Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR2 / SWR Kultur

 

Autor*in

 

Archiv

SWR2 Wort zum Tag

22MRZ2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Erkenne dich selbst!“ Dieser Satz ist am Apollon-Tempel im griechischen Delphi zu lesen. Wer sich in der Antike zur Befragung des berühmten Orakels aufgemacht hat, konnte ihm nicht entgehen. Vor kurzem war ich zum ersten Mal selbst in Delphi. Ich gebe zu: Eine gewisse Ehrfurcht hat mich an diesem Ort schon ergriffen. Delphi war für die Menschen damals schon ein ganz besonderer Ort. Hier wollten viele die Antwort auf die entscheidenden Fragen ihres Lebens finden.

Der Satz über dem Eingang in den Tempel macht klar: Die Antworten des Orakels entspringen nicht einfach irgendeiner willkürlichen Einsicht. Wohl auch nicht den heißen Wasserdämpfen, die die Priesterin in eine Art Trance versetzt haben sollen. Sie spiegeln die Überzeugung wider, dass diejenigen, die dem Orakel eine Frage gestellt haben, die Antwort in sich selbst finden können. Die eigentliche Aufgabe beim Entschlüsseln bestand darin, in der Beschäftigung mit sich selbst den Sinn der Antwort zu verstehen.

Die Überzeugung, dass die Lösung eines Problems in mir selbst liegt, ist also nicht neu. Manchmal bin ich aber auch etwas ratlos, wenn mich jemand zu schnell darauf verweist, dass die Antworten auf meine Fragen doch in mir selbst zu finden seien. Sicher - wenn ich versuche, meine Gefühle, meine Reaktionsweisen zu verstehen, kommen meine Prägungen, meine Erfahrungen, meine Überzeugungen ins Spiel. Aber manchmal stoße ich da auch an eine Grenze. Vor allem dann, wenn ich ganz grundsätzliche Fragen stelle. „Woher komme ich? Und wohin geht die Reise meines Lebens? Was ist der Sinn meines Daseins?“ Hier werde ich in mir alleine nicht fündig. Jedenfalls nicht so, dass ich mit der Antwort dann auch zufrieden bin. Deshalb hilft mir hier ein Satz des Apostels Paulus weiter. Der schreibt einmal: „Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke. Aber irgendwann werde ich vollständig erkennen, so wie Gott mich schon jetzt vollständig erkannt hat.“ (1. Korinther 13,12) Ich bin also längst erkannt. Erkannt durch Gott, der mich durch und durch kennt. Besser als ich mich selbst. Das entlastet mich. Ich bin erkannt, wertgeschätzt - bei Gott. Für mich selbst stelle ich der Aufforderung, mich selbst zu erkennen, noch einen weiteren Satz zur Seite, nämlich: „Weil ich längst erkannt bin!“ Mit dieser Überzeugung mache ich mich dann auch gerne auf die Suche nach den Antworten, die in mir liegen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39555
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

21MRZ2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Der Frühling ist die Lieblingsjahreszeit Gottes! Da bin ich mir ziemlich sicher. Die Schöpfung wird neu - unübersehbar und kraftvoll. Der Frühling ist auf jeden Fall meine Lieblingsjahreszeit. Gestern hat sie auch im astronomischen Kalender wieder begonnen. Mit einem Mal sprosst es überall hellgrün. Wie ein Flaum. Dann mit immer kräftiger werdendem, dunklerem Grünton. Im Garten vor dem Fenster wachsen Krokusse, Narzissen und Tulpen und überziehen die Erde mit Farbe. Ein Satz aus der Bibel fällt mir dazu ein. Ein Prophet gibt ihn im Auftrag Gottes an seine Mitmenschen weiter: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ (Jesaja 43,1+19)

Was ich besonders mit dem Frühling verbinde, ist sein Licht. Licht – das Werk des ersten Tages schon bei der biblischen Urerzählung der Schöpfung. Jeden Tag ist es einige Minuten länger da. Das hat dem Frühling einen weiteren Namen gegeben. Aus dem mittelalterlichen Wort für „lang“ - lang für die längeren Tage - hat sich der Name Lenz entwickelt. Dieser Name wird manchmal dafür verwendet, das Alter eines Menschen anzugeben. Ein schöner Brauch, finde ich, das Lebensalter nach den Frühlingsanfängen zu zählen. Man zählt nicht die Sommer, die Herbste oder die Winter eines Lebens. Sondern die Lenze! Und sagt dann: Er oder sie ist soundsoviele Lenze alt. Eine Zählweise, die auch in übertragenem Sinn ihr Recht hat. Denn jedes Leben setzt sich aus einer Kette von Neuanfängen zusammen. Und immer ist eine Ahnung da, dass die Welt auf Dauer nicht so bleiben wird, wie sie sich derzeit darstellt. Die Erfahrung der Schöpfung, die immer wieder neu aufleuchtet, ist eines der stärksten Hoffnungsbilder für die Welt. Ein unübersehbarer Widerspruch gegen alles, was mich sorgenvoll stimmt, wenn ich an die Zukunft denke. Von einem Historiker habe ich unlängst den Satz gehört: „Die Geschichte der Welt ist eine Abfolge von Kriegen.“ Ich denke: Genauso könnte man behaupten: Die Geschichte der Welt ist eine Kette von Neuschöpfungen. Manchmal gegen alle Vernunft. Und gegen allen Augenschein.

Dass die Lichtfenster am Tag länger werden, darauf warte ich. Und dass Gott seiner Schöpfung noch viele Lenze gönnt. Darauf vertraue ich. Wenn denn der Frühling schon Gottes Lieblingsjahreszeit ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39554
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

27JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

In meinem Bücherregal stehen eine ganze Reihe Bücher zum Thema Glück. Das Thema war lange Zeit der Renner. Die Regale mit Glücks-Büchern in den Buchhandlungen dazu wurden immer länger. Glücksseminare haben geboomt. Eine ganze Reihe Schulen haben sogar Glück als Unterrichtsfach eingeführt. Dann ist die Glückswelle langsam wieder abgeebbt.  Erst Corona. Dann neue kriegerische Auseinandersetzungen. Der schwindende Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das hat Folgen. Auch für die lange vorherrschenden Hoffnungen auf immer mehr Glück. Bei einer Glücksforscherin habe ich unlängst gelesen: „Glück ist zurzeit weniger ein Thema! Es geht eher darum: Wie kommen wir durch diese belastete Zeit?“ Ich finde, sie hat recht. Heute kommt es vor allem darauf an, dass wir nicht den Mut verlieren. Oder uns nur noch hinter unseren eigenen vier Wänden von der Welt abschotten. „Das Wort Zuversicht ist heute angemessener als das Wort Glück“, sagt die Glücksforscherin deshalb. „Zuversicht und die psychische Widerstandsfähigkeit zu stärken, sind die wirkungsvollsten Möglichkeiten, die Krisen-Zeit einigermaßen zu überstehen.“ 

Zuversicht ist ein Wort, das mir gefällt. Aus dem Mittelhochdeutschen stammt dieser Begriff. Lässt sich seit mehr als eintausend Jahren nachweisen. Im Wort Zu-Versicht verbirgt sich ein richtungsgebundenes Schauen. Wer zuversichtlich ist, wartet nicht einfach ab. Sondern schaut der Wirklichkeit ins Auge. Schaut nach vorne. Über das Ende der aktuellen Krisen hinaus. Ich kann danach schauen, was mitten in allem Schwierigen doch auch schön ist. Was jemandem gut gelungen ist. Ich sehe auf die Menschen, die mit mir unterwegs sind. Ich erinnere mich, wie in einer aussichtslosen Situation eine neue Idee plötzlich doch einen Ausweg möglich gemacht hat. 

Wenn ich zuversichtlich bleiben möchte, heißt das aber nicht nur, dass ich hinschaue. Für mich persönlich heißt es auch hinaufzuschauen. Hinauf zu Gott. Mein Glaube an Gott ist die Quelle meiner Zuversicht. „Gott ist meine Zuversicht und Stärke!“ (Psalm 46,2), heißt es in einem alten Lied in der Bibel. Ich finde es wichtig, gerade in diesen nicht leichten Tagen die Zuversicht zu stärken. Nicht nur bei mir. Auch bei anderen Menschen. Durch ein mutmachendes Wort. Durch einen freundlichen Blick. Durch ein Stück geteilte Zeit. Denn Zuversicht steckt an – zum Glück! 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39208
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

25JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Da ist einer vom Saulus zum Paulus geworden! Diese Redensart wird benutzt, wenn ein Mensch eine bisher vertretene Ansicht ganz grundsätzlich ändert. Sie bezieht sich auf ein in der Bibel berichtetes Ereignis, an das die Kirche am heutigen Tag erinnert: Paulus, ein frommer Jude, der die Anhänger des neuen Christusglaubens zunächst bekämpft, hat eine Erscheinung. Danach wird er zu einem einflussreichen Anhänger Jesu von Nazareth. Bald auch zum ersten großen theologischen Denker des neu aufkommenden christlichen Glaubens. 

Saulus ist sein jüdischer Name. Paulus sein römischer. Und er ist auch nach der einschneidenden Wende in seinem Leben beides geblieben. Frommer Jude und Bürger des römischen Reiches. Es stimmt also nicht, dass er vom Saulus zum Paulus wird. Sondern er wird in beiden Rollen ein anderer. 

Von Paulus kann ich also Entscheidendes lernen. In einem Leben gibt es immer beides. Brüche und Neuanfänge. Manchmal so grundlegend, dass Menschen ihr Leben in ein davor und ein danach einteilen. Nach einem beruflichen Neuanfang. Oder einem Umzug. Nach einer Genesung. Nach dem Tod eines lieben Menschen. Für Paulus ist die Begegnung mit Christus vor den Toren von Damaskus ein solch einschneidendes Ereignis. Aber auch nach einem solchen fundamentalen Bruch bin ich nicht einfach mit einem Mal ein ganz anderer Mensch. Das Wesentliche meiner Persönlichkeit bleibt. Ich lebe jetzt allerdings unter veränderten Vorzeichen. Und darin bin ich dann irgendwie neu.

An Paulus kann man das Verhältnis dessen, was neu wird, zu dem, was bleibt, sehr schön sehen. Paulus wirft seinen jüdischen Glauben nicht einfach weg und ersetzt ihn durch einen neuen. Er gibt auch seinen Beruf nicht einfach auf. Aber er verändert seine Sicht auf diesen Jesus aus Nazareth. Er schließt sich dessen Anhängerinnen und Anhängern an. Neugeworden ist er also gerade nicht durch den Wechsel vom Saulus zum Paulus. Sondern durch die Neubestimmung dessen, was ihn trägt. Aber als die eine Person, die er vor und nach der großen Wende in seinem Leben gewesen ist.

Das geht also: Ich kann ein anderer, eine andere werden, kann, ja muss mich entwickeln. Aber ich brauche dabei nicht alles über den Haufen werfen, was mir bisher wichtig gewesen ist. Ich muss nicht meine Identität aufgeben. Ich bleibe, wer ich bin. Und gehe doch neugeworden meinen Weg weiter. Als Saulus und als Paulus. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39206
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

13DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Das Foto haben wir immer noch: Meine Frau mit einem Lichterkranz auf dem Kopf. Brennende Wachskerzen im Haar. So wie die Heilige Lucia. Ich hatte die ganze Zeit Sorge, dass meine Frau Feuer fängt. Zum Glück ist das nicht passiert.

Heute ist der Gedenktag der Lucia von Syrakus. Ihr Name ist Programm: Lucia, „die Leuchtende“. An das herbeigesehnte Licht erinnert der heutige Gedenktag der Lucia.

Gelebt hat Lucia im dritten Jahrhundert in Syrakus auf der Insel Sizilien. Heimlich hat sie dort verfolgte Christen unterstützt, die sich in den Katakomben der Stadt versteckt hielten. Ihr Kerzenkranz ist eigentlich so etwas wie eine Stirnlampe. So hatte sie beide Hände frei, um damit Gutes zu tun. Später wird sie selber gefangengenommen und getötet. Die Erinnerung an Lucia wird ganz besonders in Schweden aufrechterhalten. Also da, wo die Nächte in dieser Jahreszeit besonders lang und dunkel sind.

Weniger bekannt ist ein anderer Lucia-Brauch: der Lucia-Weizen. Auf einem Teller wird Weizen in nasser Watte ausgesät. Und an Weihnachten erinnert ein kleines Weizenfeld daran, dass im Winter selbst im gefrorenen Boden eine große Grünkraft schlummert, die im kommenden Frühjahr alles wieder aufblühen lässt.

Fast alle Bräuche im Advent verbindet dieselbe Sehnsucht: Sie bringen den Wunsch nach Licht zum Ausdruck. Und die Erwartung, dass nach dem winterlichen Stillstand der Natur die neue Lebendigkeit nicht auf sich warten lässt. Deshalb wurde auch ein Satz des Jesaja weihnachtlich gedeutet: „Aus dem toten Baumstumpf wird ein Zweig hervorbrechen. Und eine Wurzel wird Früchte tragen.“ (Jesaja 11,1)

Mir helfen solche Bilder. Mit ihrer Hilfe kann es mir gelingen, vom Sorgen-Modus in den Hoffnungs-Modus zu wechseln. Die Wochen des Advents bieten mir Gelegenheit, das einzuüben. Bei allem, was mir derzeit zu schaffen macht, will ich die Frage nicht verlieren: Wie wünsche ich mir, dass sich alles weiterentwickelt? Und wo kann ich in meiner kleinen Welt etwas dazu beitragen? Um anzupacken, brauche ich nicht einmal das Risiko einzugehen, brennende Kerzen auf dem Kopf zu balancieren. Aber meine Hände und Füße und auch meinen Kopf, die brauche ich schon. Um wie Lucia ein paar Hoffnungslichter anzuzünden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38927
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

12DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Mein Schreibtisch sieht immer nach Arbeit aus. Da liegt ein Stoß geöffneter Briefe, auf die ich noch antworten muss. Daneben Bücher, die ich für einen Vortrag wenigstens noch querlesen möchte. Auf mehreren Stapeln türmen sich Unterlagen, für die ich gerade keinen anderen Platz finde. Dazwischen ein paar persönliche Dinge. Ein Würfel aus Sandstein vom Freiburger Münster. Ein Stück Bronze als Erinnerung an einen Glockenguss. Nur in der Mitte ist ein großes Feld frei. Da schreibe ich meine Briefe. Oder platziere den Rechner, um etwas daran zu arbeiten.

Auf den ersten Blick mag das ziemlich chaotisch aussehen. Aber ich brauche diese Umgebung. Manches bekomme ich sogar nur in dieser Umgebung hin. Ganz gegen den Trend: Denn der Schreibtisch, der abends wieder gänzlich leer ist, hat in vielen Firmen Hochkonjunktur. Damit am nächsten Tag ein anderer Mitarbeiter den Schreibtisch nutzen kann, darf nichts darauf zurückgelassen werden. Denn seit Corona sind fast nie alle Mitarbeitenden auf einmal da. Und so ein Schreibtisch soll ja nicht leer stehen. Nur die Mitarbeitenden, die etwas entwickeln, die kreativ sein müssen, dürfen einen eigenen Schreibtisch behalten. Und ihre Sachen darauf auch liegen lassen. Die brauchen ihr kreatives Chaos, damit sie ihre Arbeit gut machen können.

Mich erinnert das an den Advent. In dieser Zeit versuche ich, vieles von dem wegzuräumen, was mich die Monate vorher in Anspruch genommen hat. Der Tisch, auf dem sich die Aufgaben meines Lebens angesammelt haben, soll zumindest etwas leerer werden. Ich möchte mehr Ordnung in die Unübersichtlichkeit meines Lebens bringen. Ganz weg bekomme ich sie allerdings nicht. Für mich reicht es aus, wenn ich mich besinne - wenn ich meine Sinne auf das richte, was mir wirklich wichtig ist. Etwas mehr Zeit für die Menschen, die mein Leben bereichern. Ein Lebenszeichen, über das sich der eine oder die andere freut. Womöglich ein paar Seiten mehr am Tag für ein Buch, das ich endlich fertig lesen möchte.

In einem Brief des Apostels Paulus heißt es einmal, Gott sei nicht ein „Gott der Unordnung“. Aber der Gegensatz zur Unordnung ist bei Paulus dann nicht die Ordnung, sondern der Friede. (1. Korinther 14,33) Friede ist hier der Begriff für eine erträgliche Lebenswirklichkeit. Da muss nichts perfekt sein. Aber alles soll einem besseren Leben dienen. In meiner kleinen Welt. Und in der großen sowieso.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38926
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

11DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Für heute Abend habe ich Freunde und Nachbarn eingeladen. Wir feiern das ökumenische Hausgebet im Advent. Jedes Jahr bringt die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Baden-Württemberg dazu eine Vorlage heraus. Neben Texten und Liedern immer auch ein Bild. In diesem Jahr stammt das Bild von dem tschechischen Künstler Tomas Smetana. Ein Weihnachtsbild - auf den ersten Blick nicht anders als viele Weihnachtsbilder. Alle, auf die es ankommt, sind mit dabei. Maria und Josef. Einer der sternenkundigen Könige aus dem Osten. Natürlich Ochs und Esel. Doch beim zweiten Hinsehen fällt etwas Besonderes auf. In der Mitte – da wo sonst die Krippe mit dem Kind hingehört, ist - nichts. In der Weihnachtsszene fehlt die Krippe. „Das Bild ist einfach nicht fertig geworden“, erklärt Tomas Smetana diese besondere Bildkomposition.

Nicht fertig werden. Ich kenne dieses Gefühl. Die Liste mit den Aufgaben ist lang. Zu vieles habe ich mir vorgenommen. Und es bleibt immer noch etwas übrig. Gerade im Advent.

Weil da etwas fehlt. Mit dem Künstler gesprochen: Weil die Krippe fehlt. Die Mitte, auf die ich mich ausrichten könnte. Stattdessen drängen sich andere Dinge nach vorn. Das ganze Weihnachtsvolk ist da. Wie auf dem Bild. Die Familie. Freundinnen und Freunde. Nachbarn. Kolleginnen und Kollegen. Irgendwie haben sie alle ein Anrecht, im Blick zu sein. Durch eine Begegnung. Eine Einladung. Eine Weihnachtskarte. Aber vieles müsste gar nicht jetzt sein. Da schieben sich von außen Erwartungen in mein Leben. Und ich kann ihnen gar nicht allen gerecht werden. 

Das leere Feld mitten im Bild – es übermittelt mir auch eine Botschaft. Es kommt mir vor, wie eine Bühne. Da fehlt nicht einfach nur etwas. Diese offene, leere Fläche bietet mir auch einen Gestaltungsraum. Hier könnte mein Zugang ins große Geschehen der Weihnacht liegen. Der Prophet Jesaja schreibt einmal: „Sogar ein Ochse weiß, was für ihn wichtig ist. Und ein Esel, wo er seinen Platz findet.“ (Jesaja 1,3) Mir bleiben noch knapp zwei Wochen, um mich zu entscheiden, wie ich dieses Jahr diese weihnachtliche Bühne nutze. Was sich dort abspielen soll. In der Krippe, die auf dem Bild fehlt, liegt: ein Mensch. Gott hatte die Idee, den Menschen ins Zentrum zu rücken. Daran möchte ich mich orientieren.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38925
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

04NOV2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Seit kurzem haben wir eine Photovoltaikanlage auf unserem Dach. Ganz wunderbar finde ich die App, die dazugehört. Da kann ich immer genau verfolgen, wie viel Strom die Anlage gerade erzeugt. Ob er ausreicht für das Licht und die Spülmaschine. Oder ob ich noch Strom aus dem Speicher oder aus dem Netz brauche. Wenn die Sonne ordentlich scheint, kann ich sogar überschüssigen Strom ins Netz einspeisen.

 

Spontan habe ich gedacht: Wie wäre es, wenn es so etwas für mein Leben geben würde? Eine Möglichkeit, meine Kraftreserven einzuschätzen. Und meine Lebensenergie. Ist mein innerer Kräftespeicher gefüllt? Oder muss ich schauen, woher mir neue Kräfte zuwachsen? Zum Glück gibt es auch viele Tage, an denen ich anderen von meinen Kräften weitergeben kann.

 

Die Rolle, die bei der Solaranlage die Sonne übernimmt, übernehmen in meinem Leben andere. Zuallererst die Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Die mir guttun. Und die es gut mit mir meinen. Gelingende, tragende Beziehungen, oft über Jahrzehnte, sind eine Energiequelle voller Kraft. Auf die bin ich angewiesen.

 

Lebensenergie kommt mir aber auch ganz entscheidend aus meinem Glauben zu. Kein Wunder, wird doch Gott in der Bibel immer wieder mit der Sonne verglichen. „Sonne und Schild“ sei Gott. (Psalm 84,12) Und ein altes Kirchenlied singt von der „Sonne der Gerechtigkeit“.

 

Nein, messen und verwalten kann ich die Kraft dieser Sonne nicht. Auch nicht die Energie, die mir aus anderen Quellen zukommt. Aber spüren kann ich sie. Wenn ich mich engagiere. Andere Menschen an meiner Kraft und Lebenslust teilhaben lasse. Oder wenn ich darauf angewiesen bin, dass es auch einmal umgekehrt geht. Und ich abwarte, bis andere mir ihre Kräfte leihen. Manchmal ist es auch eine besonders schöne Erfahrung, dass ich auch so etwas wie einen inneren Speicher habe, in dem Gutes und Schönes gesammelt ist. Dass da etwas in mir nachklingt und nachwirkt. Auch über längere Zeit.

 

Eine App auf dem Handy brauche ich dafür nicht. Eher ein gutes Gespür für das, was heute für mich dran ist. Und eine Portion Gottvertrauen. Vor allem dann, wenn die Tage manchmal etwas trister daherkommen. Denn wenn schon die Anlage auf dem Dach auch dann Energie erzeugt, wenn die Sonne gar nicht wirklich zu sehen ist – wieso soll es mit Gott dann anders sein?!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38719
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

03NOV2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Fast jeden Tag kann ich das kleine Schauspiel bewundern. Ein Kind, an der Hand eines Erwachsenen, das plötzlich vor unserem Haus stehen bleibt. Im Belag des geteerten Weges gibt es da nämlich eine kleine Vertiefung. In der steht selbst dann noch das Regenwasser, wenn der Weg selber schon lange trocken ist. Die Kinder entdecken die kleine Dauerpfütze sofort. Und treten lustvoll in das aufspritzende Nass.  

Ich beneide Kinder um diese Gabe: Sie entdecken etwas, was die meisten Erwachsenen gar nicht wahrnehmen. Und sie haben offenkundig ihre große Freude daran. Wenn ich dann wieder eines der Kinder beim Pfützentreten beobachte, fällt mir manchmal ein Satz Jesu ein: „Wenn ihr nicht werdet wie diese Kinder, bleibt das Reich Gottes für euch verschlossen.“ (Matthäus 18,3) Ich gebe zu: Ich habe diesen Satz lange nicht wirklich verstanden. Kinder haben doch noch so wenig Lebenserfahrung. Kennen sich in den Problemzonen des Lebens so wenig aus – wie sollen sie für mich Türöffner ins Himmelreich werden können? Jesus antwortet mit diesem Satz, als seine Freunde ihn fragen, wer denn der Größte sei im Himmel. So, als ob sich das Spiel von oben und unten, von wichtig und unwichtig, von groß und klein immer weiter fortsetzt.

Genau diesem Denken stellt Jesus das Beispiel der Kinder gegenüber. Natürlich: Kinder haben auch ihre Machtkämpfe. Sie können sich richtig streiten. Aber es geht nicht um Sein oder Nichtsein. Kinder, so verstehe ich diesen Satz, bleiben im Übungsmodus. Probieren und verwerfen. Erfinden das Leben immer wieder neu. Ihre Art zu leben hat etwas Spielerisches. Alles kann noch einmal neu und ganz anders werden. Und doch sind sie in diesem Spiel des Lebens mit Ernst bei der Sache. Und entdecken für sich Möglichkeiten, an denen wir Erwachsenen achtlos vorbeigehen.

 

So entdecke ich im Strahlen auf dem Gesicht der kleinen Pfützentreter eine kleine Vorahnung des Himmels. Freude pur. Für einen Moment. Ehe dann wieder anderes wichtig wird. Der Käfer, der weiter vorne über den Weg läuft. Vielleicht auch Mama oder Papa, denen das jetzt doch zu lange geht, weil sie ihre Erwachsenentermine haben. Aber wenn ich nachher aus dem Haus gehe, will ich’s den Kindern einmal nachmachen. Ich will mir Zeit lassen. Womöglich auch einmal in die Pfütze treten. Und schauen, wo ich heute schon ein Stück Himmelreich entdecken kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38718
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

02NOV2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Letzte Woche war's ein wertvolles Weinglas, das mir beim Spülen einfach auseinandergebrochen ist. Und ein paar davor Tage ging mir eine getöpferte Schale zu Bruch. Das Bild mit dem zerbrochenen Rahmen steht immer noch an der Wand. Und erinnert mich jeden Tag aufs Neue daran: Scherben lassen sich manchmal nicht vermeiden. Ob aus Unachtsamkeit. Oder einfach so.

 

Manchmal zerbricht aber auch anderes. In der Beziehung zwischen Menschen. Die Liebe, die ein Paar miteinander verbindet. Das Vertrauen, das in einer langjährigen Freundschaft gewachsen war. Das eingespielte Miteinander zwischen Kolleginnen und Kollegen.

Gleich mehrfach wird in der Bibel das Bild vom zerbrochenen Vertrauen aufgegriffen. Dann wird von Gott als der Kraft gesprochen, die Zerbrochenes wiederherstellt. „Gott heilt, die zerbrochenen Herzens sind“, heißt es etwa in einem Psalm, „und verbindet ihre Wunden.“

Manchmal erzählt mir jemand, warum es in einer Beziehung einfach nicht mehr weitergegangen ist. Und dann höre ich dieselbe Geschichte manchmal auch von beiden Seiten. Dann suche ich nach einer Idee, wie es vielleicht doch noch einmal weitergehen könnte. Wie bei den Scherben aus Ton. Da lässt sich manchmal auch noch einmal etwas reparieren.

In Japan gibt es eine alte, besonders schöne Tradition, mit Zerbrochenem umzugehen. Kintsugi heißt sie. Auf Deutsch: Reparieren mit Gold. Zerbrochene Gefäße werden wieder zusammengeklebt. Aber dann – und das ist das Besondere – werden die Bruchstellen mit Blattgold überzogen. Sie werden nicht verborgen, sondern sollen gerade sichtbar gemacht werden. Umspinnen das neu zusammengefügte Gefäß wie mit goldenen Fäden.

Ins Leben gezogen könnte das heißen: Auch bei zerbrochenem Vertrauen könnte es - manchmal zumindest - weiterhelfen, wenn es gelingt, Bruchstellen mit Blattgold zu überziehen. Das Zerbrechen lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Die Spuren bleiben. Wie Narben können die Bruchstellen wirken. Aber mit ihrer Goldauflage sehen sie aus, als seien sie mit Zeichen einer neu erworbenen Schönheit verziert.

Mir hilft gerade mein Glaube beim Versuch, Bruchstellen mit Gold wieder ansehnlicher zu machen und zerbrochenem Vertrauen doch noch einmal eine Chance zu geben. Zum Glück mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das geht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38717
weiterlesen...