekommen, dass das nicht einfach nur nette Menschen sind, sondern dass die an einen Gott glauben, der anders ist, als ich immer dachte. Nämlich ein Gott, der eine Beziehung will.

Das sehe ich auch so. Und für mich als Christin ist Gott jemand, der ein gutes Leben will – für mich und für alle Menschen. Ein Leben in Fülle, so heißt es in der Bibel. Dafür muss ich auch aktiv werden. Tommy hat da Vorbilder:

Also Mutter Teresa zum Beispiel finde ich unheimlich spannend, wie jemand so sich aufopfern kann für arme Menschen. Das inspiriert mich. Da denke ich: Mensch, würde ich nie schaffen. Da bin ich wahrscheinlich viel zu egoistisch dafür.

Klar, wer würde das schon schaffen, sich so für kranke und sterbende Menschen einzusetzen. Aber wie er finde ich: Vorbilder können mir helfen, Menschlichkeit in meinen Alltag zu bringen.

Ich treffe Michael Albrecht mit dem Künstlernamen Tommy bei einer seiner Zaubershows in einer evangelischen Kirchengemeinde. Immer wieder staunen die Zuschauer: Das Seil war doch eben noch durchgeschnitten, warum ist es jetzt ganz? Wie konnte aus der Seifenblase eine glänzende Glaskugel werden? Und ich frage mich – kann Tommy eigentlich noch staunen?

Mein Blick auf die Welt hat sich auch dadurch, dass ich an Gott glaube, sehr verändert. Dass ich irgendwann gemerkt habe: Warum muss ich denn groß nach Wundern suchen? Es reicht doch, wenn ich mir diese Welt angucke. Diese ganzen Mechanismen auch in Physik und Biologie und so, wie das alles funktioniert. Sogar an den schlimmsten Orten in der Wüste und in der Antarktis und so gibt es irgendwo Leben. Also überall trifft man auf Leben.

Da wo Leben möglich ist, sich wieder Türen auftun, da ist Gott auch, so stelle ich‘s mir auch vor. Und ansonsten: Wo erlebt Tommy Gott noch? Im Auto, wenn er Musik hört, bei der es auch um Glauben geht:

Das ist so eine total abwechslungsreiche und groovige Musik und trotzdem unheimlich tiefgehende Texte. So was baut mich unheimlich auf.

Tommy erzählt mir davon, dass er Gott immer wieder auch in schwierigen Situationen erlebt hat, zum Beispiel im Krankenhaus.

Also es war zum Beispiel so, dass meine Eltern relativ kurz hintereinander gestorben sind, beide an Krebs. Als mein Vater im Krankenhaus war, in diesem Sterbebett dann lag, haben meine Frau und ich die Gitarre mitgebracht, wir haben gesagt, wir wollen einfach noch ein paar Lieder für ihn singen. In dem Moment, als wir da gesungen haben, habe ich plötzlich so sehr Gottes Gegenwart in diesem Krankenzimmer gespürt.

Ein intensives Erlebnis. Ich frage mich: Kennt er eigentlich auch Zweifel?

Bevor mein Vater gestorben ist, war ich tatsächlich ein bisschen im Zweifel. Liebt Gott mich noch, weil ich habe oft gebetet dafür, dass mein Vater wieder gesund wird und es hat halt nicht geklappt. Und ich habe mich gefragt: Ist er noch da? Also hört er mich noch? Interessiert es ihn, was ich bete?

Ich finde, wer zweifelt, nimmt seinen Glauben auch ernst. Und ihm ist es ernst, trotz Zweifel glaubt er: Gott ist da und interessiert sich. Und das erlebt Tommy auch durch andere Menschen. Deshalb betet er bis heute sehr oft.

Ich weiß noch: Meine Mutter hat mal gesagt, sie will nicht so viel bitten, weil Gott was Besseres zu tun hat. Und das glaube ich nicht. Ich glaube, Gott ist so groß, dass er sich wirklich um all unsere Kleinigkeiten kümmert. Er wird die natürlich nicht alle erfüllen, aber ich glaube, wenn es um eine Beziehung geht, dann geht es auch darum, alles miteinander zu teilen. Und das ist das, was ich dann auch mache.

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20OKT2024
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Janine Knoop-Bauer trifft Olaf Jacobsen-Vollmer, Leiter der Beratungsstellen
Diplom-Psychologe, Systemischer Paar- und Familientherapeut (DGSF)

Halt geben, ohne den Halt zu verlieren

Mentale Gesundheit ist ein großes Thema. Die Frage: wie gehe ich mit Krisen um? Und wer oder was hilft mir, wenn ich nicht weiterweiß? Einer der in solchen Situationen helfen kann ist Olaf Jacobsen-Vollmer. Er ist Psychologe und leitet eine kirchliche Beratungsstelle. Überforderte Eltern, Menschen in schwierigen Trennungssituationen, aber auch Jugendliche mit psychischen Problemen finden dort eine offene Tür.  

Wir bieten den Menschen, die zu uns kommen, einen geschützten Ort, an dem sie ihre persönlichen Probleme und Krisen besprechen können und in denen wir gemeinsame Lösungen erarbeiten können. Und dazu nutzen wir eine ganz breite Palette beraterischer und therapeutischer Methoden, um den Ratsuchenden in Bezug auf die eigene Selbstwirksamkeit zu helfen, so dass sie ihre Themen, ihre Krisen selbst bewältigen können.

Wer sich machtlos den eigenen Problemen ausgeliefert fühlt, verliert schnell das Wissen um die eigenen Stärken. Gemeinsam mit den Menschen, die zu ihm kommen, begibt sich Olaf Jacobsen-Vollmer deshalb auf die Suche. Manchmal mit einer einzelnen Person, manchmal sogar zusammen mit einer ganzen Familie, wenn der Zusammenhalt bröckelt. Er sagt: manchmal stehen die Menschen wie hypnotisiert vor ihren Problemen. Dann braucht es einen der den Bann löst und hilft das Denken in neue Bahnen zu lenken:

... dazu kann man manchmal eine Sichtweise verändern. Manchmal braucht es noch mal Netzwerke, die man aktiviert, oder neue Methoden. Kompetenzen, die man erlangt, um die Krisen, die Herausforderungen, die da vor einem stehen, zu bewältigen. Und vor allem, dass man das Gefühl hat ich bin fähig, das zu tun.

Doch bis sich dieses Gefühl einstellt, dauert es manchmal eine Weile. Besonders wenn ganze Familien zur Beratung kommen. Da kann es vorkommen, dass eine lange Geschichte von Verletzungen hinter einem Problem liegt. Da ist es wichtig zunächst eine Vertrauensgrundlage zu schaffen.

Wir versuchen allparteilich zu sein und die Menschen so wie sie sind, anzunehmen, dass wir sie nicht moralisch verurteilen oder sie in irgendeiner Art und Weise bewerten, sondern sie erst mal so annehmen, wie sie da sind und sie in ihrer Notlage zu sehen und zu erkennen und das auch zu würdigen. Das ist ein ganz wichtiger Teil unserer Haltung, weil sich damit Menschen in der Regel angenommen fühlen und in der Regel das Gefühl haben, sich hier auch ausreichend öffnen zu können, um in Prozesse einzusteigen.

Olaf Jacobsen-Vollmer leitet eine psychologische Beratungsstelle der evangelischen Kirche. Ich habe ihn gefragt, was das Besondere an der Arbeit dort ist:

Wir versuchen, dass hilfesuchende Menschen in der Begegnung, im konkreten Miteinander spüren, dass wir sie aus einer christlichen Grundhaltung heraus als Menschen mit all ihren Möglichkeiten Grenzen, Besonderheiten und Herausforderungen annehmen. Dass wir da nicht werten oder moralisch werden. (…) Wir nehmen uns vor, dass es gelingt, dass wir in dieser Begegnung zwischen den Menschen ein Stück weit die Liebe und die Zuwendung Gottes zwischen den Menschen spürbar machen. Dass wir in der Hinwendung zu den Ratsuchenden ein Stück weit auch Kirche erfahrbar und lebbar machen.

Wenn ich das höre dann denke ich: die Kirche ist bei dieser Arbeit sehr nah an ihren Wurzeln. Auch Jesus hat sich denen zugewandt, die um Hilfe gebeten haben. Er hatte ein offenes Ohr und hat dem Leben vieler Hilfesuchender eine heilsame Wendung gegeben. Olaf Jacobsen-Vollmer bringt es auf den Punkt:

In den seelsorgerischen Bereichen, in denen Kirche Menschen in Not und Krisensituationen beisteht. Das sind Bereiche, in denen Kirche Menschen Halt gibt.

Olaf Jacobsen-Vollmer ist selbst Familienvater. Er weiß: es gibt Situationen bei seiner Arbeit, die kommen ihm sehr nah. Damit er da als Seelsorger Halt geben kann besinnt er sich immer wieder auf Gesprächs-Regeln:

Ich bin ich und du bist du. Und du hast in deinen Bezügen vielleicht auch gerade ganz andere Herausforderungen. Und es ist gut und wichtig, das zu verstehen und darüber zu schauen und sich da rein zu fühlen. Aber sich eben nicht reinziehen zu lassen und dann quasi auf dem Stuhl des anderen zu sitzen, das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Das würde mich auch selbst hilflos machen. Wenn ich nämlich dann in diesem Problem sitze und es vielleicht auch noch für die andere Person lösen möchte. Das wird nicht funktionieren. Ich brauche selbst eine stabile und feste Basis, um der anderen Person ein Halt sein zu können.

Eine wertschätzende Distanz ist wichtig, so verstehe ich das. Und ich glaube, wenn Menschen so miteinander umgehen, dann gibt es seltener Grenzüberschreitungen. Dann können sich Hilfesuchende sicher fühlen. Und die Helfenden sind auch geschützt. Zusätzlich gibt es für Olaf Jacobsen-Vollmer aber auch noch einen ganz persönlichen Anker, der ihm hilft, denen zu helfen, die sich an die Evangelisch-Psychologische Beratungsstelle wenden.

Also, ich bin ein sehr kritischer Gläubiger und Angenommensein ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt meines persönlichen Glaubens, dass ich als Mensch angenommen bin, wie ich bin. Und das gibt mir einen ganz tiefen Trost. Und das gibt mir auch Halt und Kraft für meine Arbeit, dass ich das, was ich selbst für mich glaube, dass ich das in meiner Arbeit einbringen kann.

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13OKT2024
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Khalil Khalil copyright: Privatfoto

„Also Vorname ist wie Nachname. Deswegen wahrscheinlich wohne ich auch in Baden Baden.“

Khalil Khalil ist 35 Jahre alt. Ich habe ihn während seiner Ausbildung zum Mediengestalter kennengelernt. Seitdem begegnen wir uns immer wieder bei der Arbeit. Und jedes Mal, wenn ich ihn treffe, muss ich schmunzeln, wie redegewandt er sich ausdrücken kann und mit welchem Humor.

Seine Muttersprachen sind nämlich Kurdisch und Arabisch. Als er nach Deutschland gekommen ist, hat er in 6 Monaten Deutsch gelernt und weil es ihm liegt, hat er auch „Schwäbisch schwätza“ und „Badisch babble“ angefangen.

„A Muggaseggle – sagt man also. I hab koi Zeit [Schwäbisch gesprochen]. Mir warn am Wochenende einkaufen. Dann sind wir spazieren gegangen [Badisch gesprochen]. Mir gebet nix – sind drei Wörter, aber sagen so viel aus. [Schwäbisch gesprochen].“

Khalil hat sich von Anfang an in Deutschland in unsere Sprache reingefuchst. Er dreht sogar Videos fürs Internet mit dem Titel „Schwäbisch oder Badisch für Anfänger“. Aber Sprache ist für ihn nicht alles, was es zum Ankommen braucht. Es gibt noch weitere Dinge, die ihm wichtig sind: die Menschen und die Kultur kennenlernen und

„dass man höflich und offen aufgeschlossen sein für Neues quasi, dass wenn du etwas Neues hast, nicht so dagegen, sondern einfach offen und aufgeschlossen sein.“

Ich merke, Khalil ist wichtig, dass sich Menschen gegenseitig verstehen. Er hält Vorträge zu Sprache und Dialekten, aber auch zu Kulturschocks, Integration und Demokratie.

Und er hilft auch als Dolmetscher in Flüchtlingsunterkünften aus, versucht zu vermitteln, wo seine Sprachkenntnisse hilfreich sind. 2019 wird er für sein Engagement sogar mit der Heimatmedaille des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Er weiß, wie schwer man es hat, wenn man neuanfängt.

„Und dann kommt einer aus irgendeiner Ecke, der begeht eine Straftat. Und dann werden all diese Menschen über einen Kamm geschert. Das ärgert mich und demotiviert auch bisweilen, gell? Also wenn du merkst, okay, egal was du machst, du bleibst immer der Typ, der einfach so in diese Schublade gesteckt wird. Du versuchst wirklich anzukommen, arbeiten. Die andere sollen dich auch nicht in diese Schublade stecken.“

Khalil und ich sind uns einig: Menschen dürfen anderen Menschen keine Gewalt antun. Das ist inakzeptabel und das gilt auch für Geflüchtete. Vorfälle wie die Messerattacken in Solingen und Mannheim sind schlimme Verbrechen.

Gleichzeitig gilt: Ich darf deswegen nicht alle geflüchtete Menschen vorverurteilen. Menschen wie Khalil sind selbst vor Gewalt geflohen. Genau wie ich, wünschen sie sich ein sicheres Leben. Wer vor Krieg und Gewalt flieht hat ein Recht auf Asyl.

2015 ist Khalil vor dem Krieg geflohen und nach Deutschland gekommen:

„Wir standen vor dem Mittelmeer. Wir waren 45 Leute vor einem Schlauchboot, die nur für 30 Leute geeignet waren – Wenn ich sage wir, meine ich ein paar Freunde von mir und ich, wir waren zusammen auf der Uni – Und dann standen wir in diesem Schlauchboot. Entweder klappt das oder nicht und dann sind wir hingesessen. Weil wir ein Leben in Sicherheit wollten. Weil wir wollten einfach eine Zukunft finden, eine Gesellschaft finden, in der wir auch Teil davon sind und auch die mitprägen oder mitgestalten.“

Und das setzt Khalil auch um. Er ist Mitglied in einem kommunalen Gremium der Stadt Baden-Baden, dass Menschen mit internationalem Hintergrund vertritt. Dieses Gremium setzt sich zum Beispiel dafür ein, dass in Baden-Baden weder Kinder im Kindergarten oder der Schule, noch Erwachsene auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden, nur weil sie von woanders herstammen.

„Wenn du manchmal die Dankbarkeit oder die Freude oder Das Glück im Gesicht von den anderen verspürst, in dem du auch manchmal auch banale Sachen tust. Dann motiviert das einen, dich zu engagieren. Es gibt kein schöneres Gefühl einfach als zu erfahren, wie du einfach dazu beigetragen ha[s]t, [dass] dieser Mensch ein Stückchen glücklicher oder zufriedener oder verständnisvoller geworden ist dadurch.“

Als Christin kann ich da gut mitgehen – solidarisch und hilfsbereit sein. Wir diskutieren über Religionen und die Werte, die sie vertreten. Für mich sollte Religion die Menschen verbinden und nicht voneinander trennen. Findet auch Khalil:

„Es würde so viel Liebe, Toleranz, Verständnis, Respekt auf dieser Welt herrschen. Wenn wir uns auf das konzentrieren, was uns verbindet. Denn das ist viel mehr wert.“

Genau und ich muss es eben auch leben. Und das fängt ja in unserer Gesellschaft schon von klein auf an, wie wir mit Kindern umgehen.

„Wir sind in der Verantwortung, Kindern nicht nur diese Werte beizutragen, sondern versuchen so viel wie möglich diese Werte auch rüberzubringen [beizubringen]. Also wenn du vor ein Kind zum Beispiel ein Buch liest, das Kind wird ein Buch lesen, aber wenn du ein Kind von hinten vor einem Kind mit deinem Handy spielst, das Kind wird auch so machen. Das Kind musste auch mit dem Gefühl erziehen, dass sie [es] irgendwann, wenn sie [es]  groß ist, auf dich stolz sein sollte. Und wenn du das schaffst, dann hast du wirklich, ich glaube alles Mögliche getan.“

Ich finde das ne wirkliche Aufgabe und wahrscheinlich gelingt das wohl niemandem perfekt. Aber es ist es auf jeden Fall wert zu versuchen. Eine Lebensaufgabe. Immer wieder neu.

 

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06OKT2024
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Anahita Azizi

Peter Annweiler trifft Anahita Azizi, Aktivistin von Frauen.Leben.Freiheit

Teil 1: Mutiges Engagement

Sie ist klug, sanft und engagiert - für Menschenrechte im Iran. Tief bewegt bin ich, als Anahita Azizi bei einer Ausstellung von Frauen- und Kinderzeichnungen in Mannheim spricht. Jetzt habe ich mich mit ihr verabredet und will mehr von der Aktivistin erfahren, die sich bei Frauen.Leben.Freiheit. engagiert. Schnell erzählt sie mir ihre Migrationsgeschichte.  

Ich bin mit viereinhalb Jahren nach Deutschland gekommen, und damals sind wir geflohen, und das politische Asyl wurde hier gewährt. Und irgendwann war es dann möglich, mal zurückzugehen als Erwachsene. Das war spannend zu sehen, wie offen die Menschen sind, dass sie immer ein Spruch auf den Lippen, ein Lächeln auf den Lippen haben, neugierig sind, herzlich und gastfreundlich.

So wertvoll: Mit den eigenen Wurzeln in Kontakt zu bleiben. Gerade, weil Anahita Azizi es geschafft hat, in Deutschland zu Hause zu sein und beruflich erfolgreich in der IT-Branche zu arbeiten. Doch der Blick ins Land der Mullahs ist seit 45 Jahren beschwert.

Jetzt ist es aber so, dass diese Liebe zum Heimatland der Eltern, auch der eigenen Wurzeln, auch mit Schmerzen verbunden ist. Wenn man die Liebe dahin empfinden möchte und diese Sehnsucht, dann öffnet man den Kanal nicht einspurig, sondern mit ihr kommen furchtbare Bilder vom Leid anderer Menschen, vom Tod anderer Menschen, von den Mark erschütternden Schreien von Menschen. Diesen Kanal zu öffnen, das war eine bewusste Entscheidung, und das hält dich nachts wach. Und das muss man sich gut überlegen, ob man sich dem hingeben möchte.

Anahita Azizi nimmt schlaflose Nächte in Kauf und geht hohe persönliche Risiken ein. Wie mutig. Wie entschlossen. Alles, weil die Mittdreissigerin  an Leib und Seele erleiden musste, was Machtmissbrauch zerstören kann. Und deshalb will sie nicht, dass andere ähnliches erleiden.

Wenn wir uns den Iran angucken, dieses fundamentalistische Regime, dann habe ich in meiner eigenen Familie erlebt und auch in meinem Herzen, dass man das Gefühl hat, dass einem nicht nur die Heimat genommen worden ist, sondern Gott selbst - und das ist eine große Ungerechtigkeit.

Sogar Gott wird einem genommen. Religiöser Fundamentalismus zerschlägt und zerstört so Vieles. Klar, dass die Exil-Iranerin da der Religion gegenüber erst mal reserviert geblieben ist. Und doch hat sie, die keine Christin ist, sich eine Hoffnung bewahrt.

Es ist ein Glaube, dass es besser werden kann und dass, wenn wir daran basteln und daran arbeiten, uns auch wieder zur Erinnerung rufen: Wie wollen wir eigentlich mit den Schwächsten umgehen auf der Welt?

Sich einzusetzen für die Schwachen - das kann die Welt verändern. Und das ist ja auch eine Wurzel des Christentums. Deshalb spornt mich Anahita Azizis Haltung „von außen“ auch als Christ an.

Teil 2: Besonderes Bündnis

Sie hat zum Beispiel in der Mannheimer CityKirche Konkordien eine Ausstellung begleitet. Gezeigt wurden Bilder von Frauen und Mädchen aus dem Iran.

Ein Bild, das mich besonders mitgenommen hat, ist ein großes Bild einesMädchens mit wallenden langen Haaren. In diesen Haaren war eine ganze Welt. Da waren Tiere drin, das war Spielzeug abgezeichnet. Es war, es waren Figürchen. Es war so viel in diesem Haar, und ich schätze: Das muss das erste Jahr gewesen sein, dass sie dann ein Kopftuch hat tragen müssen

Sie, die über sich sagt: „Die Mullahs haben mir auch Gott genommen“, hat keine positive Erfahrung mit Religion gemacht. Denn die steht in Anahita Azizis Leben für Kopftuchzwang, Frauenfeindlichkeit und Diktatur. Deshalb war eine Ausstellung in einer Kirche für sie ungewohnt. Aber sie hat schnell gespürt: In der kirchlichen Menschenrechtsarbeit findet sie Verbündete – und erkennt, wie Religion Menschen auch positiv prägt.

Ich selber, ich habe das Gefühl nicht, Ehrfurcht zu erleben, wenn ich vor einer prunkvollen Kirche stehe oder Kathedrale. Was mich überkommt, ist das Fremdsein, die Etikette, nicht gern aufzufallen, dass man sagt: „Was macht die hier?“ - Und das Gefühl hatte ich keine Sekunde. Und ich bin seither in vielen Kirchen gewesen, auch in der katholischen Kirche und durfte dort sprechen. Also es erweitert sich jetzt, und das war ein starkes Gefühl, das mich innerlich gestärkt hat: Zu wissen, was möglich ist – Wahnsinn

Eine aufgeklärte, selbstkritische Religion – die kannte Anahita Azizi bisher nicht.

Für mich war die Erfahrung sehr neu, dass die größte Kritik an der evangelischen Kirche aus der evangelischen Kirche selbst ist, das war für mich so überwältigend zu sehen: dieses kritische Denken, dieses sich selbst Hinterfragen.

Und dann überrascht sie mich, wenn sie mir sagt, wie weit sie für kirchliches Engagement in Menschenrechtsfragen in ihren Kreisen gehen würde:

Soweit mich meine Füße tragen! - Ich habe tatsächlich das schon machen müssen. Das Projekt mit der Kirche, die Kunstausstellung zu verteidigen und zu sagen wir haben uns das wohlüberlegt. Und da kann ich schon überzeugend  für die Kirche sprechen.

Für mich ein innerer Ansporn: Wenn Menschenrechtsaktivisten überzeugt von Kirche sprechen. Eben, weil sie in der Begegnung mit Christen spüren: Es geht im Christentum nicht um Kirchenmitglieder. Es geht um Gerechtigkeit und Würde für alle.

Schön, dass die Zusammenarbeit rund um die Ausstellung zu Frauen.Leben.Freiheit im November weiter geht. Wieder in einer Kirche. Und dass die mutige und kluge Anahita Azizi auch in der Speyrer Gedächtniskirche wieder engagiert dabei ist.

Mehr Infos zur Ausstellung Frauen.Leben.Freiheit. in Speyer:

https://www.speyer.de/de/familie-und-soziales/frauen/ausstellung-frau-leben-freiheit/

 

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29SEP2024
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David-Steindl Rast copyright: Christopher Hoffmann

Christopher Hoffmann trifft: David Steindl-Rast, Benediktinermönch und Buchautor

…und mit David Steindl-Rast, den ich in seinem Kloster im österreichischen Salzkammergut besuche. Der Benediktinermönch ist inzwischen 98 Jahre alt. Mit seinem verschmitzten Lächeln und seiner herzlichen Umarmung wirkt er so gar nicht wie jemand, der schon fast 100 ist. Bruder David ist er ein weltweit gefragter Buchautor und Redner, seine Videos von Vorträgen werden im Netz millionenfach geklickt.* Meine Reise zum Wolfgangsee ist also auch eine Reise auf der Suche nach Weisheit.  Zu einem Mann, der 1926 in Wien geboren wurde und dort später Kunst, Psychologie und Anthropologie studiert hat.  Was ist für ihn die größte Veränderung des letzten Jahrhunderts?  

 

Im Laufe meines Lebens ist in unserer Gesellschaft die Ehrfurcht verloren gegangen. Ehrfurcht vor der Menschenwürde und auch vor der Würde der Natur und des Lebens.

Ehrfurcht auch vor dem Leben von Menschen mit Behinderung, das ist Bruder David wichtig. Denn er hat als Kind in der Volksschule im besetzten Österreich erlebt, wie die Nazis mit ihrem Euthanasieprogramm Menschen mit Behinderung zunächst weggesperrt und später systematisch ermordet haben:

Und in der ersten Klasse in der hintersten Bank ist ein geistig schwerstbehinderter Bub gesessen, der schon 16 Jahre alt war, immer gezeichnet hat, nicht reden konnte, aber jeden Tag in die Schule gekommen ist - und alle haben ihn lieb behandelt. Und 1938 , sehr bald nachdem der Hitler gekommen ist, war er einfach verschwunden.

Für Bruder David ist hingegen jedes Leben ein Geschenk. Und jedes Leben ist staunenswert - im Staunen liegt für ihn eine Kraft.

Das Staunen ist der Beginn von allem und das Vertrauen aufs Leben. Wie sehr das Leben uns lebt: Die Verdauung, die Atmung, der Kreislauf, das ist uns alles geschenkt.  Und wenn das Leben uns geschenkt wird, dann ist die richtige Haltung im Leben die Dankbarkeit dafür.

Dankbar sein für die kleinen Dinge des Alltags - das ist für David Steindl-Rast auch eine Lehre aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er schildert mir, wie er als Jugendlicher einen Bombenangriff in Niederösterreich überlebte und was das mit ihm gemacht hat:

Ich war einfach auf der Straße und plötzlich sind die Bomben gefallen und da bin ich in eine Kirche geflüchtet und da ist es schon links und rechts heruntergekommen und ich hab schon das Gefühl gehabt: Das war meine letzte Stunde. Und wie es dann vorbei war und wie ich herauskommen konnte war plötzlich jedes kleinste Detail so lebendig und klar: das Gras, das Unkraut am Straßenrand und jede kleinste Blüte und die Wolken und der Himmel: es war mir neu geschenkt. Und da müssen wir nicht warten bis die Bomben fallen. Es ist mir heute geschenkt. Morgen wissen wir nicht. Jeder Tag ist ein neues, überraschendes Geschenk.  

Ich treffe David Steindl-Rast am Wolfgangsee, wo der 98-Jährige inzwischen lebt. Als junger Mann ist er in die USA emigriert und dort mit 27 Jahren in einen Benediktinerorden eingetreten. Bruder David glaubt aber: 

Jeder Mensch ist ganz persönlich an einen Ort gestellt vom Leben. Dort bin ich mit einer einzigartigen Aufgabe betraut. Kein Mensch ist nutzlos! […]  es handelt sich nur darum herauszufinden, wo wir dem Leben nutzen können, um Freude in der Welt zu verbreiten.

Mir fällt auf: In unserem Interview spricht er oft vom Leben, meint damit aber den Ursprung allen Lebens, Gott. Aber er ist sehr vorsichtig mit dem Wort Gott …

…weil viele Missverständnisse an das Wort Gott gebunden sind und manche Menschen so schlechte Erfahrungen haben, wie Gott ihnen vorgestellt wurde.

David Steindl-Rast spricht deshalb lieber vom „großen Geheimnis“ …

 …das alle Menschen kennen, das Geheimnis des Lebens. Aber Geheimnis hat schon in dem Wort drinnen, dass wir dort daheim sind.

Gott als Geheimnis und als Heimat - da wo ich zu Hause sein darf. Ich mag dieses Gottesbild. Für Bruder David und auch für mich ist Gott aber noch mehr. Gott ist ein Du, der Glaube eine Beziehung…

Die große Frohbotschaft Jesu ist, dass diese Beziehung eine liebende und innige ist, wie zu einem Vater oder einer Mutter. Und das ist für Christen ein großer Schatz und etwas, was wir zum allgemeinen menschlichen Verständnis Gottes beitragen können. Die großen Religionen können einander ja helfen und einander ergänzen.

Sagt ein Mann, der sein ganzes Leben dem Dialog der Weltreligionen gewidmet hat. Der als Katholik bei buddhistischen Mönchen auch Zen studiert hat und diese Meditationsform praktiziert. Der sich wissenschaftlich mit den Weltreligionen beschäftigt und dafür renommierte Preise als interreligiöser Brückenbauer erhalten hat. Und der glaubt: Jeder Mensch ist - in einem ganz weiten Sinne - von Natur aus religiös. Weil alle Menschen…

 … einen religiösen Kern haben, das heisst ganz tief drinnen haben alle Menschen das Bedürfnis sich mit dem großen Geheimnis des Lebens auseinanderzusetzen und das kann man Gottbegegnung nennen.

 

*mehr von David Steindl- Rast hier: https://www.bibliothek-david-steindl-rast.ch

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22SEP2024
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Anja Hoffmann

Ich bin mit Anja Hoffmann vom „Arbeitskreis Leben“ in Karlsruhe verabredet. Seit 2019 engagiert sich die 50jährige hier ehrenamtlich als Krisenbegleiterin für Menschen in suizidalen Lebenskrisen und auch als Trauerbegleiterin nach Suizid.
Das eigene Leben zu beenden und Suizid zu begehen – das ist immer noch ein Tabu-Thema, über das man mit seinem alltäglichen Umfeld normalerweise nicht spricht. 

Was wir oft erleben, ist, dass zum Beispiel jemand in Sorge ist aus dem Freundeskreis oder aus dem Familienkreis. Und dann anfängt zu recherchieren, wo gibt es Hilfe? Und die Menschen, die sich dann an uns wenden, die kommen meistens per Telefon bei uns an, manchmal per E- Mail. Wir haben aber auch Sprechzeiten, wo man vorbeikommen kann, passiert aber eher selten.

Über Zeitungsanzeigen, das Internet oder auch Facebook und Instagram macht der „Arbeitskreis Leben“ das Angebot, Betroffene auf ihrem Weg durch eine schwere Lebenskrise zu begleiten. Und es ist erschreckend, wie nötig dieses Angebot ist. Bis zu 10.000 Menschen nehmen sich in der Bundesrepublik jedes Jahr das Leben. Anja Hoffmann weiß: die gesamtgesellschaftliche Krisenstimmung, beeinträchtigt die Stimmung Einzelner enorm.

Mich stört da ganz persönlich auch oft die Art und Weise, wie kommuniziert wird, ob das jetzt von Medien ist oder also dieses gesamtgesellschaftliche, dass da oft so `ne Weltuntergangs Rhetorik permanent feuert auf die Menschen und das macht was mit den Menschen und das ist nicht gut. Wo soll die Hoffnung dann herkommen?

Trotzdem ist es natürlich ganz normal, sagt Anja Hoffmann, dass einem die Nachrichten aus aller Welt auch mal Angst machen können. Und nicht jeder, der schon mal an Suizid gedacht hat, ist deshalb wirklich gefährdet. In Lebenskrisen – zum Beispiel bei einer Trennung oder beim Verlust eines geliebten Menschen – ist das nicht ungewöhnlich. Gefährlich wird es, wenn sich solche Gedanken verfestigen. Der Arbeitskreis Leben möchte Menschen ermutigen, die Scham zu überwinden und Hilfe zu suchen. Denn: Darüber zu reden hilft!

In dem Moment, wo wir wirklich ganz ruhig und ganz direkt ganz klar fragen: „Haben Sie Suizidgedanken oder hast du Suizidgedanken?“ - je nach dem - dass dann erstmal die Erleichterung da ist: Ich kann das überhaupt mal aussprechen. Ich muss das nicht die ganze Zeit mit mir rumtragen, sondern da ist jemand, der das hört und der auch nicht gleich in Aktionismus verfällt.

Wenn ich mir Sorgen um einen Menschen aus meinem Umfeld mache, dann muss ich keine Angst davor haben, das offen anzusprechen.

Diese Mythen, die da existieren: Du bringst erst jemanden auf den Gedanken, wenn du fragst. Nein – jemand, der das nicht in sich hat... Man kann niemand auf diesen Gedanken bringen. Und da auch Ängste abzubauen, das finde ich so unheimlich wichtig, weil sonst können wir nicht füreinander da sein. Wenn man immer Angst hat, irgendwas Schweres zu hören, dann wird es schwierig mit Zuhören und Gemeinschaft


Ein wichtiger Punkt ist auch das Thema Resilienz, das auch etwas, was wir festgestellt haben, dass gerade junge Menschen oft wenig Krisen erprobt sind und wenig Krisenerfahrung auch haben und dadurch auch wenig Widerstandsfähigkeit zeigen.

Ihre eigene Kindheit und Jugend in Thüringen hat Anja Hoffmann noch anders erlebt. Sie musste mit vielen allein klarkommen, wohl oder übel. Aber rückblickend weiß sie: es hat sie stärker gemacht.
Von der Haltung „Früher war alles besser“ ist Anja Hoffmann aber weit entfernt. Es geht ihr nicht darum, dass es besser war – es war anders. Das Leben verändert sich

Familienstrukturen sind, nicht mehr so wie früher, die sind sehr viel loser geworden, sehr viel unverbindlicher oft geworden. Das Thema Glauben geht auch immer mehr zurück. Das ist ja auch ein Anker. Das erleben wir auch oft bei uns im Verein, in der Arbeit. Dass, das für Menschen wirklich ein Halt im Leben ist, wenn sie in Krisenzeiten sind oder wenn sie in der Depression stecken. , dass das eben doch noch hilft. Und an ganz vielen Stellen bröseln so Anker weg im Leben.

Das Zusammenleben verändert sich. Aber Halt im Leben lässt sich auf neue Art auch wieder finden. Das erlebt Anja Hoffmann, wenn Menschen sich auch in schweren Situationen neu ausrichten und zurück ins Leben finden.#

Ich hatte eine junge Frau, die ich begleitet habe, die hat ihren Vater verloren - durch Suizid. Und (...) die Leichtigkeit war weg im Leben. (…) Aber diesen Weg zu beobachten, wie sie wieder zurück ins Leben gefunden hat, und wie sie sich weiterentwickelt hat, das gibt mir so viel Hoffnung, ja, dass es ein Weitergehen gibt und dass dieses Weitergehen sicher anders ist, wie man sich das vorgenommen hat oder wie sie sich das vorgenommen hat.

Auch heute ist es möglich ein Umfeld zu finden, dass das Leben stützt und den einzelnen Halt gibt. Anja Hoffmann hilft gerne, es zu finden. Und sie ist überzeugt: In uns allen steckt die Kraft, Lebenskrisen zu überwinden.

Ich glaube ganz fest an dieses Thema Resilienz, aus Krisen gestärkt hervorzugehen, dass das möglich ist. Und ich erlebe das auch immer wieder, weil ich selber sehr viele Hinterbliebene nach Suizid (...) begleite (...) und wirklich zu sagen: Wow, was sind Menschen in der Lage, mit solchen Krisen, mit solchen schweren Situationen doch wieder Hoffnung zu schöpfen und doch wieder ins Leben zurückzufinden? Das ist ein ganz toller Aspekt dieser Arbeit, von dem ich selber auch unglaublich viel mitnehme für mich persönlich. Ja

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