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SWR2 Wort zum Tag
„Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd’s Nachbars an!“ Der Namensgeber dieses sogenannten St. Florians-Prinzips hätte sich gegen diese Art der Problemlösung wahrscheinlich heftig gewehrt. Denn er hat selber Verantwortung für sich und das Leben anderer übernommen.
Florian von Lorch wurde am 4. Mai des Jahres 304 als Märtyrer hingerichtet. Heute ist also sein Todestag. Er hat seinem christlichen Glauben nicht abschwören wollen. Und ist deshalb nach schweren Folterungen in der Enns in Oberösterreich ertränkt worden. Diese eher grässliche Verbindung zum Element Wasser ist wohl die Ursache dafür, dass man ihn in der Tradition zum Schutzpatron der Feuerwehrleute gemacht hat – eine zynische Verbindung, aber leider schon über Jahrhunderte so wirksam.
Florian hat es über die mehr als siebzehnhundert Jahre hindurch durchaus zu einiger Prominenz gebracht. Das mag zum einen daran liegen, dass in früheren Jahrhunderten das Feuer für die Menschen eine der ganz großen Gefährdungen gewesen ist. Deshalb hat Florian wohl zu den am häufigsten angerufenen Schutzheiligen gehört. Warum sich die schlichte Bitte um seine Hilfe im Lauf der Zeit in den Wunsch verwandelt hat, dass doch bitte des Nachbars Haus abbrennen möge statt das eigene, ist nicht bekannt. Was für ein egoistischer Missbrauch der Geschichte eines Menschen, der gerade für andere seinen Kopf hingehalten hat. Denn einer der Gründe, die Florian sein Leben gekostet haben, war sein Einsatz zur Rettung von 40 Männern und Frauen, die wegen ihrer christlichen Überzeugung eingesperrt worden waren. Nach dem Handlungs-Prinzip, das heute seinen Namen trägt, hätte er froh sein müssen, dass es nicht ihn getroffen hat. Und hätte damit sogar sein Leben retten können.
Florian hat aber eher nach dem Jesus-Prinzip gehandelt. Der hat gesagt: „Was ihr einem eurer Schwestern und Brüder an Gutem habt angedeihen lassen, das habt ihr mir zugute getan!“ (Matthäus 25,40) Menschen, die nach diesem Prinzip handeln, Menschen, wie Florian, haben wir derzeit richtig nötig. Und es gibt sie auch bis heute – Gott sei Dank. Menschen, die sich für andere einsetzen. Menschen, die den Mut haben, zwischen alle Fronten zu geraten. Auch im wörtlichen Sinn. Menschen, die ihre Türen offen halten für andere. Für Geflüchtete. Für Nachbarn, die jemanden brauchen, der ihnen einfach einmal zuhört. Dies möchte ich von Florian lernen. Und daher erinnere ich mich heute gerne an ihn.
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„Wonach ist dir?“, steht in großen Buchstaben auf der Scheibe einer Bäckerei. Jeden Tag springt mich diese Frage an, wenn ich auf dem Weg in die Stadt an ihr vorbeigehe. Natürlich soll sie den Blick auf die süßen Köstlichkeiten im Schaufenster lenken. Aber ich ertappe mich jedes Mal dabei, dass ich die Frage ganz grundsätzlich verstehe. Und es sind jedes Mal neue Antworten, die mir durch den Kopf gehen.
Unlängst fiel mir ein Satz aus der Bibel ein. Einer meiner Lieblingssätze. „Seid jederzeit bereit, Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, von der ihr erfüllt seid!“ (1. Petrus 3,15) Ja, danach ist mir, habe ich gedacht. Für die Hoffnung einstehen, die in mir ist. Im Zusammensein mit anderen Menschen. Auch öffentlich.
Nichts ist derzeit nötiger – so kommt es mir vor. Ich höre so viele Sätze, aus denen die pure Hoffnungslosigkeit spricht. Wenn ich mich nur auf meinen Verstand verlasse, dann ist mir auch so zumute. Ich kenne den Ausweg aus der verfahrenen politischen Situation ja auch nicht. Und wenn ich ihn wüsste, fehlte mir der Einfluss, meine Ideen einzuspielen.
Aber genau hier liegt der Schwachpunkt dieser Argumentation. Glauben heißt hoffen, sogar gegen alle Vernunft. Nur mit Vernunft und Faktenwissen wäre die Jesus-Bewegung schon am Karfreitag für immer zusammengebrochen. Dass viele Menschen vor gut zwei Wochen aber wieder Ostern gefeiert haben, mehr als 2000 Jahren nach den damaligen Oster-Ereignissen in Jerusalem, das ist für mich ein Beleg für das, was Auferstehung meint. Da hat Gott den ins Recht gesetzt, den die Herrschenden eigentlich schon aus dem Spiel genommen hatten. Da gab es ein Weiter so der ganz anderen Art. Da hat sich ein Ausweg aus der Spirale des Todes eröffnet, mit dem niemand gerechnet hat. Was für eine unglaubliche Hoffnungsgeschichte!
Danach ist mir! Die vielen kleinen und großen Hoffnungsgeschichten der Bibel in Erinnerung zu halten. Und darauf zu vertrauen, dass auch in der gegenwärtigen politischen Situation irgendwo schon ein Weg der Hoffnung begonnen hat. Danach ist mir - wenn ich von meinen Hoffnungen spreche, auch wenn diese nur ein winziger Beitrag sind, um die große Kraft der Hoffnung zu stärken, nach der sich gerade so viele Menschen sehnen. Danach ist mir, dass die Handlanger des Bösen ihrer Macht beraubt werden. Und dass ich mit meinem kleinen Glauben diesem großen Osterglauben, den es hier braucht, auch einen kleinen Schub verleihen kann. Und wenn ich morgen wieder an der Bäckerei vorbei gehe, wird dies meine Antwort sein: Mir ist nach Hoffnung!
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„Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Bert Brecht hat diese Frage gestellt. In seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“. Entstanden in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts. Unter den Vorzeichen der Naziherrschaft. In diesen Tagen lässt sie mich nicht mehr los. Immer dann, wenn ich doch auch wieder einmal über irgendetwas anderes reden möchte – etwas anderes im Fernsehen sehen oder in der Zeitung lesen will als immer nur dieses belastende Thema: Krieg! Manchmal vielleicht noch ergänzt mit den neuesten Fakten zum aktuellen Stand der Corona-Pandemie. Fast ein Verbrechen sei das, zu den entscheidenden Themen zu schweigen, sagt der Dichter Bert Brecht. Keine Möglichkeit gibt es, sich in anderes zu flüchten. Einfach einmal vergessen zu können. Das Leben zu feiern. In seiner ganzen Buntheit und Vielfalt.
Selbst wenn ich es versuche, es gelingt mir ohnedies nicht. Jede Nachrichtensendung gräbt sich mit ihren schrecklichen Bildern in meine Seele ein. Es gehört zu meiner menschlichen Grundausstattung, dass mir das Leid anderer nicht gleichgültig ist. Und eine biblische Einsicht ist es ja auch: „Wenn ein Mensch leidet, leiden wir anderen alle mit.“ (1. Korinther 12,26) Empathie nennen wir das heute, was der Apostel Paulus da vor zweitausend Jahren so beschreibt. Empathie ist aber nicht nur eine Haltung, mit der Menschen einander begegnen. Für mich zeichnet es gerade auch Gott aus, empathisch zu sein. Und uns unser Leben auch genießen und feiern zu lassen. Jesus hat deshalb von der Welt, wie Gott sie gemeint hat, immer wieder im Bild eines großen Festes gesprochen. Ein Hausherr lädt Gäste ein. Aber gerade nicht die, die ohnedies immer feiern. Seine Einladung gilt gerade denen, die eigentlich nichts zu feiern haben. Den Menschen am Rande. Den Habenichtsen und den Ausgestoßenen. Auch denen gilt sie, denen der Krieg einen Strich durch die Rechnungen ihres Lebens macht.
Darum möchte ich dem Satz von Bert Brecht doch auch etwas entgegenhalten. Ich möchte, ja ich muss manchmal auch über Bäume sprechen. Über Vögel. Über die Schönheit der Berge und Seen. Und die Schönheit des Lebens überhaupt. Ich muss manchmal auch feiern, dass ich bin, dass ich geliebt werde. Dass ich andere lieben kann. Ich würde das Leben sonst nicht aushalten. Und wäre denen keine Hilfe, die doch auf meine Unterstützung angewiesen sind. Und deren Leiden ich nicht verschweigen möchte. Ich hoffe, dass mir das immer wieder geling.
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SWR2 Wort zum Tag
Als Kind war er für mich etwas ganz Besonderes: ein fünfeckiger, sehr alter Grenzstein, an dem die Gemarkungen von fünf Dörfern aneinanderstoßen. Wenn ein Spaziergang an diesem Stein vorbeiführte, bin ich immer um den Stein herumgelaufen. In kürzester Zeit hatte ich auf diese Weise fünf Ortschaften hintereinander besucht. Oder ich konnte mit einem Bein im einen und mit dem anderen im anderen Dorf stehen. Faszinierend!
Vor einiger Zeit ist mir dieser besondere Grenzstein meiner Kindheit wieder in den Sinn gekommen. Als Bild für die Art und Weise, in der sich meine eigene Identität wahrnehmen und beschreiben lässt. An die Stelle des Ortswechsels ist der Rollenwechsel getreten. Mal bin ich beruflich im Einsatz, mal privat, mal Patient beim Arzt, dann Referent bei einer Bildungsveranstaltung, mal begleite ich jemanden in einer schwierigen Situation, dann suche ich selber Rat. Mal habe ich mehrere Hüte auf oder übernehme mit dem einen Fuß die eine und mit dem anderen eine andere Rolle. Dieser ständige Rollenwechsel gehört zum Menschsein dazu. Nicht nur zu meinem. Er hält mein Leben in Bewegung und macht es spannend.
Mag der ständige Rollenwechsel also zu den unveränderlichen Kennzeichen des Menschseins gehören – mir fällt auf, dass in der Bibel von Gott ganz anders geredet wird. Derselbe sei er, oder dieselbe, gestern, heute und morgen. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Auf der anderen Seite weiß ich: Gott verändert sich auch. Lässt sich erweichen. Wagt ein ums andere Mal den Neuanfang mit den Menschen. Wenn ich meine Gedanken zurück auf das Fest der Weihnacht richte, dann geht es da um den radikalsten Rollenwechsel, den ich mir vorstellen kann: Gott wird Mensch. Wechselt nicht nur den Ort wie ich beim Gang um den Grenzstein. Gott tauscht im Bild gesprochen auch oben und unten.
Kein Zweifel also: Gott scheut die Veränderung nicht. Passt sich meinen Lebens- und Erfahrungsgewohnheiten an. Doch dieser Wandel in Gott selber ist etwas anderes als unser menschlicher Rollenwechsel. Gott läuft nicht um irgendeinen Grenzstein herum wie ich als Kind. Er ist selber die Mitte, die meine aufgesplittete Existenz zusammenhält. Im ständigen Wandel bleibt Gott eins mit sich.
Für mich bedeutet das: Es kommt also gerade nicht darauf an, in schnellem Schritt um die vielen Grenzsteine meines Lebens herumzulaufen. Viel wichtiger wäre es doch, bei jedem Schritt die Mitte, die alles zusammenhält, nicht aus dem Blick zu verlieren.
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Ich liebe diese kleinen Kapellen im Umfeld der großen alten Gutshöfe. Sie gehören offensichtlich zum Hof dazu wie der Stall, der Misthaufen oder heute nicht selten der Hofladen. Ich spüre, da hat sich ein altes Wissen bewahrt. Die Sorge um das Wohlergehen des Hofes und derer, die dort leben und arbeiten – sie macht es nötig, nicht nur für die irdischen Ökonomiegebäude zu sorgen, sondern auch den Blick zum Himmel nicht außer Acht zu lassen. Die meist alten Kapellen halten ein noch viel älteres Wissen wach: Inmitten unserer alltäglichen Umgebung braucht es besondere, ich könnte auch sagen heilige Orte. Orte, die mir guttun. Und die den Blick immer wieder in eine andere Richtung lenken. Weg vom Planen und Organisieren. Und hin zum Vertrauen und zur Dankbarkeit. Hin zu Gott.
Heute werden in der Regel keine Kapellen auf privatem Grund mehr gebaut. Verschwunden sind sie aber trotzdem nicht. Ich entdecke sie immer wieder in den Häusern und Wohnungen der Menschen, mit denen ich es zu tun habe. Das eine Mal ganz bewusst gestaltet, das andere Mal eher nur versteckt angedeutet. Mit einer Kerze. Einem Bild. Einer besonderen Anordnung oder Gestaltung. Andere verbergen diesen Ort vor den Augen Dritter, gerade weil er für sie so besonders, so heilig ist.
Im Alten Testament wird immer wieder berichtet, dass Menschen Gott einen Altar bauen, um einen Ort als besonderen zu markieren. Aus Dankbarkeit für eine geschenkte Rettung. Wie Noah nach der großen Flut. Nach einer überraschenden Gotteserfahrung. Wie Jakob, dem Gott nachts im Traum erscheint. Oder als Ort der Bitte um Hilfe in einer schwierigen Lage.
Soviel anders ist es mit den kleinen heiligen Orten im eigenen Haus auch nicht. Bei den Menschen, denen ich begegne. Auch bei mir. Ich brauche diese kleinen besoinderen Ort in meiner Wohnung. An ihm macht sich meine Gewissheit fest, dass ich nicht alles machen, nicht alles in der Hand haben muss. Dass mir das Wesentliche in meinem Leben als Geschenk widerfährt. Nein, ich muss keine Kirche bauen und werde keine Kapelle stiften. Aber der kleine Ort in meinem Umfeld, an dem mir jemand etwas anderes sagt als das, was ich mir selber sagen kann - der ist mir wichtig. Und heilig.
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Vor kurzem erst habe ich mit einem Bankberater über die Möglichkeit eines Darlehens gesprochen. Er blättert durch seine Tabellen, fragt nach meinem Geburtsjahr. Und sagt dann: „Nach meinen Unterlagen können Sie mit einer Lebenserwartung von 84 Jahren rechnen. Ein Darlehen ist da kein Problem!“ Natürlich hat der Berater seine Sterbetafeln. Daraus kann er die durchschnittliche Lebenserwartung unter bestimmten Rahmenbedingungen ablesen. Aber mit dieser Zahl einfach so direkt konfrontiert zu werden, abgelesen wie aus einer Glaskugel, das hat mich dann doch erstmal sprachlos gemacht.
Ich weiß: Bei dem Alter, das er mir vorausgesagt hat, geht’s um einen Durchschnittswert. Ich könnte am Ende noch viel älter werden. Oder eben auch viel früher sterben. Wenn ich mir etwas vornehme, mich etwa um einen Kredit bemühe, da spielt eben die Laufzeit eine Rolle. Und die voraussichtliche Lebenserwartung. Im biblischen Jakobusbrief wird eine solche Denkweise sehr realistisch beschrieben: „Wenn ihr ein Geschäft abschließen wollt oder wenn ihr eine Reise plant, dann legt ihr dafür auch einen Termin fest.“ Der Briefschreiber fährt dann aber warnend fort: „Eigentlich übernehmt ihr euch dabei. Stattdessen müsstet ihr sagen: Wenn Gott will, werde ich den Vertrag unterschreiben oder die Reise antreten.“
Dieser biblische Vorbehalt ist beinahe schon sprichwörtlich geworden. In früheren Zeiten haben Menschen bei Terminangaben die Buchstaben „s.c.j“ ergänzt. Das bedeutet sub conditione jacobaea – auf deutsch: Unter der Bedingung des Jakobus. Das meint also unter dem Vorbehalt: „Wenn Gott will und wir leben, will ich mir dieses oder jenes vornehmen.“ Eigentlich hat der Bankberater etwas Ähnliches gemacht. Er hat die Bedingung eines Vertrages realistisch umschrieben. Seine Rahmenvorgabe war ein statistischer Durchschnittswert. Hier unterscheidet er sich dann doch von der Denkweise des Jakobus. Der stellt nämlich auch die statistische Wahrscheinlichkeit in Frage. Und ersetzt sie durch die Einsicht, dass ich meine Absichten und Pläne am Ende nicht selber garantieren kann. Ich könnte auch sagen, dass Gott mein Leben in der Hand hat.
Ich habe übrigens den Vertrag noch nicht unterschrieben. Vielleicht sollte ich mich ruhig auf diese Einsicht früherer Generationen verlassen. Und noch diese drei Buchstaben der Bedingung des Jakobus ergänzen.
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Und am Ende wartet das Jüngste Gericht! Bedrohlich hört sich das an. Wenn aufgelistet und bewertet wird. Zumindest in der Vorstellung vieler Menschen im Laufe der Geschichte. Der niederländische Schriftsteller Maarten ‘t Hart hat diesen Gerichtsgedanken schon als Zwölf- oder Dreizehnjähriger ausgehebelt. In seiner Familiengeschichte „Magdalena“ stellt er folgende Überlegungen an: „Wenn alle Menschen, die jemals gelebt haben, der Reihe nach abgeurteilt werden müssen, haben wir es mit einer Aufgabe von beispiellosem Umfang zu tun. Selbst wenn man für jedes Urteil nur eine Stunde veranschlagt, dauert es rund anderthalb Millionen Jahre.“ (1)
Sein Fazit: So etwas wie ein Jüngstes Gericht kann es nicht geben. Auch keine göttlichen Mega-Speicher, die alles über mich festhalten und mich am Ende gläsern machen. Die mein Soll und Haben, mein Gelingen und Versagen gegeneinander aufrechnen und mir dann mein Urteil zukommen lassen. Nicht nur bei dem kleinen Maarten regt sich da Widerspruch. Bei mir auch. Dennoch bleiben Fragen. Bekommen die Opfer zumindest am Ende ihr Recht? Was wird aus den Verursachern grausamer Verbrechen, den Kriegshetzern? Was wird aus denen, die zeitlebens auf Kosten anderer gelebt haben? Was wird aus mir mit alldem, wie ich gelebt habe?
Im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt es: „Von dort“ - nämlich vom Himmel – „wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten!“ Gemeint ist Christus, dem diese Aufgabe des Richtens zugeschrieben wird. Nirgends ist sie besser aufgehoben, denke ich. Indem Gott menschlich wird, lässt er den Menschen nicht außen vor. Damit ist mein Urteil doch längst gesprochen. Ich stehe in einer Reihe mit allen, für die gilt: In diesem Gericht Gottes, fällt am Ende niemand durch die Maschen. Auch wenn es nicht egal ist, wie jemand gelebt hat. Als Schurke oder als Verbrecher. Als Wohltäterin oder als Wohltäter. Als Mensch, der sein Leben zugunsten anderer riskiert hat. Wie das geht? Ich weiß es nicht. Aber dass am Ende die Gerechtigkeit die Oberhand behält, da bin ich mir ganz sicher. Weil Christus dieses Richteramt innehat. Und die Welt zurechtbringt. In aller Unterschiedlichkeit. Auch der zwischen Tätern und Opfern.
Auf diese Einsicht brauche ich keine eineinhalb Millionen Jahre zu warten. Sie verändert mein Leben schon heute. Weil Gottes Richten meinem Menschsein seine Würde gibt. Mich menschlich macht. Und mich leben lässt.
(1) Maarten ‘t Hart, Magdalena. Eine Familiengeschichte
https://www.kirche-im-swr.de/?m=34304SWR2 Wort zum Tag
Davor. Und danach. Fast alle Menschen, die ich kenne, haben solche Zäsuren in ihrem Leben. „Das war, bevor ich den schweren Unfall hatte.“ Oder: „Das ist mir jetzt erst im Ruhestand möglich.“ Manchmal auch: „Damals hat mein Mann noch gelebt.“
Auch Gesellschaften kennen solche Einschnitte, die das Leben in ein davor uns ein danach einteilen. „Vor dem Zweiten Weltkrieg!“ Oder: „Nach dem 11. September 2001!“ Wahrscheinlich werden wir irgendwann auch einmal sagen: „Das war noch vor Corona.“ Oder dann eben: „Das gab‘s erst danach.“
Das danach beschreibt mehr als eine bloße Zäsur. Meist ist eine grundlegende Änderung damit verbunden. Eine Änderung der Einstellung. Des Verhaltens. Der grundlegenden Sicht auf das Leben.
Die Bibel beschreibt an einer Stelle auch eine grundlegende Zäsur in der Geschichte der Menschheit - mit einem davor und einem danach. Ich meine die Geschichte von der großen Flut. Gott hatte seine Lust und seine Freude an den Menschen verloren. Und setzt einen Neuanfang in Gang. Ganz unbeschwert konnte ich diese Geschichte schon als Kind nicht hören. Diesen Bericht von der großen Flut, die alle und alles mit sich in den Tod reißt. Nur die Menschen um Noah und die in die Arche geretteten Tiere haben überlebt.
Was mir diesen Bericht über die Sintflut dann doch immer wieder erträglich macht, ist: Nicht nur Noah und seine Familie fangen danach neu an. Einen neuen Anfang wagt auch Gott selbst. Es reut ihn, dass er so mit der Welt und dem Leben auf der Erde umgegangen ist. Gott sagt: „Nie mehr will ich so etwas wieder tun. Ich lege meinen Kriegsbogen aus der Hand. Lege ihn über den Himmel wie ein schützendes Dach.“ So haben sich die Menschen danach jedenfalls die wunderschöne Erfahrung des Regenbogens erklärt. Dieser bunte Bogen ist der sichtbare Beweis, dass die Erde Zukunft hat. Und Gott verspricht: „Säen und Ernten, Hitze und Kälte, der Zyklus der Jahreszeiten, der Wechsel von Tag und Nacht – ich werde sie nie mehr aussetzen.“ (1. Mose 8,22)
Was für ein danach! Mich tröstet dieser grundlegende Neuanfang Gottes mit den Menschen und mit der Schöpfung. Er macht mir Mut, auch selber auf solche Wechsel im Denken und im Verhalten zu setzen. Nicht nur die gegenwärtige Pandemie lässt sich dann besser ertragen. Sondern noch manch anderes Verzweifeln über menschlichen Irrsinn.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=34303SWR2 Wort zum Tag
Ein Grenzübertritt: Eigentlich keine große Sache in unserer globalen Welt: Meist bemerkt man das gar nicht mehr. In vielen Nachbarländern meist sogar noch dieselbe Währung, in manchen dieselbe Sprache. Nur die Straßenschilder haben eine andere Farbe. Seit Beginn der Pandemie ist diese Selbstverständlichkeit plötzlich in Frage gestellt! Doch wieder: Ausland! Risikogebiet. Geschlossene Unterkünfte wegen Corona. Kurzzeitig vereinzelt sogar wieder Absperrungen. Und ich habe die Landesgrenzen eineinhalb Jahre lang nicht mehr übertreten.
Unlängst war ich doch wieder in einem unserer Nachbarländer. In Frankreich. Gar nicht weit weg. Aber eben zum ersten Mal wieder seit Beginn der Pandemie. Ohne besondere Vorkommnisse zwar. Aber trotzdem: Irgendwie war dieses Mal alles anders. Ein wenig jedenfalls. So wie es sich eben anfühlt, wenn das ganz Alltägliche nicht mehr selbstverständlich ist. Ein wenig Fremdheit. Allein schon der anderen Sprache wegen. Ein wenig Staunen über das, was doch anders ist: im Restaurant, im Museum, auch bei den Regeln im Umgang mit Corona.
Jesus war ein begeisterter Grenzüberschreiter. Auch im Blick auf Landesgrenzen. Von Galiläa nach Jerusalem. Nach Samarien. In die Dekapolis, das Land der Zehn Städte. Und nicht selten thematisiert er diesen Grenzübertritt. Erweitert ihn vom Geographischen ins Programmatische. Wagt sich nach Jerusalem, obwohl er weiß, dass es ihn sein Leben kosten wird. Weitet einer Frau aus Samaria den Blick auf das, was ihren Durst nach Leben wirklich stillt. Befreit einen Mann aus dem Land der zehn Städte von seiner psychischen Krankheit.
Ein Grenzüberschreiter war Jesus aber auch, ohne Landesgrenzen zu überschreiten. Den Armen gilt seine bedingungslose Zuwendung. Den verachteten Zolleinnehmern. Den Frauen, die in der Gesellschaft am Rande standen, ob wegen ihrer Krankheit oder weil sie Prostituierte gewesen sind. Diese Grenzüberschreitungen haben Menschen aus der bisherigen Spur ihres Lebens herausgerissen. Und zu einer neuen Haltung, zu einem neuen Verhalten gebracht.
Solche Grenzen zu überschreiten, kann ich auch im eigenen Land üben. Am eigenen Wohnort. Im eigenen Bekanntenkreis. In der Familie. Einfach einmal aussteigen aus vertrauten Rollenzuweisungen. Kein „Du machst das immer so!“ Oder „Nimm dich mal nicht so wichtig!“ Ein Grenzübertritt aus meiner eingeübten Erwartungshaltung hin zur Bereitschaft, mich von einem Menschen überraschen zu lassen. Und das vermeintlich Fremde als Bereicherung zu sehen. Da komme ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=34302SWR2 Wort zum Tag
Gerade leben wir in Zeiten des Wahlkampfs! Überall Plakate. Gesichter. Situationen. Daneben kurze Sätze. Slogans. Komprimierte Botschaften, die mich auffordern, dieser oder jener Partei, diesem Kandidaten oder jener Kandidatin meine Stimme zu geben.
Es gibt eine kleine Textpassage in der Bibel, bei der muss ich immer an Wahlplakate denken. Da sagt Jesus Sätze über sich, die direkt aus einer Werbeagentur stammen könnten. „Kommt doch zu mir, wenn euch das Leben schwerfällt oder wenn ihr Lasten zu tragen habt. Ich will euch erquicken. Ich sorge dafür, dass es euch wieder gut geht. Mein Joch ist leicht!“ (Matthäus 11,28+29)
Immer, wenn ich diese Sätze lese, stelle ich sie mir auf große Plakate geschrieben vor. Wenn ich nicht wüsste, wem sie zugeschrieben werden, da wäre ich – ehrlich gesagt – ganz schön skeptisch. Die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von Jesus wussten doch auch schon, was das heißt: Druck. Und auch Unterdrückung. Die Römer als Besatzer im Land. Ungerechte Abgaben, die in den falschen Taschen landen.
Da klingen diese Worte doch eher wie die üblichen haltlosen Versprechen. Große Worte, nichts dahinter! Verstehen kann ich das nur, wenn ich mir klarmache: Jesus beschreibt hier ein Grundsatzprogramm. Aber keines, für das er um Stimmen kämpft, mitten auf dem Markt verschiedenster Anbieter. Jesus lässt vor den Augen und Ohren derjenigen, die ihm zuhören, die Vision einer besseren Zukunft entstehen. Das Bild einer Welt, für die sich die Menschen dann schon auch selber stark machen müssen. Irgendwie wirbt Jesus auch für sich. Aber nicht aus Eigeninteresse. Sondern um den Menschen einen Weg zu eröffnen, Gott zu begegnen.
Die Sprache mag ja nach Wahlkampf klingen. Es geht aber doch noch einmal um etwas ganz anderes. Nicht um die Möglichkeiten der Menschen. Sondern um die Möglichkeiten Gottes. Wenn ich mich auf diese Möglichkeiten verlasse, kann ich mich dann aber auch einmischen. Mich einbringen in die Welt, in der ich lebe.
Ich weiß doch, dass nicht alles so weitergehen kann. Dass ich in meinem Leben einiges ändern muss, um für die großen Fragen der Menschheit Lösungen zu finden. Da ist es gut zu wissen, woher meine Kraft kommt. Und zu entscheiden, worauf es ankommt. Auch wenn das, worauf ich mich einstellen muss, ja wahrhaftig nicht nur leicht ist.
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